50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

»Dieser widerliche Kerl! Er lügt, hören Sie, er lügt! Ich kenne sie! Ich weiß es ganz genau … Sie hat nur für einen Mann in ihrem Leben etwas empfunden, das war Hutin, und der hat nicht einmal etwas gewußt davon; er kann sich nicht rühmen, sie auch nur mit einem Finger berührt zu haben!«

Das ganze Geschäft belustigte sich nun über diesen Streit, von dem die übertriebensten Schilderungen gegeben wurden, als die Geschichte von dem Brief Mourets die Runde machte. Liénard hatte sie zunächst einem Seidenverkäufer anvertraut. In dieser Abteilung ging die Inventur rasch vonstatten. Favier und zwei Angestellte leerten die Fächer und reichten die Stoffe Hutin, der mitten auf einem Tisch stehend die Angaben auf den Auszeichnungsanhängern ausrief. Dann warf er die Stücke zur Erde. Nach und nach bedeckten sie das ganze Parkett und bildeten einen immer größeren Haufen. Gerade rief der Zweite: »Phantasieseide, kleinkariert, einundzwanzig Meter zu sechs Franken fünfzig!«

Das Stück wanderte zu den übrigen auf den Boden, und Hutin setzte das Gespräch fort, das er mit Favier begonnen hatte.

»Also er wollte Sie prügeln?«

»Freilich, ja! … Es war wohl der Mühe wert, mich Lügen zu strafen! Die Kleine hat soeben einen Brief vom Chef erhalten, der sie zum Essen einlädt, man spricht schon im ganzen Haus davon.«

»Wie, ist die Sache nicht längst soweit?«

Favier reichte ihm ein neues Stück.

»Nicht wahr, man hätte die Hand dafür ins Feuer gelegt! Das schien doch eine uralte Geschichte zu sein.«

»Dasselbe, fünfundzwanzig Meter!« schrie Hutin dazwischen. Man hörte das Stück dumpf zur Erde fallen. Dann fuhr er leise fort:

»Sie wissen doch, sie hat da drüben auch nicht schlecht gelebt bei dem alten Narren Bourras … «

Jetzt beteiligte sich die ganze Abteilung an der Unterhaltung, ohne daß deshalb die Arbeit gelitten hätte. Bouthemont selbst konnte sich nicht enthalten, einen abgeschmackten Scherz zu wagen. Albert, der heute hier aushalf, versicherte, er habe die Zweite aus der Konfektionsabteilung mit zwei Soldaten gesehen. Eben kam Mignot herab mit den zwanzig Franken, die er sich geborgt hatte. Er blieb bei Albert stehen, steckte ihm ein Zehnfrankenstück zu. und besprach mit ihm ein Stelldichein für den Abend; als auch er die Geschichte mit dem Brief erfuhr, machte er einen so derben Witz, daß Bouthemont sich endlich genötigt sah, dazwischenzutreten.

»Genug, meine Herren, das geht uns nichts an. Vorwärts, Herr Hutin!«

»Phantasieseide, kleinkariert, zweiunddreißig Meter zu sechs Franken fünfzig!« rief dieser.

Wieder fuhren die Federn fleißig über das Papier, die notierten Stücke fielen zu Boden, der Haufen wurde immer größer. Die Liste der Phantasieseide wollte kein Ende nehmen. Favier bemerkte halblaut, das sei ja ein prächtiger Vorrat; die Geschäftsleitung werde nicht sonderlich entzückt sein. Dieser dumme Bouthemont sei vielleicht der beste Einkäufer in Paris, aber als Verkäufer sei er nicht viel wert. Hutin lächelte entzückt und gab mit einem Kopfnicken seine Zustimmung zu erkennen, denn nachdem ausgerechnet er Bouthemont beim »Paradies der Damen« eingeführt hatte, um Robineau zu verdrängen, unterminierte er nun dessen Posten, um ihn für sich selbst zu erlangen. Es war der gleiche Krieg wie ehemals, gemeine Verleumdungen, die man den Vorgesetzten zuflüsterte, übertriebener Eifer, um den eigenen Wert besser hervortreten zu lassen, kurz, ein ganz hinterhältiger Feldzug.

Favier hinwiederum, gegen den Hutin nun von neuem sehr herablassend war, wartete nur darauf, daß der andere Bouthemont verschluckte, um dann seinerseits Hutin aufzufressen. Er hoffte, den Platz des Zweiten zu erhalten, falls es Hutin gelang, Bouthemont zu verdrängen. Dann würde man schon sehen.

Sie unterhielten sich weiter von den voraussichtlichen Gehaltserhöhungen, ohne deswegen ihre Arbeit zu unterbrechen. Man schätzte die Einkünfte Bouthemonts dieses Jahr auf dreißigtausend Franken; Hutin würde mehr als zehntausend bekommen, Favier rechnete einschließlich Provision mit fünftausendfünfhundert. Die Abteilung machte von Jahr zu Jahr bessere Geschäfte, und die Angestellten stiegen demzufolge in ihren Bezügen immer höher.

»Sind wir noch nicht fertig mit diesen Phantasieseiden?« rief Bouthemont ärgerlich. »Wir haben aber auch einen sauberen Frühling dieses Jahr! Nichts als Regen! Alles kauft schwarze Seide.«

Sein breites, sonst so vergnügtes Gesicht verdüsterte sich; er sah den Haufen auf der Erde immer größer werden, während Hutin fortfuhr, mit heller, triumphierender Stimme auszurufen:

»Phantasieseide, kleinkariert, achtundzwanzig Meter zu sechs Franken fünfzig!«

Es war noch ein ganzes Fach voll da. Favier war müde und beeilte sich darum nicht sehr. Während er Hutin die letzten Stücke reichte, sagte er leise:

»Ich habe ganz vergessen, Ihnen zu erzählen: man spricht davon, daß die Zweite der Konfektionsabteilung in Sie vernarrt gewesen sei.«

Der junge Mann war sehr überrascht.

»Wie, was?« fragte er.

»Ja, dieser Gimpel Deloche hat das Geheimnis verraten. Ich erinnere mich aber jetzt, daß sie Ihnen früher immer auf der Spur war.«

Seit Hutin zum Zweiten aufgerückt war, gab er sich nicht mehr mit seinen Tingeltangelsängerinnen ab, sondern prahlte, daß er jetzt mit Gouvernanten und Lehrerinnen verkehre. Obwohl er sich sehr geschmeichelt fühlte, erwiderte er mit geringschätziger Miene:

»Ich mag die Weiber lieber etwas mehr gepolstert. Und dann gehe ich nicht mit der erstbesten wie unser Herr Chef.«

Er unterbrach sich, um auszurufen:

»Weiße Seide, fünfunddreißig Meter zu acht Franken fünfundsiebzig!«

»Ah, endlich!« murmelte Bouthemont erleichtert.

Gerade wurde eine Glocke geläutet: es ging zum zweiten Tisch, dem auch Favier angehörte. Er stieg von der Leiter herab, und ein anderer nahm seine Stelle ein. In allen Abteilungen war mittlerweile der Boden mit Waren bedeckt; die Fächer, die Kartons, die Schränke leerten sich allmählich, während die erfaßten Artikel auf allen Seiten sich häuften und unter den Füßen und zwischen den Tischen unaufhörlich anwuchsen. Dazwischen tönte das fortwährende Geschrei der Stimmen, die Zahlen um Zahlen ausriefen.

Favier arbeitete sich mühsam zwischen den Warenhaufen hindurch und begab sich in die Speisesäle, die seit der Erweiterung des Hauses in das vierte Stockwerk des Neubaus verlegt waren. Vor ihm gingen Deloche und Liénard die Treppe hinauf; ihm auf dem Fuß folgte Mignot.

»Alle Wetter!« rief Favier, als sie vor der Tafel mit der Speisekarte standen, »man sieht, daß heute Inventur ist! Ein wahres Fest! Huhn oder Hammelkeulenschnitten und Artischocken in Öl! Die Hammelkeule wird schön hinten runterfallen.«

Mignot seinerseits bemerkte höhnisch:

»Da scheint irgendwo die Geflügelpest ausgebrochen zu sein.«

Deloche und Liénard hatten inzwischen ihre Portionen genommen und gingen in den Speisesaal; Favier neigte sich zum Schalter hinunter und rief laut:

»Huhn!«

Allein er mußte warten, denn einer der Küchenjungen, der das Geflügel zerlegte, hatte sich in den Finger geschnitten.

»Huhn!« wiederholte Favier ungeduldig.

Dann wandte er sich zu Mignot und sagte:

»Da hat sich einer in den Finger geschnitten; ekelhaft, so was!«

Nach einer Weile erschien der Koch mit einer Pfanne und spießte ihm einen Schenkel auf.

»Endlich!« murmelte Favier.

Den Speisesaal der Verkäufer bildete jetzt ein ungeheurer Saal, in dem fünfhundert Gedecke bequem Platz fanden. Sie waren auf langen, parallel stehenden Tafeln aufgelegt, an den beiden Enden des Raumes standen die Tische für die Inspektoren und die Abteilungsleiter, in der Mitte befand sich ein Büfett für zusätzliche Speisen. Große Fenster rechts und links ließen volles, helles Licht herein. An den Wänden bildeten die Serviettenschränke den einzigen Schmuck. An diesen Speisesaal stieß ein anderer, der für die Laufburschen und die Kutscher bestimmt war, wo es aber keine regelmäßigen Mahlzeiten gab; die Leute wurden bedient, wie sie kamen.

»Wie, Mignot, Sie haben auch einen Schenkel?« sagte Favier, als sie sich an einem der Tische einander gegenüber niedergelassen hatten.

Auch die anderen Angestellten trafen mittlerweile ein und nahmen ringsum Platz. Es war kein Tischtuch aufgelegt, und die Teller gaben ein dumpfes Geklapper auf den eichenen Tischen. Alle waren erstaunt, denn die Anzahl der verteilten Schenkel war in der Tat sehr groß.

»Das ist wirklich ein merkwürdiges Geflügel, das nichts als Beine hat«, bemerkte Mignot.

Diejenigen, die Rumpfstücke bekommen hatten, ärgerten sich, und doch war das Essen seit der Neueröffnung weit besser geworden. Moutet hatte keinen Vertrag mehr mit einem Unternehmer, sondern führte die Küche selbst; er hatte daraus eine Abteilung gemacht wie die übrigen, mit einem Leiter, mehreren Gehilfen und einem Inspektor. Und wenn die Kost jetzt größere Auslagen verursachte, so arbeitete dafür das besser genährte Personal auch mehr. Diese wohlberechnete Menschlichkeit hatte Bourdoncle ganz aus der Fassung gebracht.

Deloche saß zwischen Baugé und Liénard, Favier fast gegenüber. Sie schleuderten einander gehässige Blicke zu. Ihre Nachbarn flüsterten über den Streit vom Tag vorher. Schließlich lachte alles über das Mißgeschick Deloches, der immer am hungrigsten war und immer das schlechteste Stück bekam. Diesmal hatte er einen Hals erwischt.

Ruhig und still ließ er diese Scherze über sich ergehen; er verschlang große Bissen Brot, während er den Hühnerknochen abschabte mit der Sorgfalt eines Menschen, der den Wert eines Stückchens Fleisch zu schätzen weiß.

»Warum beschweren Sie sich nicht?« fragte Baugé.

 

Deloche zuckte die Achseln.

»Was nützt das?« sagte er, »Wenn man sich beschwert, wird es noch schlimmer.«

Es dauerte nicht lange, bis Favier wieder bei seinem Lieblingsthema war.

»Wissen Sie schon das Neueste?« sagte er zu seinem Nachbarn zur Rechten. »Er hat sie zum Essen eingeladen.«

Der ganze Tisch wußte es; man hatte seit dem Morgen bereits zum Überfluß davon gesprochen. Die gleichen Scherze gingen von Mund zu Mund. Deloche war wieder ganz blaß geworden. Er schaute die andern an; seine Augen hafteten schließlich auf Favier, der wiederholte:

»Wenn er sie noch nicht gehabt hat, so kriegt er sie jetzt. Und er ist nicht der erste, o nein! … «

Nun blickte er seinerseits auf Deloche, dann fügte er herausfordernd hinzu:

»Wer ein Freund von Knochen ist, kann sie für hundert Sous haben.«

Doch plötzlich duckte er den Kopf.

Deloche, einer unwiderstehlichen Regung nachgebend, schüttete ihm ein volles Glas Wein ins Gesicht.

»Schmutziger Lügner! Das hättest du schon gestern verdient!«

Jetzt gab es großes Aufsehen. Einige Tropfen Wein waren auf die Nachbarn gespritzt, Favier selbst waren nur die Haare ein wenig naß geworden. Alle waren wütend. Schlief Deloche denn mit ihr, daß er sie so in Schutz nahm? Dieser Narr! Er hätte ein paar Ohrfeigen verdient, damit er lernte, wie man sich in Gesellschaft benahm. Indessen wurde es bald wieder still, denn der Inspektor nahte, und es war überflüssig, daß er von diesem Streit erfuhr. Favier begnügte sich mit der Bemerkung:

»Das hätte einen schönen Tanz gegeben, wenn er mich richtig getroffen hätte.«

Schließlich ging die Sache in Sticheleien unter.

Deloche saß unbeweglich auf seinem Stuhl; er nahm keine Kenntnis von den Scherzen, die auf seine Kosten gemacht wurden, er bereute, was er getan hatte. Diese Leute hatten ganz recht: mit welchem Recht verteidigte er sie? Nun würde man das Schlimmste glauben. Er hätte sich am liebsten geohrfeigt, weil er Denise bloßgestellt hatte, indem er sie schützen wollte. Die Tränen traten ihm in die Augen. War es denn nicht auch seine Schuld, daß schon das ganze Haus von dem Brief sprach, den der Chef ihr geschrieben hatte? Er hörte sie rohe Witze reißen über diese Einladung und beschuldigte sich selbst; er hätte Pauline nicht vor Liénard sprechen lassen sollen. Er machte sich allein verantwortlich für alles.

»Warum haben Sie die Geschichte weitererzählt?« fragte er Liénard vorwurfsvoll. »Das war schlecht von Ihnen.«

»Ich habe sie nur einem oder zweien erzählt«, erwiderte Liénard, »und habe verlangt, sie sollten es für sich behalten. Aber man weiß nie, wie so etwas weiterläuft.«

Das Mahl war zu Ende: die Verkäufer saßen auf ihren Stühlen, harrten des Glockenzeichens und unterhielten sich. Der Lärm der Stimmen war so laut, daß die Glocke, als sie schließlich ertönte, nur von den bei der Tür Sitzenden gehört wurde. Allmählich erhoben sich alle und begaben sich in langer Reihe über den Flur wieder in die Geschäftsräume hinab.

Deloche war als einer der letzten fortgegangen, um die nicht enden wollenden Spötteleien nicht zu hören. Selbst Baugé war schon weg, der sonst immer der letzte war. Er machte gewöhnlich einen Umweg, um Pauline in dem Moment zu begegnen, da diese sich in den Speisesaal der Verkäuferinnen begab. Sie hatten dieses Manöver verabredet; es war das einzige Mittel, sich während der langen Arbeitsstunden kurz zu sehen.

Als sie sich an diesem Tag begegneten und sich in einem Winkel des Korridors eben herzhaft küßten, wurden sie von Denise überrascht, die ebenfalls zum Essen kam. Sie ging ziemlich unbeholfen wegen ihres schmerzenden Fußes.

»Oh, meine Liebe!« stammelte Pauline hoch errötend, »sagen Sie nichts, bitte!«

Selbst Baugé, dieser Koloß, zitterte an allen Gliedern wie ein kleiner Junge. Er flüsterte:

»Sie würden uns sonst hinauswerfen. Wenn auch unser Aufgebot schon bestellt ist, so begreifen diese Kerle doch nicht, daß man sich hier und da einen Kuß geben will.«

Sehr verlegen tat Denise, als habe sie gar nichts gesehen. Baugé entfloh gerade, als Deloche, der als letzter herabkam, erschien. Er wollte sich entschuldigen und stammelte allerlei, was Denise nicht sogleich begriff. Als er aber Pauline Vorwürfe machte, daß sie in Gegenwart Liénards gesprochen habe, und Pauline offensichtlich ein schlechtes Gewissen hatte, begriff Denise endlich das Geflüster, das schon seit dem Morgen hinter ihr herlief. Die Geschichte mit dem Brief ging um! Sie schrak wieder zusammen wie in dem Augenblick, als sie ihn erhalten hatte. Es war ihr, als stünde sie nackt und bloß vor all diesen Männern da.

»Ich wußte nicht, daß Liénard in der Nähe war«, stammelte Pauline. »Übrigens ist ja nichts Schlimmes dabei! … Läßt man die Leute eben reden; sie platzen ja alle nur vor Neid!«

»Ich bin Ihnen gar nicht böse, meine Liebe«, sagte Denise mit ihrer ruhigen Besonnenheit. »Sie haben nur die Wahrheit gesagt. Ich habe einen Brief erhalten, und es ist meine Sache, darauf zu antworten.«

Deloche entfernte sich tiefbekümmert, denn er entnahm daraus, daß Denise die Einladung annehmen und sich zum Abendessen einfinden werde.

Als Denise nach Tisch in die Konfektionsabteilung zurückkehrte, war Marguerite unter der Aufsicht von Frau Aurélie eben damit beschäftigt, die letzten Stücke auszurufen. Nun blieb nur noch die Kontrolle; um bei dieser Tätigkeit Ruhe zu haben, zog sich Frau Aurélie in die Stoffmusterabteilung zurück, wohin sie Denise mitnahm.

»Kommen Sie, wir wollen vergleichen; dann können Sie addieren.«

Allein da sie die Tür offenließ, um die Arbeitenden besser überwachen zu können, drang der Lärm herein, und man verstand auch in diesem Raum nur schwer. Es war ein großer, quadratischer Saal; die ganze Einrichtung bestand aus drei langen Tischen und zahllosen Stühlen. In einer Ecke stand die große Schneidemaschine für die Stoffmuster. Ganze Ballen wurden da zerschnitten; für sechzigtausend Franken wurden jährlich Probesendungen in alle Welt geschickt.

»Leiser, meine Damen«, rief von Zeit zu Zeit Frau Aurélie, die nicht hören konnte, was Denise ansagte.

Als das Vergleichen der ersten Listen beendet war, ließ Frau Aurélie Denise allein, damit sie ungestört addieren konnte. Sie kehrte aber bald wieder zurück und brachte Fräulein von Fontenailles mit, die Denise helfen sollte. Die Erscheinung der »Marquise« – wie Ciaire sie boshafterweise stets nannte – brachte die ganze Abteilung in Aufruhr. Man lachte und scherzte über Joseph; es fielen grausame Worte, die man durch die offene Tür hörte.

Plötzlich verstummte das Gelächter, die Arbeit nahm wieder ihren regelmäßigen Fortgang. Mouret machte von neuem seinen Rundgang durch die Abteilungen. Er war überrascht, Denise nicht in der Konfektionsabteilung zu finden, und winkte Frau Aurélie herbei; sie traten beiseite und sprachen leise miteinander. Er mußte sie wohl gefragt haben, denn sie wies mit den Augen nach dem Stoffmustersaal und schien ihm Bericht zu erstatten. Ohne Zweifel erzählte sie ihm, daß das Mädchen am Morgen geweint habe.

»Gut«, sagte Mouret dann laut. »Zeigen Sie mir die Listen!«

»Sie sind da drinnen«, erwiderte Frau Aurélie; »wir mußten uns vor dem Lärm zurückziehen.«

Er folgte ihr in den benachbarten Raum. Ciaire ließ sich durch das Manöver nicht täuschen; sie murmelte vor sich hin, es wäre doch besser, gleich ein Bett zu holen. Allein Marguerite warf ihr immer rascher die Kleidungsstücke zu, um sie zu beschäftigen und ihr den Mund zu schließen. War denn die Zweite nicht wirklich eine gute Kameradin? Ihre Privatangelegenheiten gingen keinen etwas an. Die ganze Abteilung verbündete sich stillschweigend. Lhomme und Joseph schrieben eifrig, über ihre Listen gebeugt, und schienen nichts zu hören. Der Inspektor Jouve, der Frau Aurélies Manöver sehr wohl bemerkt hatte, ging jetzt vor der Tür des Stoffmustersaales auf und ab mit den regelmäßigen Schritten einer Schildwache, die über die Herzensaffären eines Vorgesetzten wacht.

»Geben Sie Herrn Mouret die Listen«, sagte Frau Aurélie beim Eintreten.

Denise reichte die Listen hin und blieb stehen, die Augen ruhig zu ihm aufgeschlagen. Sie war beim Eintritt Mourets zusammengefahren, hatte sich aber gleich wieder gefaßt; sie war sehr blaß, doch sie hielt auf ihrem Posten aus. Mouret schien sich eine Weile ganz in die Ziffern zu versenken, ohne einen Blick für das Mädchen zu haben. Es herrschte Schweigen. Frau Aurélie trat schließlich zu Fräulein von Fontenailles, die nicht einmal den Kopf umgewandt hatte, und sagte ihr leise ins Ohr:

»Gehen Sie nur hinüber; Sie sind ans Rechnen nicht gewöhnt.«

Fräulein von Fontenailles erhob sich und ging in die Konfektionsabteilung, wo sie mit vielsagendem Getuschel empfangen wurde. Joseph, der die spöttischen Blicke der Mädchen auf sich ruhen fühlte, war so verlegen, daß er einen Fehler nach dem anderen machte. Claire hinwiederum war zwar froh über die unerwartete Hilfe, allein in ihrem Haß gegen alles Weibliche im Haus konnte sie es nicht lassen, Fräulein von Fontenailles mit allerlei Sticheleien zu kränken. War das blöd, sich in einen Arbeiter zu verlieben, wenn man Marquise war!

»Sehr gut! Sehr gut!« wiederholte inzwischen Mouret im Nebenraum, während er tat, als lese er aufmerksam die Listen.

Frau Aurélie war in größter Verlegenheit, wie sie sich unter einem passenden Vorwand entfernen sollte. Sie trippelte hin und her und war wütend darüber, daß ihr Mann nichts erfand, um sie hinauszurufen. Aber der war ja im Ernstfall nie zu etwas zu gebrauchen. Schließlich war Marguerite so schlau, sie um eine Auskunft zu bitten.

»Ich komme gleich«, erwiderte die Abteilungsleiterin.

Als sie somit ihre Würde gewahrt sah und in den Augen der sie beobachtenden Mädchen einen Vorwand hatte, ließ sie Mouret und Denise endlich allein; sie trat mit einer solch königlichen Miene aus der Tür, daß keine ihrer Untergebenen auch nur zu lächeln wagte.

Mouret legte die Listen langsam auf den Tisch. Er betrachtete das junge Mädchen, das sich wieder gesetzt hatte.

»Werden Sie kommen?« fragte er sie endlich halblaut.

»Nein«, erwiderte sie; »ich kann nicht. Meine Brüder sind heute abend bei meinem Onkel drüben; ich habe versprochen, mit ihnen zu essen.«

»Aber Ihr Fuß? Das Gehen macht Ihnen doch Schmerzen!«

»So weit kann ich schon gehen; ich fühle mich seit heute morgen besser.«

Bei dieser ruhigen Weigerung war er blaß geworden, seine Lippen zuckten nervös. Er hielt indessen an sich und sagte mit der Miene des wohlmeinenden Chefs, der sich einer Angestellten freundlich erweisen will:

»Und wenn ich Sie bitte? Sie wissen, wie sehr ich Sie schätze … «

Denise bewahrte ihre achtungsvolle Haltung und antwortete:

»Ich bin sehr gerührt von Ihrer Güte und danke Ihnen für Ihre Einladung. Aber ich kann nicht; ich wiederhole: meine Brüder erwarten mich heute abend.«

Sie wollte ihn durchaus nicht verstehen. Die Tür war offengeblieben, und sie hatte das Gefühl, als dränge das ganze Geschäft sie, ja zu sagen. Pauline hatte sie wie ein dummes Gänschen behandelt, und die anderen würden sich gewiß über sie lustig machen, weil sie diese Einladung ausschlug. Frau Aurélie, die so taktvoll hinausgegangen war; Marguerite, deren Stimme sie immer lauter werden hörte; Lhomme, der ihr unbeweglich und verschwiegen den Rücken zukehrte: sie alle wollten ihren Fall, alle drängten sie sie dem Chef in die Arme.

Eine Weile schwiegen sie. Dann fragte Mouret:

»Wann werden Sie kommen? Morgen?«

Diese einfache Frage versetzte Denise in arge Verlegenheit. Sie verlor einen Augenblick ihre Ruhe und stotterte:

»Ich weiß nicht … ich kann nicht … «

Er lächelte und versuchte ihre Hand zu fassen, die sie ihm aber entzog.

»Was fürchten Sie denn?« fragte er.

Da blickte sie ihm gerade ins Gesicht und antwortete lächelnd und fest:

»Ich fürchte gar nichts, Herr Mouret … Aber man tut doch nur, was man will, und ich will nicht!«

Wieder schwieg sie, als sie zu ihrer Überraschung ein Knarren hörte. Sie wandte sich um und sah, wie die Tür sich langsam schloß. Es war der Inspektor Jouve, der es auf sich genommen hatte, sie zuzumachen; die Türen gehörten zu seinem Ressort, keine durfte offenbleiben. Niemand schien etwas bemerkt zu haben, nur Claire flüsterte Fräulein von Fontenailles, in deren Gesicht keine Wimper zuckte, ein freches Wort ins Ohr.

Mittlerweile hatte Denise sich erhoben. Da sagte Mouret mit leiser und bebender Stimme:

 

»Aber ich liebe Sie doch; Sie wissen es seit langer Zeit, treiben Sie kein grausames Spiel mit mir, als wüßten Sie es nicht … Haben Sie keine Angst. Ich hatte schon zwanzigmal die Absicht, Sie in mein Arbeitszimmer zu rufen. Dort wären wir allein gewesen, ich hätte nur den Riegel vorzuschieben brauchen. Aber ich wollte nicht. Sie sehen ja, daß ich hier mit Ihnen spreche, wo jeder hereinkommen kann. Ich liebe Sie, Denise!«

Sie stand totenblaß vor ihm und hörte ihn an, während sie ihm immer noch ins Gesicht blickte.

»Warum weigern Sie sich? Haben Sie keine Wünsche? Ihre Brüder sind Ihnen doch eine schwere Last. Alles, was Sie von mir verlangen würden –«

Sie unterbrach ihn:

»Danke, ich verdiene jetzt mehr, als ich brauche.«

»Aber ich biete Ihnen alle Freiheit, ein Leben voll Vergnügen und Luxus, ich will Ihnen eine eigene Wohnung einrichten, ein kleines Vermögen schenken!«

»Nein, danke, ich würde mich langweilen, wenn ich nichts zu tun hätte. Ich war noch nicht zehn Jahre alt, als ich mir schon selbst meinen Lebensunterhalt verdiente.«

Er machte eine verzweifelte Bewegung; das war die erste, die ihm nicht nachgab. Er brauchte sich nur zu bücken, um die anderen aufzulesen, alle harrten sie als willfährige Dienerinnen seiner Launen, und diese eine sagte nein, ohne auch nur einen vernünftigen Grund anzugeben. Sein so lange zurückgehaltenes, durch den Widerstand nur noch mehr aufgestacheltes Verlangen brach jäh hervor. Vielleicht hatte er ihr nicht genug geboten? Er verdoppelte sein Anerbieten, er drang noch mehr in sie.

»Nein, nein, ich danke Ihnen«, erwiderte sie immer wieder.

Da stieß er wie einen Verzweiflungsschrei hervor:

»Sehen Sie denn nicht, daß ich leide? Ja, es ist albern, aber ich leide wie ein Kind!«

Seine Augen waren von Tränen feucht. Von neuem schwiegen sie; hinter der geschlossenen Tür hörte man das gedämpfte Geräusch der Inventurarbeiten.

»Und wenn ich es doch so gern möchte!« sagte er mit bebender Stimme und ergriff ihre Hände.

Sie überließ sie ihm, und ihre Blicke wurden matt, ihre Kräfte schwanden dahin. Von den warmen Händen dieses Mannes strömte eine Glut aus, die ihren ganzen Körper erfüllte und eine himmlische Schlaffheit erzeugte. Mein Gott, wie sehr liebte sie ihn, welche Wonne wäre es für sie gewesen, sich an seinen Hals zu werfen und an seiner Brust zu ruhen!

»Ich will es, ich will es!« wiederholte er ganz außer sich; »ich erwarte Sie heute abend, oder ich werde Maßnahmen ergreifen … «

Er wurde grob. Sie stieß einen leisen Schrei aus; der Schmerz, den sie in den Handknöcheln fühlte, gab ihr den Mut wieder. Mit einem kräftigen Stoß machte sie sich frei. Hoch aufgerichtet sagte sie:

»Nein, lassen Sie mich, ich bin keine Claire, die man am andern Tag wieder stehen lassen kann. Übrigens lieben Sie ja eine Frau, diese Dame, die zuweilen hierherkommt. Bleiben Sie bei ihr, ich will nicht teilen.«

Er stand starr vor Überraschung; was sagte sie da, was wollte sie? Niemals hatten die Mädchen, die er in den verschiedenen Abteilungen aufgelesen hatte, danach gefragt, ob er sie allein liebte. Er hätte lachen mögen, aber diese keusch-stolze Haltung verwirrte ihn vollends.

»Machen Sie die Tür auf«, fuhr sie fort, »es gehört sich nicht, daß wir hier so eingeschlossen sind.«

Er gehorchte mit hämmernden Schläfen und wußte nicht, wie er seine Erregung verbergen sollte. Er rief Frau Aurélie herbei und wurde wütend über den großen Vorrat an Umhängen; man müsse den Preis herabsetzen, sagte er, und zwar so lange, bis kein einziger mehr vorrätig sei. Das war eine Regel des Hauses, jedes Jahr wurde Auskehr gehalten; man verkaufte lieber mit sechzig Prozent Verlust, als daß man ein altes Modell oder einen abgelegten Stoff am Lager behielt.

Mittlerweile erwartete ihn Bourdoncle, vor der geschlossenen Tür durch Jouve zurückgehalten, der ihm mit ernster Miene ein Wort ins Ohr geflüstert hatte. Er war ungeduldig, hatte aber doch nicht gewagt, den Chef zu stören. War es möglich? An einem solchen Tag und mit einem so erbärmlichen Geschöpf! Als Mouret endlich herauskam, berichtete ihm Bourdoncle von den Phantasieseiden, deren Vorrat noch enorm sei. Es war eine Erleichterung für Mouret, sich so recht austoben zu können. Wo hatte dieser Bouthemont seinen Kopf? Er könne nicht dulden, erklärte er im Weggehen, daß ein Einkäufer so unvernünftig sei, weit über den Bedarf hinaus zu kaufen.

»Was hat er denn?« flüsterte Frau Aurélie, ganz verwirrt über seine Vorwürfe.

Auch die Verkäuferinnen betrachteten einander mit überraschten Mienen. Um sechs Uhr war die Inventur zu Ende. In den einzelnen Abteilungen war es allmählich still geworden, man hörte nur noch hier und da Stimmen, die sich die letzten Angaben zuriefen. Schränke, Regale und Kästen waren jetzt leer, nicht ein Meter Stoff, nicht ein einziger Artikel war auf seinem Platz geblieben. Die weiten Räume zeigten nur das Gerippe ihrer Einrichtung, so weit man blickte, nichts als Gestelle. Auf dem Fußboden dagegen türmten sich Waren für sechzehn Millionen Franken. Langsam fingen die Verkäufer an, alles wieder einzuräumen. Man hoffte, damit bis zehn Uhr fertig zu werden. Frau Aurélie, die als erste vom Essen zurückkam, brachte die Umsatzziffer des verflossenen Jahres mit: achtzig Millionen Franken, zehn Millionen mehr als im Vorjahr. Nur bei den Phantasieseiden hatte es einen Rückgang gegeben.

»Wenn Herr Mouret damit noch immer nicht zufrieden ist, weiß ich wirklich nicht, was er will. Da, sehen Sie ihn sich an, wie er mit wütender Miene an der großen Treppe steht!«

Alle beeilten sich, einen Blick auf ihn zu werfen; er stand in der Tat mit düsterem Gesicht über den Millionen, die zu seinen Füßen hingebreitet waren.

»Gnädige Frau«, sagte in diesem Augenblick Denise, »gestatten Sie, daß ich mich zurückziehe? Ich kann ja jetzt wegen meines kranken Beins doch nichts mehr helfen, und da ich heute abend bei meinem Onkel esse … «

Alle waren erstaunt. Wie, sie hatte nicht nachgegeben? Frau Aurélie zögerte; sie schien auf dem Punkt, ihr das Ausgehen zu verbieten. Claire dagegen zuckte mit geringschätziger Miene die Achseln, als wollte sie sagen: Laßt's gut sein! Die Sache ist doch sehr einfach: er will nichts mehr von ihr wissen!

Pauline stand gerade bei Deloche, als sie von dieser Entwicklung erfuhren. Die plötzliche Freude des jungen Mannes versetzte sie in heftigen Zorn. Das werde ihm wenig nützen, meinte sie. War er vielleicht gar glücklich darüber, daß ihre Freundin dumm genug war, ihr Glück zu verscherzen?

Die allgemeine Erregung griff selbst auf Bourdoncle über, der Mouret in seiner gereizten Vereinsamung nicht zu stören wagte und verstimmt und unruhig umherwanderte.

Mittlerweile ging Denise langsam nach unten, sich immer auf das Geländer stützend. Als sie an der kleinen Treppe links ankam, stieß sie auf eine Gruppe von Verkäufern, die noch immer ihren Spott trieben. Sie hörte ihren Namen nennen und begriff, daß man nach wie vor von ihrem Abenteuer sprach. Man hatte ihre Anwesenheit nicht bemerkt.

»Habt ihr so ein geziertes Getue schon gesehen?« rief Favier.

»Sie ist lasterhaft durch und durch. Ja, ich kenne jemanden, den sie mit Gewalt haben wollte!«

Dabei blickte er auf Hutin, der in seiner Würde als Zweiter sich einige Schritte entfernt hielt und sich in die Gespräche nicht einmengte. Aber er war so geschmeichelt von den neidischen Mienen der anderen, daß er zu murmeln geruhte:

»Ja, sie hat mir viel Verdruß gemacht!«

Zutiefst getroffen stützte sich Denise auf das Treppengeländer. Nun schien man sie bemerkt zu haben, denn die Verkäufer gingen lachend auseinander … Er hatte ganz recht; sie machte sich heute selber Vorwürfe über ihr unbesonnenes Benehmen von damals. Aber wie feig er war! Wie verachtete sie ihn jetzt! … Eine tiefe Verwirrung bemächtigte sich ihrer: war es nicht seltsam, daß sie soeben die Kraft gefunden hatte, einen angebeteten Mann zurückzuweisen, während sie seinerzeit vor diesem elenden Burschen, von dessen Liebe sie nur geträumt hatte, sich so schwach gefühlt hatte?