50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

Tekst
Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Allein dieser Kummer vermochte Denise nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es war eine Freude, sie in ihrer Abteilung zu sehen, umgeben von ihrem kleinen Völkchen, von Knirpsen jeden Alters. Sie vergötterte Kinder, und man hätte keinen geeigneteren Platz für sie finden können. Sie lebte unter ihren Kleinen wie in einer natürlichen Familie, selbst verjüngt durch diese Unschuld und Frische, die sich um sie her immer wieder erneuerte.

Es kam jetzt zuweilen vor, daß sie lange Unterredungen mit Mouret hatte. Wenn sie sich zur Geschäftsleitung begeben mußte, um Aufträge entgegenzunehmen oder Bericht zu erstatten, hielt er sie zurück, um mit ihr zu plaudern, denn er liebte es, ihr zuzuhören. Das war es, was sie lachend »einen rechtschaffenen Menschen aus ihm machen« genannt hatte. In ihrem besonnenen Köpfchen gab es allerlei Pläne; alles, was sie sah, suchte sie zu ordnen, zu verbessern. So sann sie beispielsweise, seitdem sie beim »Paradies der Damen« wieder eingetreten war, über die unsichere Lage der Angestellten nach. Die plötzlichen Entlassungen kränkten sie; sie fand dieses Vorgehen ebenso ungeschickt wie ungerecht, von Nachteil für beide Seiten, für die Angestellten wie für das Geschäft. Noch schmerzten die Wunden ihrer Anfangszeit, und nicht ohne tiefes Mitleid beobachtete sie jede Neue, die das gleiche Elend durchmachte. Dieses Dasein eines geprügelten Hundes verdarb die Besten unter ihnen, alle waren noch vor den Vierzig durch den Beruf aufgebraucht, verschwanden, gingen unter. Viele starben vor der Zeit, andere gerieten auf die Straße, und nur die wenigsten waren so glücklich, sich zu verheiraten und in irgendeinem Provinzladen unterzutauchen. Dieser ungeheure Verschleiß an Menschen, den die großen Warenhäuser von Jahr zu Jahr trieben – war das menschlich, war das gerecht? Doch sie war nicht gefühlsselig in ihren Ansichten, sie kämpfte vielmehr mit sachlichen Argumenten. Wenn man eine zuverlässig funktionierende Maschine haben wolle, erklärte sie, müsse man gutes Material verwenden; andernfalls stehe die Arbeit immer wieder still, und die Kosten würden nur immer höher. Wenn sie so ihrer Phantasie freien Lauf ließ, sah sie im Geist das vollkommene, ungeheure Warenhaus der Zukunft schon vor sich, eine Hochburg des Handels, in der jeder nach seinen Verdiensten seinen Anteil am Gewinn hatte und durch Verträge gesichert war. Solche Pläne erheiterten Mouret, er beschuldigte sie dann wohl, sie sei eine Sozialistin, und brachte sie in Verlegenheit, indem er ihr die Schwierigkeiten der Durchführung erläuterte. Aber obgleich er sie mit ihren Vorstellungen aufzog, verwirklichte er einen Teil ihrer Gedanken. Das Los der Angestellten wurde allmählich besser; an die Stelle der massenhaften Entlassungen trat ein Urlaubssystem, das der toten Zeit angepaßt war; schließlich gründete man Aushilfskassen zur Unterstützung der Angestellten im Falle unverschuldeter Arbeitslosigkeit. Es waren die Anfänge der großen Arbeitervereinigungen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Denise begnügte sich übrigens nicht damit, die Wunden zu heilen, an denen sie selbst einst geblutet hatte; ihr weiblicher Zartsinn gab ihr allerlei Ideen ein, durch deren Ausführung Mouret die Kundschaft entzückte. Den Kassierer Lhomme unterstützte sie in seinem lang gehegten Plan, aus den Angestellten des Hauses eine Musikkapelle zusammenzustellen. Drei Monate später hatte Lhomme hundertzwanzig Musiker unter seiner Leitung, der Traum seines Lebens war verwirklicht. Es wurde ein großes Fest veranstaltet, ein Konzert mit Ball, um dem Publikum die Kapelle des »Paradieses der Damen« vorzuführen. Die Zeitungen beschäftigten sich mit dem Ereignis, und selbst Boudoncle, den alle diese Neuerungen erbitterten, mußte sich vor dieser enormen Reklame beugen. Später wurde ein Spielsaal für die Angestellten eingerichtet, wo sie Billard, Tricktrack und Schach spielen konnten. Endlich wurden Abendkurse in Deutsch und Englisch, in Geographie und in Arithmetik eingeführt. Eine Bibliothek von zehntausend Bänden zum Gebrauch der Angestellten entstand. Ein Arzt im Haus hielt unentgeltlich Sprechstunden ab; es gab Bäder, Erfrischungsräume, einen Frisiersalon. Das ganze Leben spielte sich hier ab, man brauchte nicht mehr aus dem Haus zu gehen, für alles war gesorgt: Bildung, Essen, Unterkunft und Kleidung. Was Arbeit und Vergnügen anbelangte, war inmitten der ungeheuren Stadt Paris das »Paradies der Damen« eine Welt für sich.

Erneut gab es einen Stimmungsumschwung zugunsten Denises. Da Bourdoncle seinen Getreuen voller Verzweiflung immer wieder beteuerte, daß er viel darum gegeben hätte, wenn er selbst sie Mouret hätte ins Bett legen können, nahm man allgemein davon Kenntnis, daß sie nicht nachgegeben hatte, daß ihre Allmacht eben aus dieser Weigerung entsprang. Von diesem Augenblick an wurde sie beliebt. Da war endlich eine, die dem Chef den Fuß auf den Nacken setzte, die alle anderen rächte und ihm mehr als bloße Versprechungen zu entreißen wußte. Wenn sie jetzt durch die Abteilungen ging mit ihrer sanften, aber unbeugsamen Miene, lächelten die Angestellten ihr zu, sie waren stolz auf sie und hätten sie am liebsten aller Welt gezeigt. Denise fühlte sich glücklich, von dieser wachsenden Sympathie getragen. Mein Gott, war das möglich! Sie sah sich wieder, wie sie angekommen war, in ihrem ärmlichen Kleidchen, scheu, verloren inmitten des Räderwerks dieses ungeheuren Betriebes; lange Zeit hatte sie das Gefühl gehabt, ein Nichts zu sein, kaum ein Hirsekorn unter den Mühlsteinen, die eine Welt zermalmten. Und heute war sie die Seele dieser Welt, sie allein zählte, mit einem Wort konnte sie den ihr zu Füßen liegenden Riesenapparat schneller oder langsamer laufen lassen. Und doch hatte sie nichts davon gewollt; sie war ohne Berechnung, ihre Herrschaft überraschte sie manchmal selbst. Was hatten sie nur, daß sie ihr alle gehorchten? Sie war nicht schön und schon gar nicht hintertrieben, sie besaß nichts als ihre Güte und ihre Klugheit, ihre Aufrichtigkeit und ihre Logik.

Zu Denises größten Freuden in ihrer neuen Lage gehörte es, daß sie Pauline nützlich sein konnte. Diese war schwanger und lebte in fortwährender Angst, denn zwei Verkäuferinnen hatten im siebenten Monat binnen vierzehn Tagen das Haus verlassen müssen. Die Geschäftsleitung duldete solche Zwischenfälle nicht. Ehen wurden allenfalls gestattet, Kinder aber waren entschieden verboten. Um die voraussichtliche Kündigung so lange wie möglich hinauszuschieben, schnürte Pauline sich zum Ersticken. Eine der beiden entlassenen Verkäuferinnen hatte einige Tage zuvor ein totes Kind geboren, nur weil sie es ebenso gemacht hatte; man wußte nicht einmal, ob sie selber durchkommen würde. Bourdoncle bemerkte indessen, daß Paulines Gesichtsfarbe immer bleierner und ihr Gang immer schwerfälliger wurde. Eines Morgens war er eben in der Nähe, als ein Laufbursche, der ein Paket forttragen wollte, sie aus Versehen so hart anstieß, daß sie aufschrie und beide Hände auf ihren Bauch drückte. Sogleich führte er sie fort, verhörte sie, bis sie beichtete, und stellte in der nächsten Besprechung mit den Herren von der Geschäftsleitung den Antrag auf ihre Entlassung. Mouret, der an dieser Beratung nicht teilgenommen hatte, konnte seine Meinung erst am Abend abgeben. Allein bis dahin hatte Denise Zeit gehabt, sich ins Mittel zu legen, und er schnitt Bourdoncle kurzerhand das Wort ab, gerade in Hinsicht auf die Interessen des Hauses. Ein solches Vorgehen, sagte er, müßte alle Mütter, alle jungen Wöchnerinnen unter der Kundschaft verletzen. Und zu guter Letzt wurde beschlossen, daß jede verheiratete Verkäuferin, wenn sie schwanger wurde, einer besonderen Hebamme anvertraut werden sollte, sobald ihre Anwesenheit im Geschäft anstandshalber unmöglich wurde.

Als Denise am Tag danach in das Krankenzimmer hinaufging, um Pauline zu besuchen, die sich infolge des erlittenen Stoßes hatte zu Bett legen müssen, küßte diese sie dankbar auf beide Wangen.

»Wie gut Sie sind! Ohne Sie hätte man mich hinausgeworfen … Machen Sie sich keine Sorgen; der Arzt sagt, es habe nichts zu bedeuten.«

Das Krankenzimmer war ein langer, heller Raum mit zwölf Betten, die mit sauberen, weißen Vorhängen versehen waren. Hier wurden die Angestellten gepflegt, die im Haus wohnten, wenn sie nicht ausdrücklich zu ihren Familien gehen wollten. An diesem Tag lag Pauline allein hier, ihr Bett stand in der Nähe eines der großen Fenster, die auf die Rue Neuve-Saint-Augustin gingen.

»Er tut also alles, was Sie wollen? Wie grausam von Ihnen, ihn so zu quälen! Erklären Sie mir das mal, da wir schon davon sprechen. Hassen Sie ihn denn?«

Sie hielt Denise, die neben ihrem Bett saß, bei der Hand. Angesichts dieser direkten und unerwarteten Frage ließ das junge Mädchen, von einer plötzlichen Erregung ergriffen, sich das Geheimnis ihres Herzens entschlüpfen. Sie verbarg das hochrote Gesicht in den Kissen und flüsterte:

»Ich liebe ihn!«

Pauline war ganz verblüfft.

»Wie, Sie lieben ihn? Nun, dann ist es doch sehr einfach: sagen Sie ja!«

Denise aber sagte nein, indem sie energisch den Kopf schüttelte. Sie sagte nein, gerade weil sie ihn liebte, ohne daß sie die Sache hätte näher erklären können. Es war gewiß lächerlich, doch sie war nun einmal so und konnte sich nicht plötzlich ändern.

Die Verwunderung ihrer Freundin stieg immer höher. Endlich fragte sie:

»Sie tun das also nur, um seine Frau zu werden?«

Da richtete sich Denise mit einem Ruck auf. Sie war ganz verstört.

»Wie, um seine Frau zu werden? Ich schwöre Ihnen, daß ich nie daran gedacht habe! Nein, nie ist mir eine solche Berechnung durch den Kopf gegangen, und Sie wissen doch, daß ich nicht lüge.«

»Nun, wenn Sie es jedenfalls gewollt hätten«, sagte Pauline, »dann hätten Sie sich nicht anders benehmen können, als Sie es tun … Die Sache muß doch mal ein Ende nehmen, und da gibt es kein anderes Mittel als Heirat, da Sie das andere nicht wollen! Hören Sie: alle hier denken so wie ich, man ist überzeugt, daß Sie ihm den Brotkorb nur so hoch hängen, um ihn zum Standesbeamten zu führen … Mein Gott, sind Sie komisch!«

 

Sie mußte Denise trösten, die abermals mit dem Kopf auf das Kissen gesunken war und schluchzend wiederholte, sie werde schließlich doch noch fortgehen müssen, wenn man ihr ununterbrochen Geschichten andichte, die ihr niemals in den Sinn gekommen wären. —

Zur selben Zeit ging Mouret unten durch das Geschäft. Um seinen Kummer zu betäuben, wollte er wieder einmal die Bauarbeiten besichtigen. Monate waren verflossen, die neue Fassade stand kurz vor der Fertigstellung. Die Rue du Dix-Décembre, seit kurzer Zeit eröffnet, war vom Morgen bis zum Abend voll von einer Menge Neugieriger, die zu den verkleideten Gerüsten emporstarrten und sich mit den Wundern beschäftigten, die man sich von diesem Bau erzählte. Allein gerade auf diesem von fieberhafter Arbeit erfüllten Bauplatz mitten unter den Handwerkern, welche die Verwirklichung seines Traums vollendeten, empfand Mouret bitterer als sonstwo die Nichtigkeit seines Glücks. Der Gedanke an Denise schnürte ihm die Brust zu. Was nützte ihm all diese Pracht, wenn sie doch die Leere seines Herzens nicht ausfüllen konnte?

Als Mouret in sein Arbeitszimmer zurückkehrte, würgte ihn ein Schluchzen. Was wollte sie denn? Er wagte nicht mehr, ihr Geld anzubieten. Und zum erstenmal tauchte in dem noch widerstrebenden jungen Witwer unklar der Gedanke an eine Heirat auf. Das Gefühl seiner Machtlosigkeit erpreßte ihm endlich heiße Tränen; er war unglücklich.

Kapitel Ein­hundert­sieben

Als an einem Novembermorgen Denise eben ihre ersten Anweisungen in der Abteilung gab, kam das Dienstmädchen der Baudus, um ihr zu melden, daß Fräulein Geneviève eine sehr schlechte Nacht verbracht habe und ihre Kusine wenn möglich gleich sehen wolle. In letzter Zeit war das Mädchen von Tag zu Tag schwächer geworden, und vor zwei Tagen hatte sie sich ganz zu Bett legen müssen. Die Ursache war das plötzliche Verschwinden Colombans. Anfangs hatte er sich damit begnügt, öfters über Nacht auszubleiben, dann war er immer mehr der gehorsame Hund Claires geworden, und endlich hatte Baudu an einem Montagmorgen einen Brief von ihm erhalten, in dem er von ihm Abschied nahm, und zwar in so gesuchten Worten, als trage er sich mit Selbstmordgedanken. Vielleicht schlummerte unter diesem Streich aus Leidenschaft auch die schlaue Berechnung eines Burschen, der entzückt war, so um eine ihm immer unerwünschtere Ehe herumkommen zu können. Baudus Geschäft ging es ebenso trostlos wie seiner Tochter, und da nahm Colomban eben die Gelegenheit wahr, auf diese unschöne Weise die Beziehungen abzubrechen. Dabei hielt ihn noch jedermann für ein Opfer seiner unglücklichen Liebe.

Als Denise in den »Vieil Elbeuf« hinüberkam, war Frau Baudu allein. Regungslos saß sie hinter der Kasse und hütete den leeren Laden. Es war kein Angestellter mehr da, nur das Dienstmädchen staubte die Fächer ab. Stunden vergingen oft, ohne daß eine Kundin die Stille störte, und die Waren, die manchmal wochenlang nicht berührt wurden, verkamen mehr und mehr.

»Was gibt es denn?« fragte Denise lebhaft. »Ist etwas mit Geneviève?«

Frau Baudu antwortete nicht sofort, ihre Augen füllten sich mit Tränen, dann stammelte sie:

»Ich weiß nicht, man sagt mir ja nichts. Ich glaube, es ist alles aus.«

Mit tränenumflorten Blicken sah sie umher, als fühlte sie das Haus und ihre Tochter zusammen dahinschwinden. Die siebzigtausend Franken, die sie für ihr Landgut bekommen hatten, waren in weniger als zwei Jahren durch den erbarmungslosen Wettbewerb verschlungen worden. Um gegen das »Paradies der Damen« ankämpfen zu können, das jetzt auch Herrentuche, Jagdsamte und Livreestoffe führte, hatte der Tuchhändler schwere Opfer bringen müssen. Seine Schulden waren allmählich immer größer geworden; als letzte Hilfsquelle hatte er auf das Grundstück in der Rue de la Michodière, auf dem der alte Finet, sein Vorgänger, das Haus gegründet hatte, eine Hypothek aufgenommen. Doch es war alles zwecklos, der endgültige Zusammenbruch war nur mehr eine Frage allerkürzester Zeit.

»Der Vater ist oben«, fuhr Frau Baudu mit gebrochener Stimme fort. »Wir lösen einander alle zwei Stunden ab; es muß doch jemand hier im Laden sein, nur sicherheitshalber, denn im Grunde … «

Eine Handbewegung sagte alles. Sie hätten schließen können, wenn ihr alter kaufmännischer Stolz sie nicht daran gehindert hätte.

»Dann will ich hinaufgehen, Tante«, sagte Denise, der sich angesichts dieser Verzweiflung das Herz zusammenkrampfte.

»Ja, geh hinauf, geh rasch, mein Kind. Sie erwartet dich, sie hat die ganze Nacht nach dir gefragt. Sie hat dir etwas zu sagen.«

In diesem Augenblick kam Baudu herunter. Er trat leise auf und flüsterte, als ob man ihn oben hören könnte:

»Sie schläft.«

Er sank in einen Sessel, dann murmelte er:

»Du wirst sie gleich sehen … Wenn sie schläft, sieht es immer aus, als würde sie wieder gesund.«

Sie schwiegen. Vater und Mutter saßen einander gegenüber und betrachteten sich stumm. Schließlich begann er sich in Klagen zu ergehen, ohne einen Namen zu nennen, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden.

»Ich hätte es nicht geglaubt, meine Hand hätte ich ins Feuer gelegt … Er war der letzte, ich hatte ihn erzogen wie meinen Sohn. Wenn einer gekommen wäre und mir gesagt hätte: ›Auch den werden sie dir nehmen, du wirst sehen, wie er seiner Wege geht‹, so hätte ich geantwortet: ›Dann gibt es keinen gütigen Gott mehr!‹ – Und er ist richtig gegangen! Dieser Unglücksmensch, er verstand sich so gut auf den wahren Handel, er dachte in allem so wie ich! … Und warum? Wegen einer Dirne, einer jener Puppen, die in zweideutigen Häusern herumlungern … Man könnte wahrhaftig den Verstand verlieren!«

Er schüttelte den Kopf, seine ausdruckslosen Augen starrten auf den abgenützten Fußboden.

»Wenn ihr es wissen wollt«, fuhr er dann mit noch leiserer Stimme fort, »es gibt Augenblicke, wo ich mich selbst für alles Unglück am meisten anklage. Ja, es ist meine Schuld, wenn unsere arme Tochter da oben liegt. Ich hätte sie längst verheiraten sollen, ohne meinem dummen Stolz nachzuhängen und meinem Eigensinn, in dem ich ihnen das Haus nicht in schlechterem Zustand übergeben wollte. Dann hätte sie ihn jetzt, und vielleicht hätte ihrer beider Jugend jenes Wunder zustande gebracht, das mir nicht gelungen ist … Aber ich bin ein alter Narr, ich habe nichts begriffen, ich glaubte nicht, daß man wegen solcher Dinge krank werden könnte … Wahrhaftig, er war ein außerordentlicher Bursche, so begabt für den Verkauf, so rechtschaffen und einfach, von solchem Ordnungssinn in allen Dingen. Ja, das war noch mal ein Schüler … «

Immer noch verteidigte er diesen Menschen, der ihn betrogen hatte. Denise konnte es nicht mehr mit anhören, wie er sich so selbst anklagte, und als sie ihn derart niedergeschlagen sah, in Tränen gebadet, ihn, der hier einst als unumschränkter Gebieter geschaltet hatte, da sagte sie ihm alles.

»Nehmen Sie ihn nicht in Schutz, Onkel. Er hat Geneviève niemals geliebt, und wenn Sie die Heirat beschleunigt hätten, wäre er schon früher durchgegangen. Ich selbst habe mit ihm gesprochen. Er wußte ganz gut, daß meine arme Kusine seinetwegen litt, und wie Sie sehen, hat es ihn nicht daran gehindert, davonzulaufen – Fragen Sie nur die Tante.«

Wortlos bestätigte Frau Baudu diese Eröffnung durch ein Kopfnicken. Da wurde der Tuchhändler noch blasser und stammelte:

»Dann ist alles aus! Sie haben unser Geschäft zugrunde gerichtet, und nun bringt eine ihrer Dirnen auch noch unser Kind um.«

Keiner sprach mehr. Plötzlich in diesem düsteren Jammer hörten sie irgendwoher aus dem Haus ein dumpfes Klopfen; es war Geneviève, die erwacht war und mit einem Stock, den man bei ihr gelassen hatte, Zeichen gab.

»Gehen wir hinauf«, sagte Baudu und sprang rasch auf. »Sei ein bißchen fröhlich, sie braucht nichts zu wissen … «

Als sie oben die Tür öffneten, hörten sie eine schwache Stimme rufen:

»Ich will nicht allein sein, laßt mich nicht allein … Ich habe Angst, wenn ich allein bin!«

Als sie Denise eintreten sah, beruhigte sich Geneviève, ein freudiges Lächeln trat auf ihre blassen Lippen.

»Da sind Sie endlich!« sagte sie. »Wie sehnsüchtig habe ich seit gestern auf Sie gewartet! Ich glaubte schon, auch Sie hätten mich verlassen.«

Es war ein wahrer Jammer. Das Zimmer des Mädchens ging auf den Hof, es war ein kleines Gelaß, in das nur fahles Licht drang. Anfangs hatten die Eltern ihr krankes Kind in ihr eigenes Zimmer gelegt gehabt, das auf die Straße ging. Allein der Anblick des »Paradieses der Damen« da gegenüber war der Kranken eine Qual gewesen, und sie hatten sie in ihre Kammer zurücktragen müssen. Hier lag sie nun unter ihren Decken, so schmächtig und schwach, daß man ihren Körper kaum mehr wahrnahm. Ihre mageren Arme mit den fieberheißen Händen tasteten fortwährend suchend auf der Bettdecke umher.

Denise betrachtete sie, das Herz von Mitleid erfüllt. Sie hielt an sich aus Furcht, die Tränen könnten ihr aus den Augen stürzen. Endlich murmelte sie:

»Ich bin gleich gekommen. Wenn ich Ihnen nur helfen könnte! … Soll ich hierbleiben? Kann ich etwas tun?«

Geneviève blickte sie unverwandt an und erwiderte dann stockend:

»Nein, danke, ich brauche nichts, ich wollte Sie bloß noch einmal umarmen.«

Tränen traten in ihre Augen. Denise neigte sich gerührt zu ihr hinab und küßte sie auf die fieberheißen Wangen. Die Kranke hatte die Arme um ihren Nacken gelegt, preßte sie an sich und hielt sie in einer verzweifelten Umarmung fest. Dann irrten ihre Blicke zum Vater hinüber.

»Soll ich hierbleiben?« wiederholte Denise. »Vielleicht kann ich irgend etwas für Sie erledigen?«

»Nein, nein.«

Hartnäckig sah sie auf ihren Vater. Da begriff er endlich und zog sich zurück; man hörte, wie er mit schweren Schritten die Treppe hinabging.

»Sagen Sie mir, lebt er mit diesem Frauenzimmer zusammen?« fragte die Kranke sogleich. Sie ergriff die Hand der Kusine und hieß sie sich auf den Rand des Bettes setzen. »Ja, ich wollte Sie sehen, weil nur Sie mir sagen können … Nicht wahr, sie leben zusammen?«

Überrascht von diesen Fragen, mußte Denise stotternd die Wahrheit bekennen, all die Gerüchte erzählen, die im Geschäft in Umlauf waren. Claire war des Burschen längst überdrüssig und hatte ihm die Türe verschlossen; Colomban verfolgte sie untröstlich überallhin und suchte von Zeit zu Zeit eine Begegnung mit ihr zu erreichen; er benahm sich mit der Unterwürfigkeit eines geprügelten Hundes. Man erzählte sich übrigens, daß er im Begriff sei, im »Louvre« einzutreten.

»Wenn Sie ihn so sehr lieben, kann er ja noch zurückkommen«, fuhr Denise fort, um die Kranke mit dieser letzten Hoffnung einzuschläfern. »Sie müssen rasch gesund werden, dann wird er seinen Fehler erkennen und Sie heiraten.«

Geneviève winkte ab.

»Nein, lassen Sie's gut sein, ich weiß zu genau, daß alles vorbei ist … Ich sage ja nichts, weil ich Papa weinen höre und weil ich Mama nicht noch kränker machen will. Aber ich fühle, daß es aus ist mit mir, und wenn ich Sie heute habe rufen lassen, dann nur aus Angst, ich könnte den Abend nicht mehr erleben … Mein Gott, wenn ich daran denke, daß er nicht einmal glücklich ist!«

Denise wollte ihr die Todesgedanken ausreden und meinte, ihr Zustand sei keineswegs so besorgniserregend; aber Geneviève schnitt ihr kurz das Wort ab. Nach einer Weile bat sie:

»So, nun bleiben Sie nicht länger, Sie haben ja zu tun; ich danke Ihnen. Ich mußte nur Klarheit haben; nun bin ich zufrieden. Wenn Sie ihn wiedersehen, sagen Sie ihm, daß ich ihm verzeihe. Leben Sie wohl, meine gute Denise; küssen Sie mich noch einmal, es ist das letztemal.«

Denise küßte sie und versuchte abermals, ihr das auszureden.

»Aber nein«, sagte sie, »was quälen Sie sich nur so? Sie brauchen Pflege, sonst nichts.«

Doch die Kranke schüttelte eigensinnig den Kopf und lächelte, sie wußte es besser. Als ihre Kusine sich endlich zur Türe wandte, sagte sie noch:

»Warten Sie: klopfen Sie mit dem Stock, damit Papa heraufkommt; ich fürchte mich so, wenn ich allein bin.«

Als Baudu dann in dem kleinen, dumpfen Zimmer stand, wo er ganze Stunden auf einem Sessel sitzend verbrachte, tat sie sehr vergnügt und rief Denise zu:

»Morgen brauchen Sie gar nicht zu kommen; aber am Sonntag erwarte ich Sie, dann bleiben Sie den Nachmittag über bei mir.«

 

Am folgenden Morgen um sechs Uhr starb Geneviève nach einem vierstündigen schweren Todeskampf.

Die Beerdigung fand am Sonntag darauf statt, an einem düsteren, unfreundlichen Tag. Mit einem großen Strauß weißer Rosen geschmückt, stand der schmale Sarg in dem finsteren Toreingang des Hauses. Um neun Uhr kam Denise, um bei ihrer Tante zu bleiben. Doch Frau Baudu, die selbst nicht mitgehen konnte, bat sie, den Leichenzug zu begleiten und auf den Onkel achtzugeben, dessen stummer Schmerz sie beunruhigte. Unten fand Denise mittlerweile die Straße voll von Leuten. Der ganze Kleinhandel des Stadtviertels wollte der Familie Baudu seine Teilnahme bezeigen; es war zugleich wie eine Art Kundgebung gegen das »Paradies der Damen«, dem man an Genevièves langsamem Hinsterben die Schuld gab.

Endlich kam mit einiger Verspätung der Leichenwagen, und der Zug setzte sich zögernd in Bewegung. Als sie durch die Rue Neuve-des-Petits-Champs kamen, schloß sich Robineau, sehr blaß und sichtlich gealtert, ihnen an.

In der Kirche zu Saint-Roch warteten viele Frauen, die kleinen Krämerinnen des Stadtviertels, die sich nicht in das Gedränge vor dem Trauerhaus hatten begeben wollen. Die Demonstration ward jetzt fast zum Aufruhr, und als nach dem Gottesdienst der Leichenzug sich wieder in Bewegung setzte, folgte alles dem Sarg zum Friedhof, obwohl es ein weiter Weg war bis zum Montmartre. Sie mußten wieder durch die Rue Saint-Roch und am »Paradies der Damen« vorbei. In der Rue du Dix-Décembre gab es gerade vor den Gerüsten der neuen Fassade, die noch immer den Verkehr behinderten, eine Stockung. Denise, die in einen der Wagen gestiegen war, blickte hinaus und sah den alten Bourras unmittelbar neben sich einherhinken. Er hätte den Friedhof niemals erreicht. Er hob den Kopf und sah sie an, dann stieg er ein.

»Meine verdammten Knie«, sagte er. »Ich komme nicht vorwärts … Bleiben Sie nur, Sie brauchen nicht wegzurücken. Gegen Sie haben wir ja nichts!«

Sie spürte unter seiner knurrigen Art die unveränderte Freundschart heraus. Und prompt begann er mit dem alten Lied.

»Er hat seine Berufung verloren. Zwei Jahre hat es mich gekostet und Geld genug, aber das tut nichts, unter meinem Laden wird er nicht durchkommen. Die Richter haben entschieden, eine solche Arbeit sei keine Ausbesserung. Jetzt kommt er aus der Wut gar nicht mehr heraus, er kann es nicht verwinden, daß ein alter Invalide wie ich ihm den Weg versperrt, während die ganze Welt vor seinem Geld auf den Knien liegt! … Aber ich will nicht, niemals! Möglich, daß ich dabei auf der Strecke bleibe. Ich hab herausbekommen, daß der Lumpenkerl meinen Schulden nachspürt. Ohne Zweifel will er mir einen bösen Streich spielen. Aber das tut nichts, er sagt ja, ich sage nein und werde nein sagen, bis man mich zwischen vier Bretter einnagelt wie die Kleine, die man da vorne hinausfährt.«

Denise, die die Lage genau kannte und ihm helfen wollte, brach endlich ihr Schweigen und sagte in bittendem Ton:

»Herr Bourras, nun spielen Sie doch nicht länger den Eigensinnigen … Lassen Sie mich die Sache in Ordnung bringen.«

Er unterbrach sie mit einer heftigen Gebärde.

»Schweigen Sie«, rief er, »das geht niemanden etwas an. Sie sind ein gutes Mädchen, ich weiß, daß Sie ihm das Leben schwer machen, diesem Kerl, der glaubte, er könne Sie ebenso kaufen wie mein Haus. Aber was würden Sie mir antworten, wenn ich Ihnen nun riete, ja zu sagen? Sie würden mich zum Teufel schicken, nicht wahr? Na also, dann mischen Sie sich auch nicht in meine Angelegenheiten, wenn ich nein sage!«

Mittlerweile war der Leichenwagen vor dem Friedhof angelangt, und die beiden stiegen aus. Die Grabstelle der Familie Baudu befand sich im ersten Gang links. Binnen weniger Minuten war die Feier beendet. Die Fernerstehenden zerstreuten sich zwischen den benachbarten Gräbern. Denise brachte ihren Onkel, der verstört dem hinabgleitenden Sarg nachgestarrt hatte, zu einem der Trauerwagen und begleitete ihn nach Hause. Der »Vieil Elbeuf« wirkte finsterer denn je. Der Laden war geschlossen, Onkel und Tante waren jetzt ganz allein.

Am Abend verlangte Mouret mit Denise zu sprechen, um sich mit ihr über ein Kinderkleid zu beraten, das er herausbringen wollte. Noch völlig erregt, konnte sie nicht an sich halten; sie wagte es, auf Bourras zu kommen, diesen armen Mann, der bereits am Boden lag und nun den letzten Stoß erhalten sollte. Doch als sie den Namen des Schirmhändlers erwähnte, geriet Mouret in Zorn. Der alte Narr, wie er ihn nannte, verbitterte ihm das Leben, verdarb ihm seinen Triumph durch seinen blöden Eigensinn, mit dem er das Haus nicht abgeben wollte, diese elende Baracke. Was sollte er denn tun? Konnte er diesen Schutthaufen an der Seite des »Paradieses der Damen« stehen lassen? Er mußte verschwinden. Um so schlimmer für den alten Narren! Er erinnerte sie an seine Angebote, bis zu hunderttausend Franken hatte er ihm geben wollen. Das war doch mehr als genug. Er wollte ja geben, was man verlangte; aber man sollte ihn sein Werk vollenden lassen!

Sie hörte ihn mit niedergeschlagenen Augen an und fand keine anderen Gegenargumente, als die das Herz ihr eingab: der gute Mann war so alt, man konnte doch seinen Tod abwarten; ein Bankrott jedenfalls wäre sein Ende. Er entgegnete, er habe die Sache nicht mehr in der Hand, Bourdoncle beschäftige sich damit; die Herren hätten übereinstimmend beschlossen, ein für allemal ein Ende zu machen.

Nach kurzem Schweigen kam Mouret auf die Familie Baudu zu sprechen. Er beklagte zunächst den Tod ihrer Tochter. Sie seien gute, rechtschaffene Leute, leider vom Schicksal verfolgt. Dann kam er wieder auf seine alte Ansicht zurück: sie seien im Grund an ihrem Unglück selber schuld; man dürfe sich nicht so eigensinnig in die alten, längst wurmstichig gewordenen Handelsbräuche verbohren. Es sei gar kein Wunder, daß das Haus ihnen über dem Kopf einstürze, er habe es zwanzigmal vorausgesagt. Es könne doch vernünftigerweise niemand von ihm verlangen, daß er sich ruiniere, nur um das Stadtviertel zu schonen! Übrigens, selbst wenn er so töricht gewesen wäre, das »Paradies der Damen« zu schließen, so wäre sofort an seiner Statt ein anderes großes Kaufhaus aus dem Boden geschossen, denn der Gedanke lag nun mal in der Luft. Er redete sich allmählich warm und wurde immer eifriger in seinem Bestreben, sich gegen den Haß seiner unbeabsichtigten Opfer zu verteidigen, gegen das Geschrei der zugrunde gehenden kleinen Geschäfte, das er rings um sich zu vernehmen glaubte. Nein, er fühle keine Gewissensbisse, er sei einfach das Werkzeug seines Zeitalters. Sie hörte ihm lange zu und zog sich dann schweigend mit beklommenem Herzen zurück.

Diese Nacht konnte Denise nicht schlafen. War es denn wirklich so, daß die einen untergehen mußten, damit die anderen leben konnten? War dieser ewige Kampf unvermeidlich? Mein Gott, wieviel Leid! Und sie konnte niemanden retten, ja sie hatte das Bewußtsein, daß all dieses Elend notwendig sei, um das Paris der Zukunft gesund zu erhalten!

Als der Tag anbrach, wurde sie ruhiger, eine tiefe, ergebene Traurigkeit hatte sie erfaßt. Sie sann nur mehr nach, wie sie die Ihren vor dem allgemeinen Ruin bewahren konnte.

Nun stieg das Bild Mourets vor ihr auf. Er würde ihr sicherlich nichts verweigern, ihr jede vernünftige Hilfe gewähren. Dann schweiften ihre Gedanken ab, sie suchte sich über ihn klar zu werden. Sie kannte sein Leben, sie wußte von seinen früheren nüchternen Liebschaften aus Berechnung, von der überlegten Ausbeutung der Frau; sie wußte, daß er sich Geliebte genommen hatte, die ihm den Weg bahnen sollten; sie wußte, daß er mit Frau Desforges ein Verhältnis angeknüpft hatte, allein zu dem Zweck, Baron Hartmann zu gewinnen; sie kannte auch alle übrigen: die Claires und die verschiedenen Schauspielerinnen, all die Vergnügungen, die er sich erkauft hatte, um gleich darauf einer wie der anderen den Laufpaß zu geben. Allein diese Anfänge eines Abenteurers der Liebe, über die das ganze Geschäft sich lustig machte, traten doch schließlich zurück hinter dem geistreichen Wesen dieses Mannes, hinter seiner überwältigenden Liebenswürdigkeit. Er war die Verführung selbst. Niemals hätte sie ihm seine frühere Verstellungskunst vergeben, die Kälte des Liebhabers unter der galanten Maske der Zuvorkommenheit. Heute aber, da er um sie litt, zürnte sie ihm nicht mehr. Durch dieses Leiden stieg er in ihren Augen. Wenn sie ihn so zerquält fand, wenn sie sah, wie er seine frühere Verachtung für die Frauen schwer büßte, erschien ihr das wie eine Sühne für seine Fehler.