50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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»Was wünschen gnädige Frau?« fragte Mignot, als er Frau Marty vor seinem Tisch festgebannt erblickte. »Wir haben schwedische Handschuhe zu einem Franken fünfundsiebzig, erste Qualität.«

Es war seine Leidenschaft, die Vorübergehenden anzusprechen, sie durch seine Liebenswürdigkeit zu bezwingen. Da Frau Marty ablehnend den Kopf schüttelte, fuhr er fort:

»Tiroler Handschuhe zu einem Franken fünfundzwanzig, Turiner Handschuhe für Kinder, gestickte Handschuhe in allen Farben … «

»Nein, ich danke, ich brauche nichts«, erklärte Frau Marty.

Allein er merkte, daß ihre Stimme schwächer wurde; er setzte ihr noch hartnäckiger zu, indem er ihr gestickte Handschuhe vorlegte, und sie gab ihren Widerstand auf. Sie kaufte ein Paar, und als sie Frau von Boves lächeln sah, errötete sie.

»Ich bin ein Kind, nicht wahr? Wenn ich nicht bald mein Schnürband kaufe und davongehe, bin ich verloren.«

Unglücklicherweise herrschte bei den Kurzwaren ein solches Gedränge, daß sie nicht bald bedient wurden. Sie warteten zehn Minuten und verloren schon die Geduld, als sie plötzlich Frau Bourdelais mit ihren drei Kindern begegneten. Diese erklärte mit der ruhigen Miene der praktischen Hausfrau, daß sie ihren Kleinen dieses Schauspiel habe zeigen wollen. Madeleine war zehn Jahre alt, Edmond acht, Lucien vier; die Kinder unterhielten sich prächtig, es war ein billiges Vergnügen, das ihnen seit langer Zeit versprochen war.

»Ich will doch einen roten Sonnenschirm kaufen, sie sind gar so drollig«, sagte jetzt Frau Marty, die ungeduldig hin und her trippelte.

Sie wählte einen für vierzehn Franken fünfzig. Frau Bourdelais, die tadelnd ihren Kauf betrachtete, sagte in freundschaftlichem Ton zu ihr:

»Sie sollten sich nicht so beeilen; in zwei Wochen hätten Sie ihn für zehn Franken bekommen … Mich werden diese Leute nicht drankriegen.«

Man dürfe nie gleich zu Anfang einkaufen, erklärte sie, denn die Preise würden später immer herabgesetzt. Sie lasse sich nicht ausbeuten, sie wolle billig einkaufen und kaufe auch billig ein. Sie führte diesen Kampf gegen die Warenhäuser mit einer gewissen Schadenfreude, sie rühmte sich, daß sie an ihr keinen Sou zu viel verdienten.

Heute wollte sie mit ihren Kindern nach oben, um ihnen im Lesesaal Bilder zu zeigen.

»Kommen Sie doch mit«, meinte sie, »Sie haben ja Zeit.«

Da war das Schnürband vergessen. Frau Marty gab sofort nach, während Frau von Boves vorher im Erdgeschoß die Runde machen wollte. Die Damen hofften, sich oben wieder zu treffen. Frau Bourdelais suchte eine Treppe, als sie einen der Aufzüge bemerkte und sich beeilte, mit ihren Kindern dahinzugelangen, um so das Vergnügen zu vervollständigen. Frau Marty und Valentine traten mit in den engen Käfig. Im ersten Stock harrte ihrer ein weiteres Vergnügen. Als man am Büfett vorbeikam, ließ Frau Bourdelais es sich nicht entgehen, die Kleinen mit Obstsaft zu versorgen. Allein bis sie sich wieder aus dem Menschenknäuel herausgearbeitet hatte, waren Frau Marty und Valentine verschwunden. Endlich entdeckte sie sie in einem ziemlich entfernten Gang. Die beiden kauften schon wieder. Es war vorbei mit ihnen, Mutter und Tochter vergingen in der fieberhaften Sucht, Geld auszugeben.

Im Lese- und Unterhaltungsraum setzte Frau Bourdelais Madeleine, Edmond und Lucien an den großen Tisch, dann holte sie aus einem der Regale Bilderbücher und brachte sie ihren Kindern.

Ein schweigendes Publikum hatte sich rings um den Tisch angesammelt, der mit Zeitschriften und Zeitungen, Papier und Schreibzeug bedeckt war. Einige Damen hatten ihre Handschuhe abgelegt und schrieben ihre Briefe auf den Bogen mit dem Namenszug des Hauses. Herren saßen in ihre Sessel zurückgelehnt und lasen die Zeitung. Viele taten auch einfach gar nichts. Es gab Männer, die hier auf ihre Frauen warteten, die sie unten im Gewühl zurückgelassen hatten, junge Damen, die nach der Ankunft eines Liebhabers ausspähten, endlich Väter und Mütter, die von ihren Kindern wie in einer Garderobe zurückgelassen worden waren, um dann, wenn man mit dem Einkauf fertig war, wieder abgeholt zu werden.

»Wie, Sie sind hier?« rief Frau Bourdelais plötzlich. »Ich habe Sie erst gar nicht erkannt.«

Es war Frau Guibal; sie schien recht verdrossen über diese Begegnung und erzählte, sie sei nur heraufgekommen, um dem Trubel da unten zu entgehen und sich ein wenig auszuruhen. Als Frau Bourdelais sie fragte, ob sie gekommen sei, Einkäufe zu machen, erwiderte sie mit ihrer schmachtenden Miene:

»Im Gegenteil, ich bin hier, um etwas zurückzugeben. Ja, einen Unterrock und einige Vorhänge, mit denen ich nicht zufrieden bin. Aber es sind so viele Leute da, daß ich warten muß, um in die betreffenden Abteilungen zu kommen.«

Dann plauderte sie weiter und meinte, es sei so bequem, dieses System des Zurückgebens. Früher habe sie nie etwas gekauft, während sie sich jetzt zuweilen verlocken lasse. In der Tat gab sie von fünf Artikeln, die sie erstanden hatte, vier zurück; sie war schon in allen Abteilungen dafür bekannt.

Während sie sprach, ließ sie die Türen des Saales nicht aus den Augen und atmete auf, als Frau Bourdelais sich zu ihren Kindern umwandte, um ihnen die Bilder zu erklären. Fast im gleichen Augenblick traten Herr von Boves und Paul von Vallagnosc ein. Der Graf, der tat, als wollte er dem jungen Mann die neuen Geschäftsräume zeigen, tauschte mit Frau Guibal rasch einen Blick aus. Dann versenkte sich diese wieder in ihre Lektüre, als hätte sie ihn gar nicht bemerkt.

»Schau an – Paul!« sagte plötzlich eine Stimme hinter den Herren.

Es war Mouret, der die Runde durch die verschiedenen Abteilungen machte. Sie schüttelten sich die Hände, und Mouret fragte den Grafen:

»Hat Frau von Boves uns die Ehre erwiesen zu kommen?«

»Mein Gott, nein«, erwiderte der Graf. »Sie bedauert sehr. Sie ist unwohl, aber es ist gottlob nichts Bedenkliches.«

Jetzt tat er, als hätte er plötzlich die Anwesenheit Frau Guibals bemerkt; er trat auf sie zu, während die anderen Herren sich damit begnügten, sie aus der Ferne zu grüßen. Auch sie spielte die Überraschte. Paul lächelte, er begriff endlich und erzählte Mouret leise, wie der Graf, mit dem er in der Rue Richelieu zusammengetroffen sei, sich erst bemüht habe, ihm wieder zu entkommen, und endlich wohl beschlossen habe, ihn zum »Paradies der Damen« mitzunehmen unter dem Vorwand, daß man das absolut sehen müsse.

Seit einem Jahr holte die Dame aus dem Grafen an Geld und Vergnügen heraus, soviel sie nur konnte. Dabei war sie so vorsichtig, ihm niemals zu schreiben; sie gab ihm nur ein Stelldichein an öffentlichen Plätzen: in Kirchen, Museen, Warenhäusern, und da verständigten sie sich.

»Ich glaube, daß sie bei jeder Zusammenkunft das Hotel wechseln«, flüsterte der junge Mann. »Kürzlich befand er sich auf einer großen Inspektionsreise. Jeden zweiten Tag erhielt seine Frau einen Brief von ihm: aus Blois, aus Libourne, aus Tarbes; und doch bin ich sicher, daß ich ihn in einem Hotel in Batignolles habe verschwinden sehen. Aber schau ihn dir nur an: wie untadelig er da vor ihr steht in der vornehmen Haltung eines hohen Beamten. Das ist Altfrankreich, mein Lieber, Altfrankreich!«

»Und was macht deine Heirat?«

Ohne den Grafen aus den Augen zu lassen, erwiderte Paul, sie warteten noch immer auf den Tod der alten Tante. Dann sagte er triumphierend:

»Hast du gesehen? Er hat sich heruntergebeugt und ihr eine Adresse zugesteckt; und sie hat sie mit der ehrbarsten Miene der Welt entgegengenommen … Schöne Dinge spielen sich ab bei dir!«

»Oh«, meinte Mouret lächelnd, »die Damen sind hier nicht bei mir, sie sind hier absolut zu Hause.«

Er scherzte weiter. Die Liebe bringe Glück ins Haus, wie die Schwalben, sagte er. Er kannte sie sehr gut, die Mädchen und Frauen, die den ganzen Tag durch die Abteilungen liefen und auf einen Freund warteten; aber wenn sie auch nichts kauften, so vermehrten sie doch das Getriebe und brachten Leben in die Räume.

Unter solchen Gesprächen zog er seinen Freund mit sich fort und stellte sich mit ihm am Eingang des Lesesaals auf. In dem weiten Raum hörte man nichts als das Rascheln der Zeitungen und das Gekritzel der Federn. Ein alter Herr war über seiner Lektüre eingeschlafen. Herr von Boves betrachtete aufmerksam die Gemälde an der Wand, augenscheinlich in der Absicht, seinen künftigen Schwiegersohn im Gewühl der Menge zu verlieren. Nur Frau Bourdelais unterhielt sich laut und ungeniert mit ihren Kindern.

»Du siehst, sie sind hier zu Hause«, wiederholte Mouret.

Im Erdgeschoß hatte sich mittlerweile auch Frau Desforges eingefunden. Obgleich sie die Neueinrichtung schon kannte, blieb sie einen Augenblick stehen, wie gebannt durch das rührige Leben, das hier herrschte. Rings um sie her wogte die Menge, es war ein ständiges Kommen und Gehen inmitten der gleißenden Vielfalt der Waren.

»Wünschen gnädige Frau billige Strumpfbänder?« fragte ein Verkäufer. »Reine Seide, neunundzwanzig Sous.«

Sie würdigte ihn keiner Antwort und suchte sich zurechtzufinden. Die Kasse des jungen Lhomme befand sich links. Er kannte sie und erlaubte sich, sie mit einem Lächeln zu begrüßen. Er versank geradezu in der Flut von Kassenzetteln, während hinter ihm der Laufbursche Joseph mit dem Einpacken der Waren kaum fertig werden konnte. Jetzt wußte sie, wo sie war: die Seidenabteilung mußte vor ihr liegen; aber sie brauchte gute zehn Minuten, um durch das Gewühl dahinzugelangen. Die roten Ballons in der Luft an ihren dünnen Fäden wurden immer zahlreicher; sie verdichteten sich zu einem Gewölk, bewegten sich langsam nach den Türen und ergossen sich von hier aus über Paris.

»Wie, gnädige Frau, Sie haben sich hierhergewagt?« rief Bouthemont, als er Frau Desforges erblickte.

 

Seit einiger Zeit kam der Abteilungsleiter, den Mouret selbst eingeführt hatte, zuweilen zu ihr zum Tee. Sie fand ihn ein bißchen gewöhnlich, aber sehr angenehm, lebhaft und von einem gesunden Humor, der sie überraschte und unterhielt. Vor einigen Tagen hatte er ihr übrigens rundheraus die Liebschaft Mourets mit Claire erzählt, ohne bestimmte Absicht, aus reiner Dummheit. Von Eifersucht verzehrt, ihren Verdruß unter einer Miene der Geringschätzung verbergend, war sie gekommen, um dieses Mädchen kennenzulernen; er hatte bloß gesagt, daß sie in der Konfektionsabteilung beschäftigt sei, ohne sie mit Namen zu nennen.

»Wünschen Sie etwas bei uns?« fragte er.

»Gewiß, sonst wäre ich nicht gekommen. Haben Sie Stoff für Morgenröcke?«

Sie hoffte, von ihm den Namen des Mädchens zu erfahren. Er rief nach Favier und fuhr fort, mit ihr zu plaudern, da der Verkäufer eben Kundschaft zu bedienen hatte, just jene hübsche Blondine, von der zuweilen die ganze Abteilung sprach, ohne auch nur ihren Namen zu wissen.

»Beeilen Sie sich doch! Das ist ja nicht auszuhalten!« rief Hutin Favier zu, der endlich seine Kundin zur Kasse begleitet hatte.

»Wenn diese Dame kommt, können Sie nie fertig werden. Sie macht sich ja bloß lustig über Sie!«

»Nicht mehr als ich mich über sie«, erwiderte der Verkäufer beleidigt.

Allein Hutin drohte ihm mit einer Meldung bei der Geschäftsleitung, wenn er sich nicht achtungsvoller gegen die Kunden benehme. Hutin war schrecklich geworden, überstreng, seit die Abteilung sich verbündet hatte, um ihm den Platz Robineaus zu verschaffen. Trotz seiner ehemaligen Versprechungen, gute Kameradschaft zu halten, erwies er sich jetzt als dermaßen unerträglich, daß die Verkäufer sich nun insgeheim zusammenschlossen, um Favier gegen ihn zu unterstützen.

»Widersprechen Sie nicht«, sagte Hutin streng. »Herr Bouthemont verlangt Stoffe zu einem Morgenrock, die hellsten Muster.«

Als Frau Desforges ihre Wahl getroffen hatte, machte sie einen letzten Versuch bei Bouthemont, der neben ihr stand.

»Ich will in die Konfektionsabteilung hinaufgehen, um nachzusehen, ob Reisemäntel da sind … Ist das Fräulein aus Ihrer Geschichte blond?«

Der Abteilungsleiter, den ihre Hartnäckigkeit zu beunruhigen begann, beschränkte sich auf ein Lächeln. In diesem Augenblick kam Denise vorüber. Favier hatte schon Frau Desforges' Stoff ergriffen, um mit ihr zu gehen, als Hutin ihn zurückhielt, weil er hoffte, ihn dadurch zu kränken.

»Lassen Sie das nur; das Fräulein wird so gut sein, die gnädige Frau zu begleiten.«

Denise war verwirrt, erklärte sich indessen bereit, das Paket und die Rechnung zu übernehmen. Sooft sie sich dem jungen Mann gegenüber fand, fühlte sie eine gewisse Scham. Es war, als erinnere sie seine Anwesenheit an ein einstiges Vergehen. Und doch hatte sie nur im Traum gesündigt. Hatte sie ihn wirklich geliebt? Sie wußte es nicht.

»Sagen Sie«, fragte Frau Desforges Bouthemont ganz leise, »ist es etwa dieses ungeschickte Mädchen? Hat er sie denn wieder eingestellt? Ist sie die Heldin des Abenteuers?«

»Vielleicht«, erwiderte der Abteilungsleiter, noch immer lächelnd und fest entschlossen, ihr nicht die Wahrheit zu sagen. Langsam stieg Frau Desforges hinter Denise die Treppe hinauf. Jeden Augenblick mußte sie stehenbleiben, um nicht von dem herunterkommenden Menschenstrom mitgerissen zu werden. Als sie endlich im ersten Stock angelangt war, schloß sie einen Moment die Lider: ihre Augen schmerzten von der Vielfalt der Farben und der Fülle der Eindrücke.

Mouret stand unterdessen noch immer mit Vallagnosc vor dem Lesesaal. Er deutete auf die Frauen, die sich in seinen Räumen drängten, und sagte:

»Ja, sie sind hier zu Hause; ich kenne einige, die den ganzen Tag hier zubringen, essen, trinken und ihre Korrespondenz besorgen … Es fehlte nur noch, daß sie hier schlafen.«

Paul lächelte müde. In seinem ewigen Pessimismus fand er es nach wie vor albern, daß eine solche Menschenmenge sich um ein paar Fetzen Stoff schlug. Nach jedem Besuch bei seinem ehemaligen Mitschüler ging er ärgerlicher weg, verdrossen, den andern inmitten dieses Volks von Kokotten so vergnügt zu sehen. War denn unter all diesen Frauen mit dem leeren Herzen und dem leeren Kopf keine einzige, die ihn die Dummheit und Nichtigkeit des Lebens erkennen ließ? Gerade heute wirkte Octave erregter als sonst. Seit er Denise und Frau Desforges die große Treppe hatte heraufkommen sehen, sprach er unwillkürlich lauter und gestikulierte mit den Händen; während er absichtlich nicht den Kopf nach ihnen umwandte, wurde er lebhafter in dem Maß, wie er sie näherkommen fühlte. Sein Gesicht bekam Farbe, seine Augen nahmen einen entzückten Ausdruck an.

»Man wird dich nicht wenig bestehlen«, bemerkte Paul trocken; »ich sehe da die reinsten Diebesgesichter.«

»Oh, das übersteigt alle Begriffe«, erwiderte Mouret.

Er erzählte ihm eine ganze Reihe von Geschichten. Er teilte die Diebinnen in Klassen ein: Da waren vor allem die Berufsmäßigen; diese waren am wenigsten schädlich, weil die Polizei sie fast sämtlich kannte. Dann kamen die Diebinnen aus Manie, welche die Beute einer unbezwinglichen Begierde waren. Und endlich mußte man auf die Schwangeren achtgeben, die sich auf spezielle Artikel verlegten; so hatte der Polizeikommissar bei einer von ihnen 248 Paar rosafarbene Handschuhe gefunden, die sie in sämtlichen Handschuhläden von Paris zusammengestohlen hatte.

»Eine saubere Schule der Ehrlichkeit, dein Warenhaus, das muß ich schon sagen«, bemerkte Paul.

»Mitunter sind ganz achtbare Damen darunter«, fuhr Mouret fort. »Die vorige Woche haben wir die Schwester eines Apothekers und die Gattin eines Hofrats dabei ertappt. In solchen Fällen legt man die Sache gütlich bei.«

Er verstummte. Denise und Henriette, die er nicht aus den Augen gelassen hatte, kamen eben hinter ihnen vorbei, nachdem sie sich mit vieler Mühe bis hierher durchgearbeitet hatten. Er wandte sich plötzlich um und grüßte höflich wie ein Freund, der eine Frau nicht dadurch bloßstellen will, daß er sie vor aller Augen anhält. Allein Henriette, deren Eifersucht einmal erweckt war, hatte sehr wohl bemerkt, daß sein erster Blick Denise gegolten hatte. Dieses Mädchen mußte die Nebenbuhlerin sein, um deretwillen sie heute gekommen war.

Die Verkäuferinnen der Konfektionsabteilung hatten alle Hände voll zu tun; zwei waren erkrankt, und Frau Frédéric, die stellvertretende Abteilungsleiterin, hatte tags zuvor in aller Stille ihren Abschied genommen; sie war ohne Kündigung gegangen, ebenso wie das Haus oft genug seine Angestellten ohne Kündigung entließ. Trotz der Aufregungen des Sonderverkaufs sprach man seit dem Morgen nur von dem Vorfall. Claire fand das »sehr schick«; Marguerite machte sich über die Wut Bourdoncles lustig, während Frau Aurélie würdevoll erklärte, daß Frau Frédéric so viel Anstandsgefühl hätte besitzen müssen, wenigstens sie vorher zu verständigen.

»Gnädige Frau wünschen einen Reisemantel?« fragte Denise und bot der Dame einen Stuhl an.

»Ja«, erwiderte Frau Desforges trocken; sie war entschlossen, unhöflich zu sein.

Als Denise fortgegangen war, um Reisemäntel zu holen, blickte Frau Desforges in einen Spiegel und betrachtete ihr Gesicht. Wurde sie denn alt, daß man sie mit der ersten besten betrog? Der Spiegel warf das Bild der ganzen Abteilung mit ihrem lebhaften Treiben zurück; sie aber sah nur ihr bleiches Gesicht und hörte nicht, daß hinter ihr Claire Marguerite im Flüsterton eine der Skandalgeschichten von Frau Frédéric erzählte.

»Das sind unsere neuesten Modelle«, sagte Denise; »wir haben sie in mehreren Farben.«

Sie breitete vier oder fünf Mäntel aus. Frau Desforges betrachtete sie mit geringschätziger Miene und wurde bei jedem Mantel in ihrem Benehmen schroffer. Wozu diese Falten, die das Kleidungsstück so knapp machten? Und dieser andere mit den eckigen Schultern schien ja nicht mit der Schere, sondern mit der Axt zugeschnitten zu sein! Wenn man auf die Reise ging, wollte man doch anständig gekleidet sein!

Denise legte die Mäntel auseinander und wieder zusammen, ohne sich den geringsten Verdruß anmerken zu lassen. Diese Sanftmut, diese Geduld ärgerten Frau Desforges noch mehr, ihre Blicke kehrten immer wieder zu dem Spiegel zurück. Sie betrachtete sich neben Denise und stellte im stillen Vergleiche an. Konnte man ihr diese unbedeutende Gestalt vorziehen?

»Ich werde der gnädigen Frau andere Modelle vorlegen«, sagte Denise geduldig.

Als sie zurückkam, begann die Szene von neuem. Jetzt waren die Stoffe zu schwer und taugten nichts. Frau Desforges drehte sich hin und her, sprach mit lauter Stimme und suchte die Aufmerksamkeit Frau Aurélies auf sich zu lenken in der Hoffnung, dem Mädchen eine Rüge zuzuziehen. Allein Denise hatte, seitdem sie zurückgekehrt war, allmählich die ganze Abteilung für sich gewonnen; sie war jetzt hier zu Hause, ja die Abteilungsleiterin erkannte sogar an, daß sie ungewöhnliche Vorzüge als Verkäuferin besaß. Frau Aurélie begnügte sich denn auch damit, die Achseln zu zucken, und hütete sich wohl, dazwischenzutreten.

»Wollen gnädige Frau mir vielleicht näher sagen, was Sie wünschen?« fragte Denise von neuem mit jener höflichen Ausdauer, die sich nicht entmutigen läßt.

»Aber wenn Sie doch nichts haben!« rief Frau Desforges.

Sie unterbrach sich, weil sie zu ihrer Überraschung fühlte, daß eine Hand sich auf ihre Schulter legte. Es war Frau Marty. Ihre Einkäufe hatten sich dermaßen angehäuft, daß der letzte Verkäufer sich entschlossen hatte, den Stapel auf ein Rollgestell zu legen; auf ihm türmten sich die Krawatten, die Handschuhe, der Sonnenschirm, verschiedene Röcke, Servietten, Vorhänge, eine Lampe und drei Bastmatten.

»Schau, schau«, sagte sie, »Sie kaufen einen Reisemantel?«

»Ach ja, ich möchte«, erwiderte Frau Desforges, »aber sie sind abscheulich.«

Allein Frau Marty stürzte sich auf einen gestreiften Mantel, den sie gar nicht übel fand; auch ihre Tochter Valentine war schon in seine Betrachtung versunken. Jetzt rief Denise Marguerite herbei, damit diese das Stück endlich losbrachte, denn es war ein Modell aus dem vergangenen Jahr. Auf einen Wink ihrer Kollegin pries Marguerite es als außerordentlich günstige Gelegenheit. Als sie versicherte, daß man den Preis schon zweimal herabgesetzt habe, von hundertfünfzig Franken auf hundertdreißig und dann sogar auf hundertzehn, konnte Frau Marty der Versuchung nicht mehr widerstehen. Sie nahm den Mantel, und der Verkäufer, der sie begleitet hatte, ließ das Gestell mit allen Paketen da.

Während Marguerite damit beschäftigt war, die Rechnung auszufertigen, wandte Frau Marty den Kopf halb, blinzelte nach Claire hin und sagte zu Frau Desforges:

»Die da ist die neueste Laune von Herrn Mouret.«

Frau Desforges betrachtete überrascht Claire, dann blickte sie auf Denise und erwiderte:

»Nein, nicht die Große, die Kleine ist's!«

Da Frau Marty nicht wagte, bei ihrer Behauptung zu bleiben, fuhr Frau Desforges laut fort, mit der ganzen Verachtung einer großen Dame für ein Stubenmädchen:

»Vielleicht auch die Kleine und die Große, alle, die nur wollen!« Das mußte Denise hören. Sie wurde blaß und richtete ihre großen, klaren Augen auf die Kundin, die sie so beleidigte, ohne daß sie sie überhaupt kannte; es war ohne Zweifel die Dame, von der man ihr erzählt hatte, die Freundin, die der Chef außerhalb des Hauses besuchte. In dem Blick, den die beiden austauschten, lag auf Denises Seite so viel traurige Würde, so viel Freimut und Unschuld, daß Henriette verlegen dastand.

»Da Sie nichts für mich haben«, sagte sie plötzlich, »führen Sie mich zu den Kleidern und Kostümen.«

»Ich gehe mit Ihnen«, rief Frau Marty, »ich will ein Kostüm für Valentine aussuchen.«

Marguerite nahm das Rollgestell und zog es hinter sich her; Denise trug nur die wenigen Meter Stoff, die Frau Desforges gekauft hatte. Da Kleider und Kostüme sich jetzt im zweiten Stock befanden, am anderen Ende des Hauses, hatte man bis dahin eine ganze Reise zu machen.

Schon in der Wäscheabteilung begann Frau Desforges sich zu beklagen: Lächerlich seien diese Basare, meinte sie, wo man zwei Kilometer laufen müsse, um einen Artikel zu finden. Auch Frau Marty jammerte über Müdigkeit; trotzdem blieb sie bei allem und jedem stehen und kaufte nacheinander ein weißes Mieder, dann einen Pelzmuff, der zu dieser Jahreszeit billig abgegeben wurde, und schließlich russische Spitzen, mit denen man jetzt Tischwäsche besetzte. All dies wurde auf das Rollgestell gelegt, die Pakete türmten sich immer höher.

 

»Hier bitte weiter, gnädige Frau«, sagte Denise unverdrossen nach jedem Halt.

»Das ist doch albern!« rief Frau Desforges. »Wir werden nie ans Ziel kommen. Warum hat man die Kleider und Kostüme nicht bei der Konfektion gelassen! Ein solcher Wirrwarr!«

Frau Marty aber wiederholte ein ums andere Mal:

»Mein Gott, was wird mein Mann dazu sagen? Sie haben recht, es herrscht keine Ordnung in diesem Haus, man verliert ja völlig den Kopf und kauft lauter dummes Zeug!«

Auf dem mittleren Treppenabsatz war kaum mehr durchzukommen. Hier hatte Mouret eine Unmenge von Pariser Kleinkram aufhäufen lassen, Becher von vergoldetem Zinn, Reisebestecke, Likörgarnituren und dergleichen, dazu allerlei chinesische und japanische Raritäten, billige Kleinigkeiten, die man sich aus den Händen riß. Es war ein unerhörter Erfolg, und er träumte schon davon, diesen Geschäftszweig auszudehnen. Während zwei Verkäufer das Rollgestell in den zweiten Stock hinaufschleppten, kaufte Frau Marty sechs Elfenbeinknöpfe, einige Mäuse aus Seide und einen emaillierten Streichholzbehälter.

Im zweiten Stock begann die Trödelei von neuem. Denise, die schon seit dem Morgen in ähnlicher Weise die Käuferinnen spazierenführte, vermochte sich kaum mehr auf den Beinen zu halten, aber sie bewahrte ihre Haltung und ihre Höflichkeit. In der Abteilung für Möbelstoffe mußte sie abermals auf die Damen warten, weil Frau Marty sich von einem entzückend schönen Leinen nicht trennen konnte. Bei den Möbeln weckte ein Arbeitstischchen ihre Begierde. Ihre Hände zitterten, und sie flehte Frau Desforges an, sie möge sie doch daran hindern, noch mehr Geld auszugeben. In der Abteilung für Teppiche begegneten sie Frau Guibal, die hier ihre ganze Sammlung von orientalischen Vorhängen, die sie vor fünf Tagen gekauft hatte, zurückgab. Der Verkäufer, ein großer, kräftiger junger Mann, war natürlich entsetzt, da ihn dies um seine Provision brachte. Er suchte Frau Guibal in Verlegenheit zu bringen, denn er vermutete eine unsaubere Geschichte. Es kam oft vor, daß eine Kundin zum Beispiel zu einem Ball im »Paradies der Damen« die verschiedensten Ausstattungsgegenstände kaufte, um sich die Kosten für die Dekoration zu sparen, und sie anschließend einfach wiederbrachte. Die gnädige Frau müsse doch ihre Gründe haben, die Vorhänge zurückzugeben, meinte er; wenn das Muster oder die Farbe nicht passe, wolle er gern etwas anderes vorlegen. Er habe eine reiche Auswahl in diesen Artikeln. Aber auf alle diese Bemerkungen erwiderte Frau Guibal ruhig und fest, daß die Vorhänge ihr eben nicht gefielen; sie lehnte es ab, eine weitere Erklärung zu geben, und wollte auch keine anderen sehen. Er mußte sich fügen, denn die Verkäufer hatten bestimmte Weisung, die Waren zurückzunehmen, selbst wenn sie merken sollten, daß sie gebraucht waren.

Als die drei Damen miteinander fortgingen und Frau Marty zu dem Arbeitstisch zurückkehrte, den sie nicht benötigte und doch so gern gekauft hätte, sagte Frau Guibal seelenruhig:

»Dann nehmen Sie ihn doch und geben Sie ihn später zurück. Sie haben ja gesehen: nichts leichter als das. Lassen Sie ihn nur zu sich nach Hause schaffen. Man stellt ihn in den Salon, man sieht sich satt an ihm, und wenn man seiner überdrüssig ist, gibt man ihn zurück.«

»Das ist ein Gedanke!« rief Frau Marty. »Wenn mein Mann darüber allzu sehr erbost sein sollte, werde ich überhaupt alles zurückgeben!«

Damit hatte sie eine Entschuldigung für alles. Nun rechnete sie gar nicht mehr, kaufte alles zusammen, was ihr gefiel, insgeheim entschlossen, es auch zu behalten, denn sie gehörte nicht zu den Frauen, die wieder hergaben, was sie einmal besaßen.

Endlich gelangten sie in die Abteilung für Kleider und Kostüme. Als aber Denise einer der Verkäuferinnen den von Frau Desforges gekauften Stoff übergeben wollte, schien diese sich anders zu besinnen und erklärte, daß sie doch einen der Reisemäntel, den hellgrauen mit der Kapuze, nehmen wolle. Denise mußte also warten, um sie zur Konfektion zurückzuführen. Sie ersah aus den Launen der überheblichen Kundin nur zu gut, daß Frau Desforges sie mit Absicht wie einen Dienstboten behandelte; allein sie bewahrte trotz des Sturms, der in ihr tobte, und trotz ihres empörten Stolzes ihre ruhige Haltung. Frau Desforges kaufte übrigens bei den Kleidern und Kostümen nichts. Also schlenderten die Damen weiter, immer von Denise geführt. Man sah sie in allen Abteilungen, auf den Treppen, längs der Galerien. Jeden Augenblick trafen sie Bekannte, die sie aufhielten. So kam es, daß sie in der Nähe des Lesesaals Frau Bourdelais und ihren drei Kindern begegneten. Die Kleinen waren ebenfalls beladen: Madeleine hatte für sich ein Kleid unterm Arm, Edmond trug einen großen Schuhkarton, während der Jüngste, Lucien, ein neues Käppi aufhatte.

»Du auch!« sagte Frau Desforges lachend zu ihrer alten Pensionatsfreundin.

»Sprich mir nicht davon!« rief Frau Bourdelais. »Ich bin wütend … Jetzt fangen sie uns mit diesen kleinen Wesen! Du weißt es ja: für mich selber mache ich solche Dummheiten nicht. Aber wie willst du den Kindern widerstehen, die nach allem greifen? Ich wollte sie spazierenführen — und sieh da, schon kaufe ich das Haus leer!«

Mouret, der noch immer in Gesellschaft von Vallagnosc und Herrn von Boves dort stand, hörte es mit lächelnder Miene. Sie bemerkte ihn und beklagte sich heiter, aber nicht ohne einen Anflug wirklicher Gereiztheit über die Fallen, die man der Zärtlichkeit der Mütter stellte. Der Gedanke, daß sie der Macht der Reklame unterlegen war, regte sie auf, und er, immer lächelnd, verneigte sich und freute sich dieses Triumphes.

Herr von Boves hatte es im Nu fertiggebracht, sich Frau Guibal wieder zu nähern, und versuchte nun, Vallagnosc ein zweites Mal abzuschütteln; aber dieser, der lärmenden Unruhe müde, beeilte sich, den Grafen einzuholen. Denise blieb abermals stehen, um auf die Damen zu warten. Sie hatte sich abgewandt, und auch Mouret tat, als sähe er sie nicht. Von nun an zweifelte Frau Desforges mit dem feinen Sinn der eifersüchtigen Frau nicht mehr. Während er sie begrüßte und in der Weise des artigen Hausherrn mit ihr plauderte, sann sie nach und überlegte, wie sie ihn seines Verrats überfuhren könne.

Inzwischen gelangten Herr von Boves und Vallagnosc, die mit Madame Guibal vorangingen, zu den Spitzen. Dort saßen im Hintergrund zwei Damen und ließen sich von Deloche Chantillyspitzen vorlegen, ohne etwas zu kaufen.

»Sieh an!« rief Vallagnosc sehr erstaunt, »Sie sagten doch, Frau von Boves sei unwohl. Dahinten sitzt sie ja vor dem Tisch mit Fräulein Blanche!«

Der Graf konnte seinen Schrecken nicht unterdrücken und warf einen Seitenblick auf Frau Guibal.

»Tatsächlich!« sagte er.

»Ich glaube, die Damen richten Sie zugrunde«, bemerkte Vallagnosc, vergnügt über dieses Zusammentreffen.

Herr von Boves winkte ab mit der Gebärde eines Mannes, welcher der Besonnenheit seiner Frau um so sicherer ist, als er ihr nicht einen Heller gibt. Nachdem Frau von Boves mit ihrer Tochter nach allen Richtungen herumgestreift war, ohne etwas zu kaufen, war sie endlich in einem Anfall unbefriedigten Verlangens bei den Spitzen gelandet. Sie wühlte in dem Haufen, ihre Hände wurden feucht, sie glühte am ganzen Körper. Als ihre Tochter gerade den Kopf umwandte und der Verkäufer sich einen Augenblick entfernte, wollte sie plötzlich ein Stück Alençonspitze unter ihren Mantel gleiten lassen. Aber sie erschrak und ließ das Stück wieder los, als sie hinter sich die vergnügte Stimme Vallagnoscs sagen hörte:

»Hier überraschen wir Sie also, gnädige Frau!«

Einige Sekunden blieb sie stumm, unfähig, sich zu rühren. Dann erklärte sie, daß sie sich besser gefühlt habe und an die Luft gehen wollte. Und als sie ihren Mann mit Frau Guibal bemerkte, erholte sie sich vollends wieder; sie blickte die beiden mit so würdevoller Miene an, daß die andere sagen zu müssen glaubte: