50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Am schlimmsten fühlte er seinen Jammer während seiner täglichen Besichtigung der Geschäftsräume. Eine solche Riesenmaschine aufgebaut zu haben, über eine derartige Welt zu herrschen und dabei langsam vor Schmerz zu vergehen, weil ein unbedeutendes, kleines Mädchen nicht wollte! … Er verachtete sich, daß er dieses Fiebers nicht Herr wurde. An manchen Tagen ekelte es ihn vor seiner Macht. Dann wieder hätte er sein Reich am liebsten noch weiter ausgedehnt, es so groß und mächtig werden lassen, daß sie sich ihm vielleicht in Furcht und Bewunderung von selbst ergeben hätte.

Aber seine Leiden sollten noch schlimmer werden. Er wurde eifersüchtig. Eines Tages hatte vor der üblichen Besprechung in seinem Kabinett Bourdoncle die Kühnheit besessen, ihm zu verstehen zu geben, daß die Kleine aus der Konfekionsabteilung sich über ihn lustig mache.

»Wieso?« fragte er und wurde blaß.

»Nun ja, sie hat sogar hier im Haus Liebhaber.«

Mouret lächelte gezwungen und sagte:

»Ich denke gar nicht mehr an sie, mein Lieber; Sie können ganz frei sprechen. Wer sind denn ihre Liebhaber?«

»Man behauptet, Hutin und außerdem ein Verkäufer aus der Spitzenabteilung, Deloche, dieser große, dumme Bursche. Ich kann nichts dazu sagen, denn ich habe sie nicht zusammen gesehen; aber es muß wohl stimmen, denn alles spricht davon.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Mouret tat, als ordnete er die Papiere auf seinem Schreibtisch, um das Zittern seiner Hände zu verbergen. Endlich sagte er, ohne aufzublicken:

»Man müßte Beweise haben, bringen Sie mir Beweise … Ich wiederhole Ihnen, daß ich mir gar nichts daraus mache, denn schließlich hat sie mich nur geärgert, aber wir dürfen in unserem Haus solche Dinge nicht dulden.«

Bourdoncle erwiderte nur:

»Seien Sie beruhigt, Sie sollen in Kürze Beweise haben. Ich werde schon aufpassen.«

Jetzt verlor Mouret vollends die Ruhe. Er fand nicht mehr den Mut, auf dieses Gespräch zurückzukommen, und lebte in fortwährender Erwartung einer Katastrophe. Seine Seelenqual machte ihn furchtbar, das ganze Haus zitterte vor ihm. Er nahm sich nicht einmal mehr die Mühe, sich hinter Bourdoncle zu verstecken, er vollstreckte die Urteile selbst, in einem nervösen Bedürfnis, sich zu rächen, seine Macht fühlen zu lassen, diese Macht, die nicht ausreichte, um ihm zur Befriedigung seines einzigen Wunsches zu verhelfen. Jeder seiner Besichtigungsgänge hatte ein Massaker zur Folge. Man konnte ihn nicht mehr auftauchen sehen, ohne daß eine Panik sich von Tisch zu Tisch verbreitete. Eben begann die tote Zeit des Winterhalbjahres, und er fegte sämtliche Abteilungen aus, häufte Opfer auf Opfer, stieß alle auf die Straße hinaus. Sein erster Gedanke war, Hutin und Deloche davonzujagen. Dann überlegte er, daß er, wenn er sie nicht behielt, niemals die Wahrheit erfahren würde, und so büßten die anderen für die beiden. Der gesamte Personalbestand geriet aus den Fugen. Wenn er danach am Abend allein in seinem Zimmer war, rannen ihm die hellen Tränen über die Wangen.

Besonders an einem Tag herrschte panischer Schrecken im ganzen Haus. Ein Inspektor glaubte bemerkt zu haben, daß der Handschuhverkäufer Mignot stehle. Fortwährend sah man Mädchen mit sonderbarem Benehmen um seinen Tisch herumstreichen; schließlich hatte man eine erwischt, die sich Busen und Hüften mit sechzig Paar Handschuhen ausgestopft hatte. Seitdem wurde eine strenge Überwachung organisiert, und man ertappte Mignot, wie er einer großen Blondine, einer ehemaligen Verkäuferin aus dem »Louvre«, die jetzt beschäftigungslos auf der Straße saß, den Diebstahl erleichterte. Das Verfahren war sehr einfach. Er tat, als probiere er ihr Handschuhe an, bis sie sich die Taschen vollgestopft hatte, und brachte sie dann zu einer Kasse, wo sie ein Paar Handschuhe bezahlte. Mouret stand eben in der Nähe. Gewöhnlich zog er es vor, sich in solche Vorfälle nicht einzumengen; so etwas war nichts Ungewöhnliches, denn trotz des im allgemeinen gut geregelten Gangs herrschte in einigen Abteilungen des »Paradieses der Damen« große Unordnung, und es verging kaum eine Woche, in der nicht ein Angestellter wegen Diebstahls davongejagt wurde. Die Geschäftsleitung zog es vor, diese kleinen Diebereien zu vertuschen, sie fand es überflüssig, deswegen die Polizei zu bemühen, denn dadurch wäre eine der bösen Schattenseiten der großen Warenhäuser ans Tageslicht gekommen. Heute aber wollte Mouret sich austoben, und dementsprechend behandelte er den hübschen Mignot, der zitternd, bleich und verstört vor ihm stand.

»Ich sollte die Polizei holen lassen!« schrie er ihn im Beisein der anderen Verkäufer an. »Antworten Sie mir: Wer ist dieses Frauenzimmer? Ich schwöre Ihnen, daß ich die Polizei rufen lasse, wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen.«

Man hatte die Schuldige weggeführt, zwei Verkäuferinnen durchsuchten sie. Mignot stammelte:

»Ich kenne sie nicht näher. Sie ist nur gekommen –«

»Lügen Sie doch nicht!« unterbrach ihn Mouret noch heftiger als zuvor. »Ist niemand da, der in der Sache Bescheid weiß? Ihr haltet alle zusammen! Das ist ja wie unter Räubern, so werden wir bestohlen und ausgeplündert! Man müßte jedem einzelnen die Taschen durchsuchen, wenn er fortgeht.«

Die Angestellten begannen zu murren. Einige Kunden, die Handschuhe kaufen wollten, blieben erschrocken und verstört stehen.

»Ruhe!« schrie Mouret wütend, »oder ich jage euch alle zum Teufel!«

Jetzt eilte Bourdoncle herbei, um einen Skandal zu verhüten. Er flüsterte Mouret einige Worte ins Ohr, die Geschichte schien eine ernste Wendung nehmen zu wollen; sie führten Mignot in das Aufsichtsbüro, das im Erdgeschoß in der Nähe der Tür nach der Place Gaillon lag. Hier war das Frauenzimmer gerade im Begriff, sich in aller Ruhe wieder anzuziehen. Als man energischer in sie gedrungen war, hatte sie Albert Lhommes Namen genannt. Mignot, von neuem befragt, verlor nun den Kopf und beteuerte schluchzend, er sei nicht schuld an der Sache; Albert schicke ihm seine Geliebten. Anfangs hatte er sie nur in der Weise unterstützt, daß er sie auf günstige Gelegenheiten aufmerksam machte, später, als er merkte, daß sie stahlen, war er schon zu sehr bloßgestellt, um die Geschäftsleitung zu benachrichtigen. Die Herren erfuhren jetzt eine ganze Reihe abgefeimter Diebstähle: angefangen von den Waren, die diese Dirnen unter ihren Röcken mitnahmen, und den Käufen, die die betreffenden Angestellten bei der Kasse nicht registrieren ließen und deren Preis sie dann mit dem Kassierer teilten, bis zu den vorgetäuschten Rückgaben, die man meldete, um das Geld dafür einzustecken. Seit vierzehn Monaten betrieben Mignot und mit ihm ohne Zweifel noch andere Verkäufer, die zu nennen er sich weigerte, an der Kasse Alberts dieses unsaubere Geschäft, und es waren dabei Summen unterschlagen worden, deren genaue Höhe wohl niemals festgestellt werden konnte.

Die Nachricht von dem Vorfall verbreitete sich rasch durch die Abteilungen; die ein schuldbeladenes Gewissen hatten, zitterten, aber auch die Ehrenhaftesten fürchteten eine allgemeine Säuberung. Man hatte Albert im Aufsichtsbüro verschwinden sehen. Dann war Lhomme nachgefolgt, hochrot im Gesicht, als bekäme er gleich einen Schlaganfall. Endlich war Frau Aurélie gerufen worden; sie trug trotz aller Schmach den Kopf hoch, war aber sehr blaß. Die Auseinandersetzung dauerte lange, niemand erfuhr etwas Näheres; doch erzählte man sich, die Direktrice der Konfektionsabteilung habe ihren Sohn geohrfeigt und der brave alte Vater habe geweint wie ein Kind, während der Chef ganz entgegen seinen Gewohnheiten geflucht habe wie ein Bierkutscher und die Schuldigen durchaus dem Gericht habe übergeben wollen. Indessen wurde der Skandal unterdrückt, nur Mignot wurde auf der Stelle davongejagt. Albert verschwand erst zwei Tage später; ohne Zweifel hatte seine Mutter erwirkt, daß man die Familie nicht durch seine fristlose Entlassung bloßstellte. Allein noch tagelang wirkte der Schrecken in allen Abteilungen nach. Mouret ging mit wütender Miene umher und mähte jeden nieder, der nur den Blick zu erheben wagte.

»Was stehen Sie hier herum und betrachten die Fliegen? Gehen Sie zur Kasse!«

Endlich brach das Gewitter doch über Hutin nieder. Favier, der zum Zweiten aufgerückt war, arbeitete jetzt gegen den andern, um ihn von seinem Posten zu verdrängen. Als eines Morgens Mouret durch die Seidenabteilung ging, blieb er überrascht stehen: Favier war damit beschäftigt, schwarzen Samt niedriger auszuzeichnen.

»Warum setzen Sie den Preis herab?« fragte er; »wer hat Ihnen den Auftrag gegeben?«

Favier, der seine Arbeit sehr auffällig verrichtet hatte, um die Aufmerksamkeit des vorübergehenden Chefs auf sich zu lenken, sagte scheinbar überrascht:

»Wer? Nun, Herr Hutin.«

»Herr Hutin? – Wo ist Herr Hutin?«

Man holte Hutin, der gerade in der Warenabnahme war, und es entspann sich eine erregte Auseinandersetzung. Wie? fragte Mouret, er setze eigenmächtig die Preise herab? Hutin war sehr erstaunt, als er das hörte; er habe mit Favier nur darüber gesprochen, erwiderte er, ohne ihm einen bestimmten Auftrag zu geben. Favier nahm die beleidigte Miene eines Untergebenen an, der in der unangenehmen Lage ist, seinem Vorgesetzten widersprechen zu müssen, aber dennoch den Fehler auf sich nimmt, um den anderen aus der Patsche zu ziehen. Damit wurde die Sache prompt noch schlimmer.

»Herr Hutin«, rief Mouret, »ich habe solche Eigenmächtigkeiten niemals geduldet! Wir allein setzen die Preise fest!«

Man war überrascht von dieser Schärfe, denn im Grunde konnte der Fehler doch wirklich einem Mißverständnis entsprungen sein. Es schien, als wollte der Chef Hutin seine ganze Strenge fühlen lassen, um sich an ihm zu rächen, weil er allgemein als Denises Geliebter galt.

»Ich hatte nur die Absicht«, wiederholte Hutin, »Ihnen diese Preisermäßigung vorzuschlagen, denn der schwarze Samt ist nicht gegangen, wie Sie wissen.«

 

Mouret wollte kurz abbrechen und sagte in erbittertem Ton:

»Es ist gut, wir werden die Angelegenheit prüfen, künftig aber lassen Sie sich solche Dinge nicht wieder einfallen, wenn Sie in unserem Haus bleiben wollen.«

Damit wandte er ihm den Rücken. Hutin war wie betäubt und mit Recht wütend; da gerade niemand anderer da war, dem er sein Herz hätte ausschütten können, als Favier, schwur er ihm, daß er dem brutalen Kerl demnächst seine Entlassung an den Kopf werfen wolle. Später sprach er aber nicht mehr davon, wegzugehen; er begnügte sich damit, all die schmutzigen Geschichten wieder aufzurühren, die über die Herren von der Geschäftsleitung im Umlauf waren. Favier seinerseits verteidigte sich und versicherte Hutin seiner wärmsten Teilnahme. Er hatte doch antworten müssen – das würde jeder einsehen; und wer hätte schon geglaubt, daß wegen einer solchen Kinderei so viel Krawall gemacht würde? Was war mit dem Chef in letzter Zeit bloß los, daß man ihm gar nichts mehr recht machen konnte?

»Was mit ihm ist?« sagte Hutin. »Das weiß doch jeder. Ist es denn meine Schuld, daß diese Dirne aus der Konfektionsabteilung ihn nicht mag? Daher weht der Wind! … Er weiß, daß ich mit ihr geschlafen habe, und das ist ihm nicht angenehm … Oder vielleicht will sie mich hinauswerfen lassen, weil ich ihr unbequem bin! … Kommt sie mir einmal in den Wurf, dann soll sie etwas von mir zu hören kriegen!«

Als Hutin zwei Tage später ins Atelier der Konfektionsabteilung hinaufstieg, um eine Arbeiterin zu empfehlen, sah er zu seiner großen Überraschung Denise und Deloche am anderen Ende des Ganges an eine Fensterbrüstung gelehnt und so ins Gespräch vertieft, daß sie nicht einmal den Kopf umwandten. Als er zu seinem Erstaunen bemerkte, daß Deloche weinte, kam ihm plötzlich der Gedanke, sie überraschen zu lassen. Geräuschlos zog er sich zurück. Auf der Treppe traf er Bourdoncle und Jouve. Er erzählte ihnen schnell ein Märchen von einer Tür, die oben aus den Angeln gerissen zu sein schien. Dies veranlaßte die beiden hinaufzugehen, und da sah Bourdoncle natürlich das Paar. Er sandte Jouve sofort zum Chef.

Es war dies ein verlorener Winkel in dem weiten Riesenbau. Denise war hier schon mehrmals Deloche begegnet, der offenbar auf sie gewartet hatte. Es gehörte zu ihren Pflichten als Zweite die Verbindung zwischen der Konfektionsabteilung und dem Atelier aufrechtzuhalten, wo übrigens nur Entwürfe und Änderungen gemacht wurden. Alle Augenblicke kam sie herauf, um ihre Anweisungen zu erteilen. Er paßte ständig auf wie ein Luchs, erfand immer wieder einen Vorwand und flitzte davon. Wenn sie ihn gleich darauf an der Tür des Ateliers traf, tat er überrascht und entschuldigte sich. Schließlich mußte sie über diese Begegnungen lachen, ja es sah aus, als gehe sie auf seine List ein. Sie zogen sich dann an das Fenster am Ende des Gangs zurück, stützten sich mit dem Ellbogen auf das Gesims und vergaßen sich in heiterem Geplauder, in endlosen Erinnerungen an die Heimat, an das Land ihrer Kindheit. Unter ihnen erstreckte sich das ungeheure Glasdach des Mittelbaus, und darüber hinaus sahen sie nichts als den Himmel, dessen flüchtige Wolken und zartes Blau sich in dem Glasdach widerspiegelten.

An diesem Tag sprach Deloche eben wieder von Valognes. Traumverloren standen sie da, wie ein Zauberbild schienen vor ihren Augen die Wiesen und Weiden des Cotentin zu erstehen, in einen leuchtenden Dunst gebadet, der den Horizont in zartem Grau verschwimmen ließ. Das Gesumme des rastlos tätigen Betriebs unter ihnen klang ihnen wie das Raunen des Windes, der vom Meer herüberkam, über die Gräser strich und in den Bäumen rauschte.

»Mein Gott, Fräulein Denise«, sagte Deloche endlich, »warum sind Sie nicht etwas freundlicher gegen mich? Ich liebe Sie so sehr!«

Die Tränen traten ihm in die Augen. Als sie ihn unterbrechen wollte, fuhr er lebhaft fort:

»Nein, lassen Sie es mich noch einmal sagen. Wir würden einander so gut verstehen: man hat doch immer etwas zu plaudern, wenn man aus der gleichen Gegend ist.«

Seine Stimme versagte, und sie konnte ihm endlich in sanftem Ton erwidern:

»Sie sind unvernünftig, Sie haben mir doch versprochen, nicht mehr davon zu reden … Es ist unmöglich. Ich bin Ihnen sehr gut, weil Sie ein braver Junge sind, aber ich will frei bleiben.«

»Ja, ja, ich weiß es«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Sie lieben mich nicht. Sie können es mir ruhig sagen, ich sehe es ja. Warum sollten Sie auch; an mir ist schließlich nichts, weshalb Sie mich liebgewinnen könnten. Eine glückliche Stunde hatte ich in meinem Leben, das war an jenem Abend, als ich Sie in Joinville traf. Sie erinnern sich doch noch? Als wir unter den schattigen Bäumen spazierengingen, fühlte ich einen Augenblick Ihren Arm in meinem zittern. Und ich war dumm genug, mir einzubilden –«

Sie unterbrach ihn von neuem. Ihr feines Ohr hatte den Schritt von Bourdoncle und Jouve am anderen Ende des Ganges wahrgenommen.

»Hören Sie? Es kommt jemand.«

»Nein«, sagte er und hielt sie zurück, als sie vom Fenster wegtreten wollte. »Das ist das Plätschern des Wassers in dem Behälter dort.«

Er fuhr in seinen schüchternen und einschmeichelnden Klagen fort. Der liebkosende Klang dieser zärtlichen Reden ließ sie wieder in ihre Träume versinken, sie hörte gar nicht mehr, was er sagte, ihre Blicke schweiften über die Dächer, die in der Sonne glänzten. Aus der Ferne vernahm man das dumpfe Tosen von Paris.

Als Denise aus ihrer Träumerei erwachte, sah sie, daß Deloche ihre Hand ergriffen hatte. Sein Gesicht war so verstört, daß sie nicht den Mut hatte, sich von ihm loszumachen.

»Verzeihen Sie mir«, murmelte er. »Es ist schon vorbei; ich wäre zu unglücklich, wenn Sie mir Ihre Freundschaft entziehen würden. Ich schwöre Ihnen, daß ich Ihnen etwas anderes sagen wollte. Ja, ich hatte mir vorgenommen, mich in das Unvermeidliche zu fügen, mich vernünftig zu benehmen … Ich sehe ja, wie es mir immer ergeht, und das wird nicht mehr besser: geschlagen zu Hause, geschlagen in Paris, überall geschlagen. Ich bin seit vier Jahren hier und nach wie vor der Letzte in der Abteilung … Ich wollte Ihnen sagen, Sie möchten sich meinetwegen keine Sorge machen. Seien Sie glücklich, lieben Sie einen andern; wenn Sie glücklich sind, werde auch ich glücklich sein. Ihr Glück wird auch das meine sein.«

Er konnte nicht weiter; gleichsam um sein Versprechen zu besiegeln, hatte er seine Lippen auf die Hand des jungen Mädchens gedrückt und küßte sie mit der Untergebenheit eines Sklaven. Sie war tief verwirrt und sagte voll schwesterlicher Zärtlichkeit:

»Mein armer Junge!«

Da schraken sie beide zusammen. Sie wandten sich um, Mouret stand vor ihnen.

Jouve hatte den Chef seit zehn Minuten in allen Räumen gesucht. Endlich hatte er ihn auf dem Bauplatz für die neue Fassade an der Rue du Dix-Décembre gefunden. Täglich verbrachte er hier viele Stunden, bemüht, sich in diese so lang erträumten Arbeiten zu versenken. Hier, mitten unter den Maurern und den Gerüstarbeitern, hatte er einen Zufluchtsort vor seinen Qualen gefunden. Er pflegte auf den Leitern emporzuklettern, besprach sich mit dem Architekten, stieg über Berge von Baumaterial hinweg und verschwand in den Kellern. Das Getöse der Maschinen, das Geschrei der Arbeiter betäubte ihn für kurze Zeit; doch in dem Maß, wie der Lärm des Bauplatzes sich hinter ihm verlor, erwachte von neuem das Leid im Innersten seines Herzens.

Heute hatte diese Zerstreuung ihm gerade wieder ein wenig von seiner alten Unbekümmertheit geschenkt, da kam Jouve ganz atemlos herbeigeeilt, um ihn zu holen.

Zuerst war er verdrossen über die Störung und meinte, man werde wohl einen Augenblick auf ihn warten können. Als der Inspektor ihm aber einige Worte ins Ohr geflüstert hatte, folgte er ihm in fieberhafter Hast. Nun war alles aus, die Mauer stürzte ein, noch ehe sie aufgerichtet war. Was nützte ihm dieser höchste Triumph seines Stolzes, wenn der bloße Name einer Frau, ihm leise zugeflüstert, ihn derart quälen konnte?

Oben befanden Bourdoncle und Jouve es für gut, zu verschwinden. Deloche entfloh, und Denise stand Mouret allein gegenüber; sie war blasser als sonst, blickte ihm aber frei und offen ins Gesicht.

»Folgen Sie mir, Fräulein«, sagte er mit harter Stimme.

Sie ging wortlos hinter ihm her die zwei Stockwerke hinab und durch die Möbel- und Teppichabteilung. Als sie vor seinem Arbeitszimmer ankamen, öffnete er die Tür.

»Treten Sie ein, Fräulein.«

Er schloß die Tür und ging zu seinem Schreibtisch. Sein neues Arbeitszimmer war mit größerem Luxus eingerichtet als das frühere, der grüne Rips war durch Samt ersetzt worden, eine Wand war vollständig von einem mit Elfenbein eingelegten Bücherregal ausgefüllt. An der Wand hing noch immer das Bild Frau Hédouins, einer jungen Frau mit schönem, sanftem Gesicht, die aus ihrem Goldrahmen herablächelte.

»Fräulein«, sagte er und suchte kühl und streng zu bleiben, »es gibt gewisse Dinge, die wir nicht dulden können. Eine anständige Aufführung ist in unserem Haus unerläßlich … «

Er hielt inne und suchte nach Worten, um dem aus seinem Innern aufsteigenden Zorn nicht nachzugeben. Wie, diesen Burschen liebte sie also, diesen kümmerlichen Verkäufer, das Gespött seiner Abteilung? Den Niedrigsten, den Ungeschicktesten von allen zog sie ihm, dem Chef, vor? Er hatte ja gesehen, wie sie ihm ihre Hand überlassen und er sie mit Küssen bedeckt hatte.

»Ich war sehr gut zu Ihnen, Fräulein«, fuhr er fort, »aber diesen Lohn habe ich von Ihnen nicht erwartet.«

Denise betrachtete, seit sie über die Schwelle getreten war, unablässig das Porträt von Frau Hédouin; trotz ihrer Verwirrung konnte sie die Augen von dem Bild nicht abwenden. Sooft sie das Zimmer der Geschäftsleitung betrat, kreuzten sich ihre Blicke mit denen von Frau Hédouin. Sie fürchtete sich ein wenig vor ihr, fand sie andererseits aber wieder sehr gütig.

»Sicher, Herr Mouret«, sagte sie sanft, »es war nicht recht von mir, daß ich mich dort oben aufgehalten habe, um zu plaudern, und ich bitte Sie um Verzeihung. Der junge Mann ist aus meiner Heimat.«

»Ich werde ihn davonjagen!« schrie Mouret, der all seinem Leid in diesem wütenden Ausruf Luft machte.

Verstört, wie er war, fiel er ganz aus der Rolle des Chefs, der eine Verkäuferin wegen eines Verstoßes gegen die Betriebsordnung zur Rechenschaft zu ziehen hat, und erging sich in heftigen Ausdrücken. Schämte sie sich nicht, sie, ein junges Mädchen, sich einem solchen Burschen hinzugeben? Dann kam er auf noch schwerere Anschuldigungen zu sprechen, er warf ihr Hutin vor und andere, und das alles in einer solchen Flut von Worten, daß sie sich nicht verteidigen konnte. Aber von nun an werde Ordnung herrschen, versicherte er, er werde alle mit Fußtritten hinausbefördern. Die strenge Auseinandersetzung, die er beabsichtigt hatte, verwandelte sich in eine wilde Eifersuchtsszene.

»Ja, Ihre Liebhaber! Man hat mir schon längst berichtet, daß Sie welche haben, aber ich war dumm genug, daran zu zweifeln … Ich allein habe nicht daran geglaubt, ich allein!«

Atemlos und benommen hörte Denise diese abscheulichen Vorwürfe an. Sie hatte anfangs gar nicht begriffen. Mein Gott, hielt er sie denn für eine Dirne? Bei einem sehr harten Wort wandte sie sich stillschweigend zur Tür; und da er sie mit einer Bewegung zurückhalten wollte, sagte sie:

»Lassen Sie mich, ich gehe; wenn Sie von mir glauben, was Sie da sagen, will ich keine Sekunde länger in Ihrem Haus bleiben.«

Da lief er zur Tür und stellte sich ihr in den Weg.

»Verteidigen Sie sich doch wenigstens, sagen Sie etwas!«

Sie stand aufrecht vor ihm und verharrte in eisigem Schweigen. In steigender Angst drang er mit Fragen in sie. Die stumme Würde dieses jungen Mädchens schien wieder einmal das wohlberechnete Spiel einer Frau zu sein, die in allen Winkelzügen der Verführungskunst bewandert ist.

»Sie sagen, er sei aus Ihrer Heimat. Sie sind einander dort vielleicht schon begegnet … Schwören Sie mir, daß zwischen Ihnen nichts vorgefallen ist!«

Als sie noch immer schwieg und die Tür öffnen wollte, um hinauszugehen, verlor er vollends den Kopf und überließ sich hemmungslos seiner Leidenschaft.

»Mein Gott, ich liebe Sie, ich liebe Sie!« rief er; »finden Sie denn ein Vergnügen daran, mich dermaßen zu quälen? Sehen Sie denn nicht, daß außer Ihnen gar nichts mehr für mich existiert? Daß alle Leute, von denen ich mit Ihnen spreche, mich nur Ihretwegen interessieren? Daß Sie allein es sind, die für mich in der Welt Bedeutung hat? Ich glaubte, Sie seien eifersüchtig, und habe Ihnen meine Vergnügungen geopfert. Man hat Ihnen gesagt, daß ich Geliebte habe; nun, ich habe keine mehr, ich komme kaum aus dem Haus. Habe ich Sie jener Dame nicht vorgezogen? Habe ich mit ihr nicht gebrochen, um Ihnen allein anzugehören? Ich warte noch immer auf Erkenntlichkeit, auf ein Wort des Dankes. Wenn Sie glauben, ich könnte vielleicht zu ihr zurückkehren, so dürfen Sie ganz ruhig sein; sie rächt sich, indem sie einem unserer früheren Angestellten behilflich ist, ein Konkurrenzunternehmen gegen mich ins Leben zu rufen! … Sagen Sie, muß ich erst vor Ihnen in die Knie sinken, um Ihr Herz zu rühren?«

 

So weit war es also gekommen: er, der seinen Verkäuferinnen nicht das kleinste Vergehen nachsah, der sie bei der geringsten Laune vor die Tür setzte, sah sich genötigt, eine von ihnen anzuflehen, sie möge nicht weggehen, ihn nicht in seinem Elend verlassen. Er verwehrte ihr die Tür, war bereit, ihr zu verzeihen, ja sich blind zu stellen, wenn sie ihn belügen wollte. Er sprach die Wahrheit, er war der Dirnen überdrüssig, die er hinter den Kulissen der kleinen Theater und in den Varietes aufgelesen hatte; er traf Claire nicht mehr, er setzte keinen Fuß in das Haus von Frau Desforges, wo jetzt Bouthemont herrschte und auf die Eröffnung seines neuen Warenhauses »Zu den vier Jahreszeiten« wartete, das bereits alle Zeitungen mit seiner Reklame füllte.

»Sagen Sie, muß ich zu Ihren Füßen niedersinken?« wiederholte er mit tränenerstickter Stimme.

Sie hielt ihn mit der Hand zurück und konnte ihre eigene Verwirrung kaum meistern angesichts dieses leidenschaftlichen Schmerzes.

»Es ist nicht recht von Ihnen, daß Sie sich so grämen«, antwortete sie endlich. »Ich schwöre Ihnen, daß all die abscheulichen Geschichten erlogen sind; der arme junge Mann hat sich ebensowenig strafbar gemacht wie ich selbst.«

Sie stand wieder in ihrer gewinnenden Offenheit da, ihre klaren Augen bückten ihn freimütig an.

»Es ist gut, ich glaube Ihnen«, murmelte er. »Ich werde niemanden von Ihren Freunden entlassen, da Sie sie alle in Schutz nehmen … Aber warum stoßen Sie mich zurück, wenn Sie niemand anderen lieben?«

Eine peinigende Verlegenheit, eine schamvolle Unruhe bemächtigte sich plötzlich des jungen Mädchens.

»Sie lieben jemanden, nicht wahr?« fragte er mit zitternder Stimme. »Sie können es mir sagen, ich habe ja kein Recht auf Ihre Zuneigung. Sie lieben jemanden … «

Sie errötete tief und war nahe daran, ihr Geheimnis preiszugeben. Sie fühlte, daß es ihr in ihrer Bewegung unmöglich gewesen wäre, zu lügen, zumal ihr die Wahrheit im Gesicht geschrieben stand.

»Ja«, gestand sie endlich leise. »Aber ich bitte Sie, lassen Sie mich, Sie tun mir weh.«

Jetzt waren die Qualen an ihr. War es denn nicht genug, daß sie sich gegen ihn verteidigen mußte? Sollte sie sich noch gegen sich selbst verteidigen müssen, gegen die Aufwallungen der Liebe zu ihm, die ihr manchmal allen Mut raubten? Wenn er so zu ihr sprach, wenn sie ihn so bewegt, so verstört vor sich sah, begriff sie nicht mehr, warum sie sich weigerte. Nur mühsam fand sie dann ihren Stolz und ihre Vernunft wieder, die sie in ihrer jungfräulichen Sprödigkeit verharren ließen. Sie blieb hartnäckig allein aus dem Wunsch nach einem ruhigen, dauerhaften Glück, nicht weil sie dem Gedanken der Tugend an sich gehorchen wollte. Sie wäre diesem Mann in die Arme gesunken, wenn es ihr nicht widerstrebt hätte, ihr ganzes Wesen für immer hinzugeben, ohne auch nur zu wissen, was der morgige Tag bringen mochte.

Mouret machte eine Gebärde dumpfer Verzweiflung, er hatte sie nicht verstanden. Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, blätterte in den Papieren, legte sie dann wieder hin und sagte:

»Ich will nicht in Sie dringen, Fräulein, ich kann Sie ja nicht gegen Ihren Willen zurückhalten.«

»Aber ich will ja gar nicht weggehen«, erwiderte sie lächelnd.

»Wenn Sie mich für anständig halten, bleibe ich … Man sollte die Frauen immer für anständig halten, es gibt viele, die es sind, glauben Sie mir.«

Sie hatte unwillkürlich die Augen zu dem Bild Frau Hédouins erhoben. Mouret folgte ihrem Blick und schrak zusammen, denn es war ihm, als hätte seine Frau diese Worte gesprochen, so vertraut kamen sie ihm vor. Er fand bei Denise den gesunden Sinn, jenes wohltuende seelische Gleichgewicht wieder, das auch sie besessen hatte, bis hin zu der sanften Stimme, die nicht mehr sprach, als notwendig war. Er war betroffen und wurde noch trauriger als zuvor.

»Sie wissen jetzt, daß ich ganz Ihnen gehöre«, murmelte er, um zu einem Ende zu kommen; »machen Sie mit mir, was Sie wollen.«

Da sagte sie in heiterem Ton:

»So ist's recht, Herr Mouret; es ist immer gut, auf eine Frau zu hören, und mag sie noch so niedrig stehen, wenn sie nur ein wenig Verstand besitzt. Ich werde aus Ihnen nichts anderes als einen rechtschaffenen Menschen machen, wenn Sie sich mir anvertrauen wollen.«

Sie brachte diesen Scherz in ihrer schlichten Art vor, die so reizvoll war. Nun lächelte auch er und geleitete sie zur Tür wie eine Dame.

Am folgenden Tag wurde Denise zur Direktrice ernannt. Die Geschäftsleitung teilte die Konfektionsabteilung und schuf nur ihretwegen eine Abteilung für Kinderkleidung, die gleich daneben eingerichtet wurde.

Seit der Entlassung ihres Sohnes hatte Frau Aurélie in fortwährender Angst gelebt, denn sie sah, daß die Herren ihr gegenüber kühler geworden waren und daß die Macht des jungen Mädchens immer mehr zunahm. Würde man sie nicht bei der erstbesten Gelegenheit Denise aufopfern? Als diese nun als Direktrice in die Abteilung für Kinderkleidung hinüberzog, war Frau Aurélie darüber so glücklich, daß sie nur noch das Gefühl wärmster Zuneigung und Ergebenheit für sie zur Schau trug. Sie überhäufte Denise mit Freundschaftsbeweisen, behandelte sie von nun an als völlig gleichgestellt und ging oft zu ihr hinüber, um sich mit ihr zu besprechen.

Denise war jetzt auf dem Gipfel ihrer Macht. Ihre Ernennung zur Direktrice hatte den letzten Widerstand ihrer Umgebung vernichtet. Wenn auch hinter ihrem Rücken immer noch geklatscht wurde, so verneigten sich doch alle vor ihr bis zur Erde. Marguerite, die zur Zweiten in der Konfektionsabteilung ernannt worden war, floß über von Lobeserhebungen. Selbst Claire, von geheimem Respekt vor solchem Glück erfüllt, duckte sich.

Noch vollständiger war Denises Triumph über die Männerwelt, über Jouve, der ihr nur mehr mit tiefster Demut begegnete, über Hutin, den jetzt die Angst packte, weil er seine Stellung wanken sah, über Bourdoncle, der endlich zur Ohnmacht verurteilt war. Als er sie aus dem Zimmer der Geschäftsleitung hatte treten sehen, lächelnd, mit sanfter Miene, und als der Chef am folgenden Tag in der Besprechung die Einrichtung einer neuen Abteilung gefordert hatte, gab er sich besiegt. Diesmal war die Frau die stärkere geblieben, und er war darauf gefaßt, daß das Verhängnis auch ihn hinwegfegen würde.

Denise genoß indessen in aller Liebenswürdigkeit ihren Triumph. Sie war gerührt von den Beweisen der Achtung, die sie umgaben, sie wollte darin nur eine ausgleichende Teilnahme für die Härte ihrer Anfangszeit erblicken. Sie nahm lächelnd die ihr dargebotenen Freundschaftsbeweise entgegen und brachte es dahin, daß sie von einigen wirklich geliebt wurde. Nur gegen Claire bewahrte sie eine unüberwindliche Abneigung. Sie hatte erfahren, daß diese sich tatsächlich den grausamen Scherz erlaubt hatte, eines Abends Colomban mit zu sich zu nehmen. Ganz fortgerissen von seiner endlich befriedigten Leidenschaft, brachte er seither öfter die Nacht außer Haus zu, während die arme Geneviève langsam dem Ende entgegenging. Im »Paradies der Damen« wurde viel davon gesprochen, man fand die Sache sehr spaßig.