50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
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Am Morgen gelang es Denise, von Mouret alle Hilfe zugesagt zu erhalten, die sie am Tag, da die Familie Baudu und der alte Bourras unterliegen mußten, für richtig halten würde. Wochen vergingen, sie besuchte fast täglich ihren Onkel, um den düsteren Laden für einige Minuten aufzuheitern. Sie war besonders beunruhigt über den Zustand ihrer Tante; seit Genevièves Tod saß sie in dumpfem Brüten da, man konnte geradezu sehen, wie sie von Tag zu Tag mehr dahinwelkte. Wenn man sie fragte, antwortete sie mit erstaunter Miene, ihr fehle nichts, sie sei bloß so müde. Im Stadtviertel schüttelte man traurig den Kopf; die Arme würde sich nicht mehr lange nach ihrer Tochter sehnen.

Als eines Tages Denise eben von den Baudus kam, hörte man auf der Place Gaillon ein großes Geschrei. Die Menge eilte hinzu, es herrschte allgemeines Entsetzen. Ein Pferdeomnibus hatte an der Ecke der Rue Neuve-Saint-Augustin vor dem Springbrunnen einen Mann umgefahren. Der Kutscher auf seinem Bock hatte seine Pferde, zwei kräftige Rappen, aufgeregt zurückgerissen; er fluchte, was er konnte.

»Himmeldonnerwetter, geben Sie doch acht, Sie blöder Kerl!«

Die Menge umringte den Verletzten; zufällig war ein Polizist zur Stelle. Der Kutscher schrie und wütete noch immer.

»Hat man jemals einen so einfältigen Menschen gesehen? Tut mitten auf der Straße, als ob er da zu Hause wäre! Ich habe ihn noch angerufen – und auf einmal lag er unter den Rädern.«

Ein Anstreicher, der in der Nachbarschaft beschäftigt war, eilte jetzt herbei und rief dem Kutscher zu:

»Schrei doch nicht so, ich habe ja alles gesehen. Er hat sich geradezu druntergeworfen, er muß nicht ganz richtig im Kopf sein.«

Es mengten sich noch andere ein, und man kam allgemein zu der Ansicht, daß es ein Selbstmordversuch gewesen sei. Der Polizist nahm ein Protokoll auf. In diesem Augenblick kam Denise hinzu. Mitleidig beugte sie sich über den ohnmächtigen, mit beschmutzten und blutigen Kleidern auf dem Straßenpflaster liegenden Mann.

»Großer Gott, das ist ja Herr Robineau!« rief sie in schmerzlichem Erstaunen aus.

Der Polizist fragte sie sofort, ob sie Näheres wisse, und sie gab Namen und Adresse des Verunglückten an. Dank der Geschicklichkeit des Kutschers war der Omnibus noch etwas ausgewichen, so daß nur die Beine Robineaus unter die Räder geraten waren. Vier Männer nahmen den Verletzten auf und trugen ihn in eine Apotheke in der Rue Gaillon, während der Omnibus langsam weiterfuhr. Denise folgte Robineau. Es war nicht sogleich ein Arzt aufzutreiben, mittlerweile erklärte aber der Apotheker, es bestehe keine unmittelbare Gefahr; am besten schaffe man den Verwundeten nach Hause, da er ja in der Nachbarschaft wohne. Ein Mann ging zur nächsten Polizeiwache, um eine Tragbahre zu holen. Da kam Denise auf den guten Gedanken, vorauszugehen, um Frau Robineau auf den fürchterlichen Schlag vorzubereiten. Allein sie konnte sich nur mit Mühe durch die Menge durcharbeiten, die sich auf der Straße drängte; die abenteuerlichsten Gerüchte waren bereits im Umlauf, jetzt wurde schon erzählt, es handle sich um einen Ehemann, den der Liebhaber seiner Frau durch das Fenster auf die Straße geworfen habe.

In der Rue Neuve-des-Petits-Champs sah Denise von weitem Frau Robineau in der Tür ihres Ladens stehen. Sie tat, als komme sie zufällig vorüber, und begann ein Gespräch, um einen günstigen Augenblick abzuwarten. Das Geschäft zeigte die Unordnung und Öde, die das nahende Ende ankündigte. Seit zwei Monaten führte Robineau ein Höllenleben, um den Bankrott noch etwas hinauszuschieben.

»Ich habe Ihren Mann auf der Place Gaillon gesehen«, tastete sich Denise leise vor, nach dem sie endlich in den Laden getreten war.

Frau Robineau, die mit unruhigen Blicken fortwährend auf die Straße schaute, erwiderte lebhaft:

»Ach ja? Ich erwarte ihn nämlich, er sollte schon hier sein. Heute morgen ist Gaujean gekommen, und sie sind miteinander fortgegangen.«

Sie war noch immer reizend; aber sie erwartete ein Kind, und die doppelte Anspannung ihres Zustandes und der geschäftlichen Sorgen lastete sichtlich auf ihr.

»Mein liebes Kind«, sagte sie mit traurigem Lächeln, »wir wollen Ihnen nichts verbergen – Das Geschäft geht schlecht, mein armer Mann schläft überhaupt nicht mehr. Heute hat ihn Gaujean wieder wegen überfälliger Wechsel gequält … Nun werde ich aber langsam unruhig!«

Sie wollte zur Türe gehen, allein Denise trat ihr in den Weg. Sie hatte ein dumpfes Gemurmel vernommen, das sich auf der Straße näherte; offenbar brachte man die Tragbahre. Nun mußte sie endlich sprechen.

»Beunruhigen Sie sich nicht, es ist keine unmittelbare Gefahr; ja, ich habe Herrn Robineau gesehen, es ist ihm ein Unglück zugestoßen … Man bringt ihn schon, bitte machen Sie sich keine Sorge!«

Die junge Frau hörte sie leichenblaß an, ohne zu begreifen. Die Straße füllte sich mit Menschen, die Droschkenkutscher, die anhalten mußten, fluchten, und schon brachten die Träger die Bahre und setzten sie im Laden ab.

»Es war ein Unfall«, sagte Denise, entschlossen, den Selbstmordversuch zu verheimlichen. »Er stand auf der Straße und ist unter die Räder eines Omnibusses geglitten. Es sind nur die Beine verletzt, ein Arzt ist schon unterwegs. Beunruhigen Sie sich nicht!«

Ein Zittern befiel Frau Robineau, sie schrie auf, dann stürzte sie an der Bahre nieder. Robineau war wieder zu Bewußtsein gekommen. Als er seine Frau erblickte, rannen zwei schwere Tränen über seine Wangen. Schluchzend küßte sie ihn und sah ihn mit starren Blicken an.

Um die Neugierigen abzuwehren, hatte Denise den Rolladen an der Tür herabgelassen. In dem Halbdunkel, das nun über dem Geschäft lag, kniete Frau Robineau immer noch vor ihrem Mann und stöhnte:

»Oh, mein Lieber, mein Lieber … «

Sie fand nichts als diese Worte; er aber legte angesichts dieses Schmerzes ein Geständnis ab.

»Verzeih mir, ich war wahnsinnig … Als der Rechtsanwalt mir in Gegenwart Gaujeans erklärte, daß morgen die Siegel angelegt werden sollten, war mir, als drehte sich alles vor meinen Augen. Weiter erinnere ich mich an gar nichts mehr. Ich ging die Rue de la Michodière hinab, ich glaubte, die Leute im ›Paradies der Damen‹ machten sich über mich lustig, dieses verdammte Haus schien über mich hereinzustürzen … Als dann der Omnibus um die Ecke bog, habe ich mich einfach daruntergeworfen … «

Entsetzt über dieses Geständnis sank Frau Robineau zu Boden. Großer Gott, er hatte sich das Leben nehmen wollen! Sie ergriff die Hand Denises, die sich voll tiefsten Mitleids zu ihr hinabgebeugt hatte. Der Verwundete, durch die Aufregung erschöpft, hatte abermals das Bewußtsein verloren. Da erleichterte Frau Robineau ihr Herz.

»Ach, wenn ich Ihnen erzählen würde … Meinetwegen wollte er sterben. Fortwährend hat er gesagt: ich habe dich bestohlen, das Geld gehörte dir. In der Nacht hat er von diesen sechzigtausend Franken geträumt. Wenn er aufwachte, war er in Schweiß gebadet und machte sich die schwersten Vorwürfe; wenn man kein tüchtiger Kaufmann sei, dürfe man nicht das Geld anderer aufs Spiel setzen. Sie wissen ja, daß er immer nervös und leicht erregbar war. Schließlich sah er mich in seinen schrecklichen Träumen auf der Straße in Lumpen gehen, mich, die er so liebte, die er reich und glücklich sehen wollte … «

Sie wandte sich wieder zu ihm, und als sie sah, daß er abermals die Augen geöffnet hatte, fuhr sie mit bebender Stimme fort:

»Ach, mein Lieber, warum hast du das getan? Hältst du mich für so schlecht? Es ist mir ganz gleichgültig, ob wir ruiniert sind oder nicht. Wenn wir nur zusammenbleiben, sind wir schon glücklich. Laß sie alles nehmen, gehen wir irgendwohin, wo du nichts mehr von ihnen hörst; du wirst arbeiten, und es wird alles gut werden.«

Sie lehnte ihre Stirn an die blasse Wange ihres Mannes, und beide schwiegen. Das Geschäft schien hinter der geschlossenen Tür im Zwielicht zu schlummern. Draußen hörte man den Lärm der Straße, das Rollen der Wagen, das Gedränge auf den Bürgersteigen. Denise, die alle Augenblicke hinausschaute, rief endlich:

»Der Arzt ist da!«

Die Untersuchung ergab, daß bloß das linke Bein gebrochen war; es war ein einfacher Bruch, man brauchte keinerlei Verwicklung zu befürchten. In dem Augenblick, als sie sich anschickten, die Tragbahre in das dahinterliegende Zimmer zu bringen, erschien Gaujean, um zu berichten, daß auch der letzte Schritt, den er unternomemn hatte, fehlgeschlagen war; die Konkurserklärung war unausweichlich geworden.

»Was ist geschehen?« murmelte er.

Denise erzählte es ihm kurz. Er wurde sehr verlegen. Robineau sagte mit schwacher Stimme zu ihm:

»Ich bin Ihnen nicht böse, aber ein wenig ist es doch Ihre Schuld.«

»Mein Gott, es hätten festere Schultern dazu gehört als die unsrigen; Sie wissen, daß es mir nicht viel besser geht als Ihnen.«

Man hob die Tragbahre empor. Der Verwundete fand noch die Kraft zu sagen:

»Auch festere Schultern wären darunter zusammengebrochen. Ich begreife ja, daß die alten Starrköpfe wie Bourras und Baudu dabei auf der Strecke bleiben – aber wir, die wir jung sind und dem neuen Gang der Dinge aufgeschlossen … Nein, Gaujean, da bricht eine Welt zusammen.«

Man trug ihn fort. In einer Aufwallung, in die sich fast ein Schimmer von Freude mischte, daß die Mühsal mit dem Geschäft nun endlich vorbei war, umarmte Frau Robineau Denise. Gaujean entfernte sich mit dem jungen Mädchen und erklärte ihr unterwegs, dieser arme Teufel von Robineau habe ganz recht, es sei unsinnig, gegen das »Paradies der Damen« ankämpfen zu wollen. Auch er sei verloren, wenn er drüben nicht wieder in Gnaden aufgenommen werde. Er hatte tags zuvor bei Hutin im geheimen den ersten Schritt unternommen, aber er machte sich nicht viel Hoffnung und suchte daher Denise, deren Einfluß ihm ohne Zweifel bekannt war, für sich zu gewinnen.

 

»Mein Gott, es ist, wie Sie selbst damals sagten: Wir Fabrikanten müssen uns durch bessere Organisation und neue Verfahren dem Fortschritt anschließen. Dann wird sich alles regeln; Hauptsache, daß das Publikum zufrieden ist.«

Denise erwiderte lächelnd:

»Sagen Sie dies alles Herrn Mouret selbst, Ihr Besuch wird ihn freuen. Er ist nicht der Mann, Ihnen etwas nachzutragen, wenn Sie ihm nur einen Vorteil von einem Centime bieten.« –

An einem hellen, sonnigen Nachmittag im Januar starb Frau Baudu. Schon seit vierzehn Tagen hatte sie nicht mehr in den Laden hinuntergehen können. Sie saß in ihrem Bett, auf allen Seiten durch Kissen gestützt. Nur die Augen in ihrem blassen Gesicht verrieten noch Leben, und diese Augen waren unablässig auf das »Paradies der Damen« gegenüber gerichtet. Baudu, der selbst unter diesem Bann litt, wollte manchmal die Vorhänge herablassen. Allein sie bat ihn, es nicht zu tun, sie wollte eigensinnig bis zu ihrem letzten Atemzug dieses Schauspiel vor sich haben. Das Ungeheuer hatte ihr alles genommen, ihr Haus, ihr Kind, und sie selbst schwand Zug um Zug mit ihrem alten Geschäft dahin. Als sie fühlte, daß das Ende herannahte, bat sie ihren Mann, beide Fenster weit zu öffnen. Es war mildes Wetter, die Sonne vergoldete mit ihren Strahlen das »Paradies der Damen«, während das Zimmer in dem alten Haus der Baudus im kühlen Schatten lag. Frau Baudu starrte auf dieses Triumphgebäude hinüber, hinter dessen hellen Spiegelscheiben sich die Menschen stauten. Ihre Augen wurden glanzlos, die Finsternis senkte sich auf sie herab, und als sie im Tod erloschen, blieben sie weit offen, immer noch auf den Gegner gerichtet.

Wieder sah man den ganzen Kleinhandel des Stadtviertels in dem Trauerzug. Und hinter dem Leichenwagen schritt Baudu mit dem gleichen schwerfälligen, gemessenen Gang einher, mit dem er seine Tochter hinausgeleitet hatte. –

Denise war in letzter Zeit sehr bekümmert. Sie hatte Pépé in ein Internat geben müssen, denn Frau Gras hatte erklärt, sie könne den Jungen nicht länger behalten, er sei nun zu groß. Außerdem machte Jean ihr viel Schererei; er war dermaßen verliebt in die Nichte eines Konditors, daß er seine Schwester gebeten hatte, für ihn um deren Hand anzuhalten. Dann kam der Tod der Tante. Diese Schläge drückten das arme Mädchen zu Boden. Mouret hatte sich ihr abermals zur Verfügung gestellt und erklärt, daß er alles im vorhinein gutheiße, was sie für ihren Onkel und ihre übrigen Verwandten tun wolle. Eines Morgens hatte sie wieder eine Unterredung mit ihm, nachdem sie erfahren hatte, daß Bourras auf die Straße gesetzt worden war und Baudu im Begriff sei, den Laden zu schließen.

Nach dem Essen ging sie fort in der Hoffnung, wenigstens diesen beiden einen Trost bringen zu können. Bourras stand in der Rue de la Michodière auf dem Bürgersteig, seinem Haus gegenüber, aus dem man ihn tags zuvor vertrieben hatte. Es war ein hübscher Streich, den Mourets Rechtsanwalt da ersonnen hatte. Da Mouret mehrere Zahlungsverpflichtungen des Alten aufgekauft hatte, war es ihm schließlich ein leichtes gewesen, den Schirmhändler zum Konkurs zu treiben und bei einem Zwangsverkauf den Mietvertrag für fünfhundert Franken an sich zu bringen; so hatte der eigensinnige Alte für fünfhundert Franken hergeben müssen, was er kurz vorher nicht für hunderttausend hatte herausrücken wollen. Man hatte übrigens den Polizeikommissar holen müssen, um ihn hinauszuwerfen. Die Bestände waren verkauft, die Zimmer geräumt, er aber blieb hartnäckig in dem Winkel, wo er seine Schlafstätte hatte und aus dem man ihn aus Mitleid noch nicht verjagt hatte. Die Arbeiter gingen daran, ihm das Dach über dem Kopf abzudecken. Man riß die mit Moos überzogenen Ziegel heraus, die Decken stürzten ein, die Mauern krachten, er aber blieb. Erst als die Polizei kam, ging er endlich seines Weges. Doch schon am folgenden Morgen war er wieder auf dem Bürgersteig gegenüber erschienen, nachdem er die Nacht in einem benachbarten Hotel zugebracht hatte.

»Herr Bourras!« sagte Denise in sanftem Ton.

Er hörte sie erst gar nicht, seine flammenden Blicke verschlangen die Abbrucharbeiter, deren Spitzhacken die Fassade des armseligen Bauwerks in Angriff nahmen. Durch die leeren Fensteröffnungen konnte man jetzt in das Innere blicken, sah die elenden Zimmerchen, das finstere Treppenhaus, in das seit zweihundert Jahren kein Sonnenstrahl gedrungen war.

»Ach, Sie sind es«, sagte er endlich, als er sie erkannte. »Sie arbeiten rasch, diese Diebe, nicht wahr?«

Im Innersten bewegt durch den traurigen Anblick dieses alten Hauses, wagte sie nichts weiter zu sagen. Sie konnte selbst die Blicke nicht abwenden von diesem jammervollen Ende. Stück um Stück brach aus dem Mauerwerk und polterte zu Boden. Ganz oben, in einem Winkel des Zimmerchens, das sie einst bewohnt hatte, sah sie noch in schwarzen, unsicheren Buchstaben das Wort »Ernestine«, das einst mit Kerzenruß an die Decke geschrieben worden war, und sie erinnerte sich der traurigen Tage der Not, die sie hier verbracht hatte.

Mittlerweile waren die Arbeiter, um die Sache zu beschleunigen, auf den Gedanken gekommen, die Hacken unten anzusetzen. Die Mauer wankte.

»Wenn sie euch nur alle begraben würde!« schrie Bourras wütend.

Man vernahm ein fürchterliches Krachen, entsetzt stoben die Arbeiter nach allen Richtungen auseinander. Die Mauer stürzte nieder und riß im Fall die ganze Behausung mit. Nicht eine Zwischenwand blieb stehen; als die Staubwolke sich verzogen hatte, sah man nur mehr einen Trümmerhaufen.

»Mein Gott!« hatte der Alte aufgeschrien, als sei ihm der Schlag durch alle Glieder gefahren.

Bestürzt stand er da, niemals hätte er geglaubt, daß das Ende so rasch kommen würde. Er starrte auf die Lücke an der Seite des »Paradieses der Damen«, das endlich von dem Schandfleck befreit war.

»Herr Bourras«, fing Denise wieder an, während sie den Alten wegzuführen versuchte, »Sie wissen, daß man Sie nicht im Stich lassen wird. Es wird für Sie gesorgt werden.«

Er richtete sich hoch auf.

»Ich brauche nichts … Sie sind von diesen Herrschaften geschickt, nicht wahr? Sagen Sie ihnen, daß der alte Bourras noch arbeiten kann und Arbeit findet, wo er will. Es wäre wirklich gar zu einfach, gegenüber Leuten, die man niedergetrampelt hat, hinterher den Gnädigen zu spielen.«

»Ich bitte Sie, nehmen Sie es doch an«, flehte sie. »Tun Sie mir diesen Kummer nicht an.«

Aber er schüttelte seine Löwenmähne.

»Nein, nein, es ist aus, guten Abend … Leben Sie glücklich! Sie sind jung, hindern Sie die Alten nicht, mit ihren Ansichten dahinzugehen.«

Er warf einen letzten Blick auf den Schutthaufen, dann schlich er fort. Sie blickte ihm eine Weile nach; an der Ecke der Place Gaillon bog er ein und verschwand.

Denise stand einen Augenblick da, dann trat sie bei ihrem Onkel ein. Der Tuchhändler war allein in seinem dunklen Laden. Nur am Morgen und am Abend kam eine Haushälterin, um ihm seine einfachen Mahlzeiten zu bereiten und ihm beim Schließen der Fensterläden behilflich zu sein. Er verbrachte ganze Tage in seiner Einsamkeit, ohne daß ihn jemand störte, und wenn doch hier und da eine Kundin kam, war er so betroffen, daß er die verlangten Waren kaum zu finden vermochte.

»Geht es Ihnen besser, Onkel?« fragte Denise.

»Ja, ja, sehr gut, danke«, erwiderte er und ließ sich in seiner ewigen Wanderung von einem Ende des finsteren Ladens zum andern gar nicht stören.

»Haben Sie das Getöse gehört?« fragte sie; »das Haus nebenan ist eingestürzt.«

»Ach ja«, murmelte er mit erstaunter Miene, »es muß das Haus gewesen sein. Ich fühlte, wie der Boden zitterte … Als ich heute morgen die Arbeiter auf dem Dach sah, habe ich meine Tür geschlossen.«

Er machte eine Geste, als ob er sagen wollte, daß diese Dinge ihn nicht mehr interessierten.

Jedesmal wenn er an der Kasse vorbeikam, betrachtete er das leere Bänkchen, auf dem seine Frau und seine Tochter so lange gesessen hatten. Das Haus war verwaist; alle, die er geliebt hatte, waren fort, und sein Geschäft stand vor einem schmählichen Ende. Sein regelmäßiger, schwerer Schritt hallte zwischen den alten Mauern wider, als wanderte er auf dem Grab seiner Liebe herum.

Endlich wagte Denise auf den Zweck ihres Besuchs zu kommen.

»Sie können nicht länger hier bleiben, Onkel, Sie müssen einen Entschluß fassen.«

Ohne in seinem Auf und Ab innezuhalten, erwiderte er:

»Ganz recht, aber was soll ich anfangen? Ich habe versucht, auszuverkaufen, aber es ist niemand gekommen … Mein Gott, eines Morgens werde ich schließen und meiner Wege gehen.«

Sie wußte, daß ein Bankrott nicht mehr zu befürchten war. Die Gläubiger hatten es angesichts dieser Schicksalsschläge vorgezogen, sich zu vergleichen. Wenn alles bezahlt war, saß der Onkel ganz einfach auf der Straße.

»Aber was werden Sie dann tun?« murmelte sie, um einen Übergang zu dem Anerbieten zu finden, das sie nicht auszusprechen wagte.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Man wird mich wohl irgendwo auflesen.«

»Hören Sie, Onkel«, stotterte Denise endlich verlegen, »es gäbe vielleicht eine Inspektorstelle für Sie … «

»Wo denn?« fragte Baudu.

»Mein Gott, drüben bei uns; sechstausend Franken und keine anstrengende Arbeit.«

Er blieb plötzlich vor ihr stehen; aber anstatt böse zu werden, wie sie befürchtet hatte, war er vor schmerzlicher Erregung blaß geworden.

»Drüben, drüben?« stammelte er wiederholt. »Du willst, daß ich drüben eintrete?«

Denise war selbst tief bewegt. Sie sah im Geist den langen Kampf der beiden Geschäfte vor sich, sie meinte wieder am Leichenzug ihrer Kusine Geneviève und ihrer Tante teilzunehmen, sie stand hier in diesem Geschäft, dem das »Paradies der Damen« den Garaus gemacht hatte. Und der Gedanke, daß ihr Onkel nun drüben als Inspektor sein Leben beschließen sollte, drückte ihr das Herz ab.

»Wäre so etwas möglich, Denise, mein Kind?« sagte er einfach, während er seine zitternden Hände ineinanderlegte.

»Nein, nein, Onkel«, rief sie in einer Aufwallung ihres gütigen und gerechten Wesens. »Das wäre schlimm; verzeihen Sie mir bitte!«

Sie ging, und er nahm seinen Weg durch das leere, grabesstille Haus wieder auf.

Denise verbrachte abermals eine schlaflose Nacht. Sie hatte ihre Ohnmacht eingesehen, selbst den Ihren konnte sie keine Hilfe bringen. Sie mußte dem Leben seinen Lauf lassen. Ergeben schickte sie sich drein, sie wehrte sich nicht länger, aber ihr weiches Herz war von unendlichem Mitgefühl mit all den Leidenden erfüllt. Seit Jahren befand sie sich selbst zwischen den Zahnrädern der Maschine. Hatte nicht auch sie dabei gelitten, war nicht auch sie gequält, verhöhnt, herumgestoßen worden? Mouret hatte dieses ungeheure Triebwerk geschaffen, er hatte das ganze Stadtviertel mit Ruinen übersät, die einen geplündert, die anderen umgebracht. Und sie liebte ihn dennoch, gerade um der Größe seines Werkes willen.