50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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»Wenn Sie aber doch eine der Unsrigen sind«, sagte er lachend, »warum bleiben Sie dann bei unseren Feinden? Man hat mir auch erzählt, daß Sie bei Bourras wohnen.«

»Das ist ein braver, ehrenwerter Mann«, murmelte sie.

»Lassen Sie's gut sein, er ist ein alter Narr, der mich zwingt, ihn zu ruinieren, während ich ein Vermögen opfern wollte, um ihn loszuwerden. Vor allem aber gehören Sie da nicht hin, sein Haus hat einen üblen Ruf, er vermietet an Personen … «

Doch er merkte, daß das junge Mädchen in Verlegenheit geriet, und beeilte sich hinzuzufügen:

»Man kann natürlich immer anständig bleiben, und das ist um so verdienstvoller, wenn man arm ist.«

Sie gingen wieder einige Schritte schweigend nebeneinander her. Pépé blickte von Zeit zu Zeit zu seiner Schwester auf, erstaunt, wie glühend heiß ihre Hand war. Mouret fuhr fort:

»Wollen Sie meine Vermittlerin bei dem Alten sein? Ich hatte ohnehin die Absicht, ihm morgen ein neues Angebot zu machen, diesmal von achtzigtausend Franken … Reden Sie mit ihm, machen Sie ihm klar, daß er Selbstmord begeht. Er wird vielleicht auf Sie hören, da er ja Ihr Freund ist, und Sie werden ihm einen echten Dienst erweisen.«

»Gut«, erwiderte Denise lächelnd. »Ich werde die Botschaft bestellen, aber ich bezweifle, daß ich Erfolg haben werde.«

Wieder schwiegen sie. Mouret versuchte, von ihrem Onkel Baudu zu sprechen, aber er unterbrach sich sofort, als er sah, daß das dem jungen Mädchen unangenehm war. Sie schritten nebeneinander dahin und kamen endlich in der Richtung der Rue de Rivoli in eine Allee, wo es noch heller war. Als sie aus dem dunklen Schatten der Bäume hervortraten, war es ihnen, als erwachten sie plötzlich. Er begriff, daß er sie nicht länger zurückhalten konnte.

»Guten Abend, Fräulein!«

»Guten Abend, Herr Mouret.«

Aber er ging nicht. Er hob die Augen und sah vor sich an der Ecke der Rue d'Algers die hell erleuchteten Fenster von Frau Desforges, die ihn erwartete. Dann blickte er wieder auf Denise, die in dem matten Licht der Dämmerung neben ihm ging. Sie war so zart und schmächtig im Vergleich zu Henriette; wie kam es nur, daß sie trotzdem sein Herz höher schlagen ließ? Es war offenbar eine dumme Laune …

»Der Kleine wird müde«, sagte er, um nur etwas zu sagen.

»Und vergessen Sie nicht: unser Haus steht Ihnen offen. Sie brauchen nur zu kommen, ich verschaffe Ihnen jede Genugtuung, die Sie wünschen. Guten Abend!«

»Guten Abend!«

Als Mouret sie verlassen hatte, kehrte Denise in den dunklen Schatten der Kastanien zurück und eilte lange ziellos zwischen den mächtigen Baumstämmen umher; ihr Gesicht glühte, und der Kopf summte ihr von wirren Gedanken. Sie hatte Pépé ganz vergessen, doch als sie eine Stunde später mit dem Kind die Rue de la Michodière hinaufging, trug ihr Gesicht wieder den Ausdruck innerer Gefaßtheit.

»Kreuzdonnerwetter!« schrie ihr Bourras schon von weitem entgegen, »diese Kanaille von Mouret hat tatsächlich mein Haus gekauft!«

Er war außer sich, stand mitten im Laden und fuchtelte so wütend herum, als wollte er alles zertrümmern.

»Dieser Lumpenkerl! … Der Obsthändler hat es mir geschrieben. Sie glauben gar nicht, was er ihm dafür abgenommen hat: hundertfünfzigtausend Franken, viermal soviel, wie es wert ist! Auch ein richtiger Dieb, dieser Obsthändler! Denken Sie sich, er hat sich auf die Verschönerungen berufen, die ich an dem Haus vorgenommen habe! Werden diese Leute nicht bald aufhören, mit mir ihr Spiel zu treiben?«

Der Gedanke, daß das Geld, das er auf die Verschönerungen und Ausbesserungen verwendet hatte, nun dem Obsthändler zugute gekommen war, erfüllte ihn mit Wut. Jetzt war also Mouret sein Hauseigentümer, ihm hatte er künftig die Miete zu bezahlen, bei ihm, dem verabscheuten Konkurrenten, sollte er künftig wohnen!

Denise stand verblüfft da und vermochte kein Wort hervorzubringen. Sie wartete geduldig das Ende des Donnerwetters ab. Als Bourras ruhiger geworden war, entschloß sie sich, den Auftrag Mourets auszurichten.

»Ich bin soeben jemandem begegnet«, begann sie; »ja, aus dem ›Paradies der Damen‹, jemandem, der sehr gut unterrichtet ist. Es scheint, daß man vorhat, Ihnen achtzigtausend Franken anzubieten.«

Er unterbrach sie mit schneidender Stimme.

»Achtzigtausend Franken? Nicht für eine Million jetzt!«

Sie wollte ihn zur Vernunft bringen, allein in dem Augenblick, als sie von seinen Interessen zu sprechen begann, öffnete sich die Ladentür, und sie wich stumm und bleich zurück: es war Onkel Baudu mit seinem gelben, gealterten Gesicht. Bourras faßte seinen Nachbarn beim Mantelknopf und schrie ihm ins Gesicht, ohne ihn erst zu Wort kommen zu lassen:

»Wissen Sie, was diese Leute in ihrer Unverschämtheit mir anbieten? Achtzigtausend Franken! So weit sind diese Banditen gekommen! Sie glauben, daß ich mich verkaufe wie eine Dirne … Kaum gehört ihnen das Haus, so meinen sie schon, sie könnten alles haben!«

»Es ist also wahr?« fragte Baudu bedrückt. »Man hat es mir erzählt, und ich wollte eben von Ihnen Näheres erfahren.«

»Achtzigtausend Franken!« wiederholte Bourras. »Warum nicht hunderttausend? Dieses Geld bringt mich am meisten auf. Glauben die denn, daß ich für ihr Geld eine Schurkerei begehen werde? Sie sollen es nicht haben, Kreuzdonnerwetter, niemals, niemals, hören Sie?«

Da brach Denise ihr Schweigen und sagte sanft:

»In neun Jahren, wenn Ihr Vertrag abläuft, bekommen sie es doch.«

Trotz der Gegenwart ihres Onkels beschwor sie den Alten, das Angebot anzunehmen. Der Kampf sei aussichtslos geworden, er kämpfe gegen eine erdrückende Übermacht. Es wäre Wahnsinn, das Vermögen zurückzuweisen, das sich ihm darbiete. Bourras aber schüttelte hartnäckig den Kopf. In neun Jahren hoffte er tot zu sein, um das Ende nicht mit ansehen zu müssen.

»Da hören Sie es, Herr Baudu«, fuhr er dann fort, »Ihre Nichte hält es auch mit diesen Leuten, sie ist damit betraut, mich fertigzumachen; sie hält es mit diesen Räubern, auf Ehrenwort!«

Der Onkel schien bisher die Anwesenheit Denises nicht bemerkt zu haben. Jetzt hob er den Kopf, wandte sich langsam um und sah sie an. Seine dicken Lippen bebten. Er bereute es wohl, daß er ihr in ihrer Not nicht beigestanden hatte. Der Anblick Pépés, der auf einem Sessel schlief, während sich diese stürmische Szene abspielte, mochte ihn vollends umstimmen.

»Denise«, sagte er schlicht, »komm doch morgen zu uns zum Essen und bring den Kleinen mit … Meine Frau und Geneviève haben mich gebeten, dich einzuladen.«

Sie wurde rot und küßte ihn voller Dankbarkeit. Als er ging, rief ihm Bourras, glücklich über diese Versöhnung, nach:

»Treiben Sie ihr die Fehler wieder aus, es steckt doch viel Gutes in ihr! … Meinetwegen kann das Haus einstürzen, mich sollen sie in jedem Fall unter den Trümmern finden!«

Kapitel Ein­hundert­zwei

Inzwischen sprach man im ganzen Stadtviertel von der großen Straße, die unter dem Namen Rue du Dix-Décembre von der Börse bis zur neuen Oper eröffnet werden sollte. Die Enteignungsverhandlungen hatten stattgefunden, zwei Scharen von Arbeitern machten sich bereits von beiden Seiten an den Durchbruch. Die Rue de Choiseul und die Rue de la Michodière bangten um ihre dem Untergang geweihten Häuser.

Aber was das Stadtviertel noch mehr bewegte, waren die Arbeiten am »Paradies der Damen«. Man sprach von bedeutenden Vergrößerungen, von riesigen Geschäftsräumen, die nach allen drei Seiten bis an die Rue de la Michodière, die Rue Neuve- Saint-Augustin und die Rue Monsigny reichen sollten. Man erzählte, Mouret habe mit dem Baron Hartmann, dem Direktor der Immobilienbank, einen Vertrag geschlossen und werde den ganzen Häuserkomplex erhalten mit Ausnahme der Seite nach der künftigen Rue du Dix-Décembre, wo der Baron ein Konkurrenzunternehmen zum Grand-Hotel errichten wolle. Das »Paradies der Damen« kaufte überall Mietverträge auf, die Läden wurden geschlossen, die Mieter zogen aus. In den nunmehr leeren Häusern begann ein Heer von Arbeitern, umhüllt von einer Wolke von Staub und Kalk, die geplanten Umbauten. Nur das schmale Haus des alten Bourras blieb inmitten dieses allgemeinen Umsturzes unberührt, hartnäckig eingepfercht zwischen den hohen, von Arbeitern bevölkerten Mauern.

Als am folgenden Tag Denise mit Pépé zu Onkel Baudu ging, war die Straße eben von einer Reihe von Lastwagen versperrt, die vor dem alten Haus Duvillard Ziegel abluden. Auf der Schwelle seines Ladens stand der Onkel und betrachtete mit bekümmerter Miene dieses Schauspiel. In dem Maß, wie das »Paradies der Damen« sich ausbreitete, schien der »Vieil Elbeuf« zusammenzuschrumpfen. Das junge Mädchen fand die Auslagen noch finsterer, noch gedrückter unter dem niedrigen Zwischenstock mit den runden Gefängnisfensterchen. Der Regen hatte das grün angestrichene Firmenschild noch mehr verfärbt, und die ganze bleigraue Vorderseite wirkte trauriger und kümmerlicher denn je.

»Da seid ihr ja«, sagte Baudu. »Nehmt euch in acht, sie werden euch noch über den Haufen fahren!«

Als sie den Laden betraten, empfand Denise dieselbe Beklemmung im Herzen wie damals. Frau Baudu und Geneviève saßen still und stumm an der Kasse; niemand störte sie dort auf.

»Guten Abend, Tante«, sagte Denise. »Ich freue mich so, Sie wiederzusehen, und wenn ich Ihnen Kummer gemacht habe, bitte verzeihen Sie mir!«

Frau Baudu war gerührt und küßte das Mädchen.

»Mein armes Kind«, sagte sie, »wenn ich keinen anderen Kummer hätte, dann wäre ich recht vergnügt.«

»Guten Abend, Kusine«, fuhr Denise fort und gab Geneviève einen Kuß auf die Wangen.

Nun umarmten die beiden Frauen auch noch Pépé, und damit war die Versöhnung vollständig.

 

Baudu wandte sich jetzt nach dem dunklen Hintergrund des Ladens und sagte:

»Colomban, du kannst ruhig mit uns essen, es kommt doch niemand.«

Denise hatte den Angestellten gar nicht bemerkt. Frau Baudu erklärte ihr, den anderen Verkäufer und das Mädchen hätten sie entlassen müssen; die Geschäfte gingen so schlecht, daß Colomban allein genüge, und auch er verbringe noch ganze Stunden völlig untätig, gähnend vor Langeweile.

Während der Mahlzeit kam der Onkel natürlich auf die Leute von gegenüber zu sprechen. Anfangs zeigte er sich sehr duldsam.

»Mein Gott, du bist ja frei und darfst diesen großen Herren ruhig das Wort reden. Jeder nach seinem Geschmack, mein Kind … Da es dich nicht stört, daß du so einfach vor die Tür gesetzt worden bist, mußt du ja gewichtige Gründe haben, die für diese Leute sprechen; und wenn du zu ihnen zurückgingst, wäre ich dir nicht im geringsten böse. Keiner von uns wäre es, nicht wahr?«

»O nein«, flüsterte Frau Baudu.

Denise sagte ruhig ihre Meinung, wie sie es schon bei Robineau getan hatte; sie sprach von der natürlichen Entwicklung des Handels, von den Anforderungen der Zeit, von der Großartigkeit dieser Neuschöpfungen, von dem wachsenden Wohlstand der Allgemeinheit. Baudu hörte ihr erstaunt zu, und als sie geendet hatte, sagte er kopfschüttelnd:

»Das sind alles Hirngespinste. Handel ist Handel: daran ändert sich nichts. Ich gebe ja zu, daß sie weiterkommen, aber das ist auch alles. Es scheint eben, daß heutzutage die Diebe zu einem Vermögen kommen, während ehrliche Leute elend zugrunde gehen. Ja, so weit haben wir es gebracht! Aber ich bleibe auf meinem Posten, ich gebe nicht nach! Der ›Vieil Elbeuf‹ jedenfalls wird ihnen keine Zugeständnisse machen.«

Er geriet mehr und mehr in Erregung. War denn dieser Riesenapparat nicht langsam lächerlich? Die Kunden würden sich allmählich gar nicht mehr auskennen; warum baute man nicht lieber gleich Markthallen? Dann kam er auf den Umsatz des Warenhauses zu sprechen. Das war doch geradezu unbegreiflich, meinte er: in vier Jahren hatten sie ihn verfünffacht, aus ehemals acht Millionen jährlich waren nach der letzten Inventur vierzig Millionen geworden. Das war doch unerhört, dagegen konnte man ja nicht mehr ankämpfen. Und dabei wuchs das Haus immer weiter: Jetzt hatten sie tausend Angestellte und kündigten achtundzwanzig Abteilungen an. Diese Zahl besonders brachte ihn außer sich. Gewiß hatten sie einige Abteilungen einfach geteilt, aber es gab auch mehrere neue, zum Beispiel eine für Möbel und eine für »Pariser Spezialitäten«. Hatte man je so etwas gehört: »Pariser Spezialitäten«? Besonderen Stolz konnte man ihnen wirklich nicht vorwerfen; sie würden schließlich auch noch Fische verkaufen!

»Wenn du aufrichtig sein willst, kannst du sie unmöglich verteidigen«, wandte er sich an Denise. »Was würdest du von mir halten, wenn ich in meinem Tuchladen eine Abteilung für Kochtöpfe einrichten würde? Du würdest sagen, ich sei ein Narr, nicht wahr? Gib doch zu, daß man vor so etwas keine Hochachtung haben kann.«

Denise lächelte bloß verlegen, sie sah ein, daß hier mit Vernunftgründen nicht viel auszurichten war. Da meinte er:

»Gut, du bist nun mal für sie. Wir wollen nicht weiter darüber reden, es ist nicht nötig, daß wir uns deshalb zerstreiten. Das fehlte noch, daß sie Unfrieden zwischen mir und meiner Familie stiften. Geh ruhig zurück zu ihnen, wenn es dir gefällt, aber laß mich in Ruhe mit ihren Geschichten.«

Eine Weile schwiegen sie, dann fing Baudu wieder an.

»Sieh dir diese beiden an«, sagte er und zeigte mit seinem Messer auf Geneviève und Colomban. »Frag sie mal, ob sie dein ›Paradies der Damen‹ etwa besonders schätzen!«

Auf dem gewohnten Platz, an dem sie sich seit zwölf Jahren zweimal täglich zusammenfanden, saßen Colomban und Geneviève und aßen still vor sich hin. Keiner von beiden sagte ein Wort. Er versuchte hinter plumper Gemütlichkeit die innere Flamme seiner Leidenschaft zu verbergen, während sie, wie von einem geheimen Kummer verzehrt, den Kopf noch mehr hängen ließ.

»Das vergangene Jahr war schlecht«, erklärte der Onkel, »und wir müssen ihre Heirat noch weiter verschieben. Frag sie nur, was sie von deinen Freunden da drüben halten!«

Notgedrungen tat Denise ihm den Gefallen.

»Ich kann sie doch nicht gern haben, Kusine«, erwiderte Geneviève, »aber es denken ja nicht alle Leute wie ich.«

Dabei schaute sie auf Colomban, der mit verlegener Miene Brotkügelchen rollte. Als er die Blicke seiner Verlobten auf sich ruhen fühlte, brach er in einige heftige Redensarten aus. So eine schmutzige Bude! Einer schurkiger als der andere! Eine wahre Pest für das Stadtviertel!

»Hört ihr es?« rief Baudu entzückt. »Den werden sie niemals in ihre Hand bekommen! Ja, mein lieber Freund, du bist der letzte! Solche wie dich gibt's nicht mehr!«

Allein Geneviève mit ihrem strengen und schmerzerfüllten Gesicht ließ Colomban nicht aus den Augen. Ihre Blicke drangen ihm bis ins Herz und setzten ihn in Verlegenheit, so daß er seine Schmähungen noch verdoppelte. Frau Baudu betrachtete die beiden voll Sorge, als sehe sie ein neues Unglück voraus. Seit einiger Zeit machte ihr das Aussehen ihrer Tochter Angst, sie fühlte, wie das junge Mädchen dahinwelkte.

»Der Laden ist ohne Aufsicht«, sagte sie endlich und erhob sich, um dieser Szene ein Ende zu machen. »Schau doch mal nach, Colomban; ich glaube, es ist jemand da.«

Alles stand auf. Baudu und Colomban sprachen mit einem Vertreter, der gekommen war, um Aufträge entgegenzunehmen. Frau Baudu nahm Pépé mit sich, um ihm Bilder zu zeigen. Denise stand sinnend am Fenster und blickte in den kleinen Hof hinaus. Als sie sich umwandte, sah sie ihre Kusine noch immer auf ihrem Platz sitzen. Plötzlich begann Geneviève zu schluchzen. Sie ließ den Kopf auf den Tisch niedersinken und vergoß bittere Tränen.

»Mein Gott, was ist denn?« rief Denise verstört. »Soll ich jemanden rufen?«

Geneviève hielt sie zurück und stammelte:

»Nein, nein, bleiben Sie! Mama soll nichts wissen. Sie dürfen es erfahren, aber die anderen nicht. Es ist wieder einmal über mich gekommen, ich glaubte, ich sei allein … «

Ein neuer Anfall ergriff sie und schüttelte den gebrechlichen Körper. Denise sprach ihr leise Trost zu. Nach einer Weile beruhigte sich Geneviève, sie schluchzte nicht mehr, doch sie saß wie gebrochen auf ihrem Stuhl und blickte starr auf ihre Kusine.

Plötzlich fragte sie:

»Sagen Sie mir die Wahrheit: liebt er sie?«

Denise fühlte alles Blut in ihre Wangen steigen. Sie begriff, daß es sich um Colomban und Claire handelte, und tat, als sei sie von der Frage völlig überrascht.

»Wen denn, meine Liebe? Von wem sprechen Sie überhaupt?«

Geneviève schüttelte tadelnd den Kopf.

»Lügen Sie nicht. Tun Sie mir den Gefallen und sagen Sie mir endlich die Wahrheit. Sie müssen es wissen, ich fühle es. Sie waren doch mit ihr zusammen, und ich habe ja gesehen, daß Colomban Ihnen folgte und mit Ihnen sprach. Er hat Ihnen gewiß Aufträge für sie gegeben, nicht wahr? Sagen Sie mir die Wahrheit, ich beschwöre Sie! Es ist besser für mich.«

Niemals war Denise in solcher Verlegenheit gewesen. Sie schlug die Augen nieder vor diesem stummen Blick, der alles erriet. Endlich faßte sie sich und versuchte ein letztes Täuschungsmanöver.

»Aber er liebt doch Sie!«

Geneviève machte eine verzweifelte Gebärde.

»Schon gut – Sie wollen mir also nichts sagen. Es ist mir übrigens gleichgültig, ich habe sie ja gesehen. Er geht doch dauernd auf die Straße hinaus, um hinaufzuschauen, und sie lacht von oben auf ihn herab wie eine Dirne … Sicher haben sie außerhalb des Hauses ihre Zusammenkünfte.«

»Nein, bestimmt nicht, das schwöre ich!« rief Denise, fortgerissen durch das Verlangen, ihr wenigstens diesen Trost zu verschaffen.

Geneviève atmete auf, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Dann begann sie leise:

»Sie wissen ja, seit zehn Jahren lebe ich im Gedanken an diese Heirat. Ich trug noch kurze Kleider, als Colomban schon für mich bestimmt war. Ich weiß nicht mehr, wie alles gekommen ist. Da wir immer zusammen lebten, immer in diesen vier Wänden eingeschlossen waren, einer neben dem anderen, ohne daß es jemals eine Abwechslung gegeben hätte, mußte ich ihn schließlich vor der Zeit als meinen Mann betrachten. Ich wußte gar nicht, ob ich ihn liebte; ich war eben seine Frau: das ist alles. Und heute will er mit einer andern seiner Wege gehen. Ach, mein Gott, das bricht mir das Herz!«

Von neuem füllten sich ihre Augen mit Tränen. Denise fragte sie, von tiefem Mitleid ergriffen:

»Vermutet die Tante etwas?«

»Ich glaube, ja; sie ahnt die Wahrheit. Papa hat zu viel mit seinen geschäftlichen Sorgen zu tun; er weiß nicht, welchen Kummer er mir macht, indem er diese Heirat immer wieder verschiebt. Mama hat mich wiederholt ausgefragt, sie sieht ja, wie schlecht es mir geht. Sie war selbst niemals besonders kräftig, aber bei mir findet sie's wohl etwas zu arg … «

Denise umarmte das unglückliche Mädchen und versuchte noch immer, sie zu trösten. Sie werde Colomban heiraten, versicherte sie ihr, und bestimmt gesund und glücklich werden. –

Monate verflossen; Denise kam fast jeden Tag, um Geneviève einen Augenblick aufzuheitern; allein bei den Baudus wurde das Leben immer trauriger. Die Vergrößerungsarbeiten ihnen gegenüber waren für sie eine fortwährende Qual und ließen sie ihren Ruin nur noch schmerzlicher empfinden. Schon stieg das Mauerwerk bis zum ersten Stock empor. Zu allem Überfluß entschloß sich im September der Architekt, auch bei Nacht arbeiten zu lassen, weil er fürchtete, nicht rechtzeitig fertig zu werden. Mächtige Scheinwerfer wurden angebracht, und das Getöse nahm kein Ende mehr. Die Leute arbeiteten schichtweise, ständig wurde irgendwo gehämmert oder gesägt, der ewige Lärm kostete die Familie Baudu auch noch den Schlaf.

Es kam der Tag, wo sie in Zahlungsschwierigkeiten gerieten; bisher hatten sie von den Ersparnissen früherer Jahre gezehrt, jetzt begannen die Schulden. Im Dezember mußte Baudu, entsetzt über die Höhe seiner Wechselverbindlichkeiten, sich zu einem schweren Opfer entschließen: er verkaufte sein Landhaus in Rambouillet. Dieser Verkauf vernichtete den einzigen Traum seines Lebens, und er mußte überdies einen Besitz, der ihn mehr als zweihunderttausend Franken gekostet hatte, für siebzigtausend weggeben. Er war noch froh und glücklich, daß seine Nachbarn, die Familie Lhomme, das Haus zu diesem Preis übernahmen. Die siebzigtausend Franken genügten, um seine Firma noch einige Zeit zu stützen. Denn trotz aller Unglücksfälle wollte er weiterkämpfen.

An dem Sonntag, an dem die Lhommes das Geld bringen wollten, sollten sie zum Essen im »Vieil Elbeuf« bleiben. Frau Aurélie kam als erste. Auf ihren Mann mußte man etwas warten; er hatte bei einem Nachmittagskonzert mitgespielt und sich verspätet. Albert schließlich hatte zwar zugesagt, kam aber nicht. Es wurde im übrigen ein recht trübseliger Abend. Die Baudus, an ein enges und muffiges Dasein gewöhnt, fühlten sich unbehaglich bei dem Zug von Ungebundenheit, den die Lhommes ins Haus brachten. Geneviève, verletzt durch die herrischen Manieren von Frau Aurélie, tat den Mund überhaupt nicht auf, während Colomban die Direktrice offen bewunderte und von Zeit zu Zeit zusammenfuhr, wenn er daran dachte, daß sie Claires Vorgesetzte sei.

Vor dem Schlafengehen wanderte Baudu lange im Zimmer auf und ab; seine Frau lag bereits im Bett. Draußen herrschte mildes Tauwetter; trotz der geschlossenen Fenster und der herabgelassenen Vorhänge hörte man das Gebrause der Maschinen drüben.

»Weißt du, woran ich denke, Elisabeth?« sagte er endlich. »Die Lhommes mögen noch so viel Geld verdienen – ich stecke doch lieber in meiner eigenen Haut als in der ihren. Sie haben Glück, das ist wahr; die Frau hat erzählt, wenn ich recht gehört habe, daß sie dieses Jahr zwanzigtausend Franken verdient hat. Mir soll's recht sein! Mein Landhaus habe ich freilich nicht mehr, aber wenigstens gehe ich nicht allein meiner Wege und halte mich an die Musik, während du sonstwo herumbummelst. Nein, die können nicht glücklich sein.«

Er nahm sich indessen die Sache doch sehr zu Herzen und grollte diesen Leuten, die ihm seinen Lebenstraum abgekauft hatten. Schweigend trat er ans Fenster und lauschte dem Getöse, das von drüben herüberklang. Und wieder erging er sich in seinen Klagen und Beschwerden über die neuen Zeiten. So etwas hatte es doch noch nicht gegeben: verdienten die Angestellten jetzt mehr als die Kaufleute! Ein Kassierer, der den Besitz eines selbständigen Geschäftsmannes erwarb! Alles ging aus den Fugen, es gab keinen Familienzusammenhalt mehr, man spazierte ins Restaurant, anstatt seine Suppe am eigenen Herd zu essen. Zu guter Letzt verlegte er sich aufs Prophezeien und sagte voraus, der junge Albert werde eines Tages das Landgut in Rambouillet noch mit irgendwelchen Frauenzimmern vergeuden.

 

Frau Baudu lag regungslos in ihrem Bett und hörte zu. Ihr Gesicht war so bleich wie die Kissen.

»Sie haben immerhin bezahlt«, sagte sie endlich.

Baudu verstummte bei diesen Worten. Eine Weile ging er mit gesenkten Blicken umher, dann fuhr er fort:

»Ja, sie haben bezahlt, das ist wahr, und schließlich ist ihr Geld so gut wie das anderer Leute … Es wäre nicht schlecht, wenn es uns gelänge, mit diesem Geld unsere Firma wieder aufzurichten. Ach, wenn ich nicht so alt und müde wäre!«

Neues Stillschweigen. Plötzlich begann Frau Baudu zu sprechen, den Blick starr zur Decke gerichtet.

»Hast du seit einiger Zeit deine Tochter beobachtet?«

»Nein«, erwiderte er.

»Nun, sie macht mir Sorge. Sie wird immer blasser, eine innere Verzweiflung scheint an ihr zu zehren.«

Er blieb überrascht vor dem Bett stehen.

»Worüber denn?« fragte er. »Wenn sie krank ist, sollte sie es sagen! Morgen will ich den Arzt kommen lassen.«

Frau Baudu lag noch immer unbeweglich da. Nach einer kurzen Weile fuhr sie fort:

»Ich denke, es wäre besser, die Heirat mit Colomban nicht länger hinauszuschieben.«

Er schaute sie an, dann nahm er seine Wanderung durch das Zimmer wieder auf. War es möglich, daß seine Tochter wegen des Angestellten krank wurde? Liebte sie ihn dermaßen, daß sie nicht mehr warten konnte? Der Gedanke machte ihn um so bestürzter, als er von dieser Heirat eine ganz feste Vorstellung hatte: unter den gegenwärtigen Umständen hätte er nie seine Einwilligung gegeben. Die Besorgnis um seine Tochter stimmte ihn indes milder.

»Es ist gut«, sagte er endlich, »ich werde mit Colomban sprechen.«

Am folgenden Morgen nahm Baudu Colomban beiseite. Er hatte sich genau zurechtgelegt, was er ihm sagen wollte. Mit verlegener Miene harrte der junge Mann, der diese Unterredung zu fürchten schien, der Dinge, die da kommen sollten. »Hör mich an«, begann der Tuchhändler. »Als Vater Hauchecorne mir den ›Vieil Elbeuf‹ übergab, ging das Geschäft gut. Er selbst hatte es vom alten Finet in bestem Zustand übernommen. Du kennst meine Einstellung: ich würde mir vorkommen, als beginge ich eine Gemeinheit, wenn ich das Geschäft meinen Kindern in einem unrentableren Zustand übergeben wollte; aus diesem Grund habe ich bisher deine Heirat mit Geneviève verschoben. Ja, ich habe eigensinnig gehofft, den früheren Wohlstand wieder zu erreichen. Ich hoffte, dir die Bücher vorlegen und sagen zu können: Schau, in dem Jahr, als ich eintrat, wurde soundso viel verkauft, und in diesem Jahr, wo ich euch das Geschäft übergebe, war der Umsatz um zehntausend oder zwanzigtausend Franken höher. Das war so eine Art Gelöbnis vor mir selbst, ich wollte mir nicht vorwerfen müssen, ich hätte euch bestohlen.«

Eine tiefe innere Bewegung raubte ihm die Stimme. Er räusperte sich, um die Fassung wiederzugewinnen, dann fragte er:

»Du sagst nichts?«

Allein Colomban hatte nichts zu sagen. Er schüttelte den Kopf und wartete immer verlegener, denn er glaubte zu erraten, worauf Baudu hinauswollte. Offenbar wollte er, daß binnen kurzem geheiratet würde. Wie sollte er sich dem widersetzen? Niemals würde er dazu die Kraft finden. Und was war dann mit jener anderen, von der er Nacht für Nacht träumte, von einem heißen Fieber verzehrt?

»Das Geld, das wir für das Landgut bekommen haben«, fuhr Baudu fort, »kann uns vielleicht retten. Unsere Lage wird mit jedem Tag schlimmer, aber wenn wir eine äußerste Anstrengung machen … Wir müssen alles auf eine Karte setzen. Das indessen, mein armer Junge, würde bedeuten, daß eure Heirat wieder einmal verschoben wird, denn ich kann euch doch jetzt nicht allein in den Kampf schicken; das wäre zu feige, nicht wahr?«

Als Colomban dies hörte, sank er erleichtert auf einen Stoffballen nieder. Seine Beine zitterten, er fürchtete, seine innere Freude merken zu lassen, und blickte darum zu Boden.

»Du sagst nichts?« fragte Baudu wieder.

Nein, er sagte nichts, er fand nichts zu sagen. Da fuhr der Tuchhändler leise fort:

»Ich wußte ja, daß diese Eröffnung ein schwerer Schlag für dich sein würde … Du mußt Mut fassen; sei doch nicht so niedergeschlagen. Versuch doch, meine Lage zu begreifen: kann ich euch einen solchen Stein an den Hals hängen? Anstatt euch ein gutes Geschäft zu übergeben, würde ich euch vielleicht einem Bankrott ausliefern. Nein, so etwas brächte nur ein Schurke fertig. Ich will sicherlich euer Glück, aber nie wird man mich überreden, gegen mein Gewissen zu handeln.«

In dieser Weise sprach er weiter und verwickelte sich mehr und mehr in Widersprüche. Da er dem Angestellten nun einmal seine Tochter mitsamt dem Laden versprochen hatte, verlangte die Rechtschaffenheit, daß er beides in gutem Zustand übergab. Allein er war müde, die Last wurde ihm zu drückend. Er wartete darauf, daß Colomban sich einen Ruck geben, seinem Herzen folgen würde – aber nichts geschah.

Da der junge Mann noch immer mit gesenktem Kopf dasaß, fragte er ihn zum drittenmal:

»Du sagst nichts?«

Nun endlich murmelte Colomban, ohne ihm ins Gesicht zu schauen:

»Was gibt es da zu sagen? Sie sind der Chef, Sie sind klüger als wir alle. Da Sie es wünschen, werden wir warten.«

Baudu hatte gehofft, Colomban werde sich ihm an den Hals werfen und ausrufen: »Vater, setzen Sie sich zur Ruhe, überlassen Sie die Sorgen nur uns! Geben Sie uns den Laden, wie er ist, wir werden es schon schaffen, ihn über Wasser zu halten!« Dann schaute er ihn an und wurde von innerer Scham ergriffen; er klagte sich an, daß er seine Kinder habe überlisten wollen. Die alte kaufmännische Rechtschaffenheit meldete sich wieder zu Wort: Dieser nüchterne Bursche hatte recht, im Handel gab es keine Gefühle, da gab es nur Zahlen.

»Es bleibt also dabei«, sagte er, um der Sache ein Ende zu machen, »wir werden im nächsten Jahr wieder von der Heirat sprechen.«

Als Frau Baudu am Abend vor dem Schlafengehen ihren Mann nach dem Ergebnis der Unterredung fragte, hatte Baudu seinen Eigensinn wiedergefunden. Er erging sich in Lobeserhebungen über Colomban: das sei ein guter, aufrechter Bursche, nicht wie die geschniegelten Stutzer da drüben, die den Käuferinnen die Cour machten.

»Aber was ist's mit der Heirat?« fragte Frau Baudu.

»Später«, erwiderte ihr Mann. »Ich will meinen Kindern mein Versprechen halten.«

Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie:

»Unsere Tochter wird daran zugrunde gehen.«

Da wurde Baudu zornig. War es denn seine Schuld? Er liebte seine Tochter wahrhaftig, aber er konnte doch nichts dafür, wenn das Geschäft nicht besser ging! Geneviève sollte vernünftig sein und Geduld haben. Alle Wetter, Colomban blieb ja da, niemand wollte ihn ihr stehlen.

»Es ist unglaublich«, wiederholte er ein über das andere Mal; »ein so wohlerzogenes Mädchen … «

Frau Baudu sagte nichts mehr. Ohne Zweifel hatte sie die Eifersuchtsqualen ihrer Tochter erraten, aber sie brachte es nicht fertig, mit ihrem Mann darüber zu sprechen. –

Mittlerweile hatte Denise sich entschlossen, ins »Paradies der Damen« zurückzukehren. Sie hatte begriffen, daß Robineau, obgleich er genötigt war, sein Personal zu verringern, nicht den Mut fand, sie zu entlassen. Um sich über Wasser zu halten, mußten die Eheleute bereits alles selber machen. Gaujean beharrte bei seinem Eigensinn und gab noch länger Kredit, ja er versprach sogar, neue Gelder für sie aufzutreiben. Allein Robineau war vorsichtig und wollte nicht gegen die Gesetze von Sparsamkeit und Ordnung verstoßen. Denise beobachtete seit vierzehn Tagen, daß die Robineaus sich ihr gegenüber immer verlegener benahmen, und so entschloß sie sich, die Sache selber zur Sprache zu bringen. Sie habe anderwärts einen Platz gefunden, sagte sie. Alles fühlte sich erleichtert. Frau Robineau küßte sie gerührt und versicherte, daß sie es stets bedauern werde, sie zu verlieren. Dann fragte man sie, wohin sie gehe, und als sie erwiderte, sie kehre zu Mouret zurück, wurde Robineau sehr blaß.