50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Kapitel Ein­hundert­acht

Nagelneu dehnte sich in der klaren Februarsonne die Rue du Dix-Décembre mit ihren kreideweißen Häusern und den letzten Gerüsten einiger verspäteter Neubauten. Eine Flut von Wagen fuhr wie im Triumph durch diese breite, lichte Bresche, die in das alte Stadtviertel von Saint-Roch geschlagen war. Zwischen Rue de la Michodière und Rue de Choiseul ballte sich die Menge, deren Neugier seit einem Monat durch die ständige Reklame aufgestachelt worden war; man drängte sich vor der monumentalen Fassade des »Paradieses der Damen«, die an diesem Montag anläßlich der großen Weißwarenausstellung eingeweiht wurde.

Sie bot ein großzügiges, farbenprächtiges Bild, das wie eine riesige, leuchtende Auslage die Blicke der Vorübergehenden anzog. Das Erdgeschoß war mit Absicht einfacher gehalten, damit es die Wirkung der Waren in den Schaufenstern nicht beeinträchtigte: ein Sockel aus grünem Mamor, Eck- und Stützpfeiler mit schwarzem Marmor verkleidet, im übrigen nichts als eine endlose Reihe von Glasscheiben, die dem Beschauer gleichsam das ganze Haus im offenen Tageslicht darboten. Erst die oberen Stockwerke waren mit einer Vielfalt von Mosaiken und den vergoldeten Stadtwappen Frankreichs geschmückt, bis hinauf zum Giebel, an dem eine Reihe von Statuen die großen Industriestädte des Landes darstellte. Über dem Haupteingang aber, der sich wölbte wie ein Triumphbogen, erhob sich als besonderer Anziehungspunkt für die Menge der Neugierigen eine weibliche Gestalt, die Frau schlechthin, umschwärmt von einer ganzen Schar sie einkleidender und liebkosender Amoretten.

Der Palast war fertig, der Tempel für die verschwenderischen Launen der Mode errichtet. Er überschattete und beherrschte gleichsam ein ganzes Stadtviertel. Die Wunde, die der Abbruch des Hauses von Bourras ihm geschlagen hatte, war bereits so gut vernarbt, daß man vergebens die Stelle gesucht hätte, wo das Geschwür gesessen hatte. Die vier Fronten zogen sich jetzt ohne jede Unterbrechung in ihrer ganzen prächtigen Abgeschlossenheit längs der vier Straßen hin.

Gegenüber, am »Vieil Elbeuf«, waren die Läden geschlossen, seit Baudu in ein Altersheim gegangen war; das Haus barg sich wie eine Gruft hinter seiner leblosen Front. Lediglich in der Mitte dieser toten Wand breitete sich wie eine Siegesfahne ein großes, gelbes Plakat aus, das in halbmeterhohen Buchstaben den Sonderverkauf im »Paradies der Damen« anzeigte. Im Vordergrund der Abbildung sah man die Rue du Dix-Décembre, die Rue de la Michodière und die Rue Monsigny, angefüllt mit kleinen, schwarzen Gestalten und unwirklich ins Breite verzerrt, wie um der Kundschaft der ganzen Welt Platz zu bieten. Der Bau selbst war in übertriebener Größe dargestellt, er schien, aus der Vogelperspektive gesehen, im gleißenden Sonnenlicht dazuliegen. Jenseits davon breitete sich Paris aus, ein verkleinertes, von dem Ungeheuer schon halb verschlungenes Paris: die Häuser in der Nähe waren klein wie Hütten, weiter in der Ferne verwandelten sie sich in ein kaum unterscheidbares Gewirr von Umrissen, immer winziger werdend, bis sie sich in der endlos am Horizont sich dehnenden Ebene verloren.

Seit dem Morgen hatte die Menge stetig zugenommen. Um zwei Uhr mußte schließlich eine Abteilung von Polizisten einschreiten, um den Verkehr aufrechtzuerhalten. Kein Warenhaus hatte je durch einen solchen Aufwand an Reklame die Stadt in Aufregung versetzt. Das »Paradies der Damen« gab jetzt jährlich nahezu sechshunderttausend Franken für Anzeigen und Plakate aus; vierhunderttausend Kataloge wurden jedes Jahr versandt; für hunderttausend Franken Stoffe wurden als Muster zerschnitten.

Was die Neugierde noch mehr aufstachelte, war eine Katastrophe, von der im Augenblick ganz Paris sprach: der Brand der »Vier Jahreszeiten«, jenes großen Warenhauses, das Bouthemont in der Nähe der Oper vor kaum drei Wochen eröffnet hatte. Die Zeitungen brachten eine Fülle von Einzelheiten: wie das Feuer durch eine nächtliche Gasexplosion entstanden war, wie die entsetzten Verkäuferinnen im Hemd geflüchtet waren, wie Bouthemont fünf von ihnen heldenmütig auf seinen Armen aus dem Brand getragen hatte. Der enorme Schaden war übrigens durch eine Versicherung gedeckt; das Publikum zuckte die Achseln und sagte, das sei eine vorzügliche Reklame. Und sofort wandte das Interesse sich wieder dem »Paradies der Damen« zu. Diesem Mouret gelang doch alles! Es war, als stünden ihm sogar die Flammen zu Diensten und bemühten sich, ihm die Konkurrenz aus dem Weg zu räumen. Man erging sich in Berechnungen, wieviel er in diesem Monat verdienen würde, man schätzte den um so breiteren Menschenstrom ab, der sich nun durch seine Türen wälzen mußte, da der Gegenspieler notgedrungen hatte schließen müssen.

Einen Augenblick war Mouret beunruhigt gewesen durch den Gedanken, daß Frau Desforges, der er gewissermaßen sein Vermögen verdankte, jetzt gegen ihn war. Auch die finanzielle Spielerei Baron Hartmanns, der sein Kapital in zwei Konkurrenzunternehmen anlegte, verdroß ihn. Hauptsächlich aber ärgerte ihn, daß er nicht selber auf eine geniale Idee Bouthemonts gekommen war: hatte dieser Bursche doch den Einfall gehabt, sein Haus vom Pfarrer der Madeleine-Kirche einweihen zu lassen! Es war eine ganz merkwürdige Feier gewesen, das Allerheiligste mitten unter Korsetts und Damenkleidern. Die Zeremonie hatte freilich nicht verhindert, daß das Warenhaus abbrannte, aber sie war als Reklame mehr wert als Anzeigen für eine Million Franken. Mouret träumte seither davon, zu sich den Erzbischof kommen zu lassen.

Auf der riesigen Uhr über dem hohen Portal schlug es drei. An die hunderttausend Käuferinnen drängten sich um diese Zeit in den Gängen und Hallen. Draußen stand Wagen an Wagen, vom einen Ende der Rue du Dix-Décembre bis zum andern. Jede entstehende Lücke in der Reihe füllte sich sogleich wieder. Vor dem Getümmel der Wagen und Pferde flüchteten die erschreckten Fußgänger auf die Verkehrsinseln, die Bürgersteige waren schwarz von Leuten, es war ein unvorstellbarer Tumult.

Vor einem Schaufenster stand neben Frau Guibal Frau von Boves mit ihrer Tochter Blanche, beide in Bewunderung versunken.

»Schau, Mama, diese Leinenkostüme zu neunzehn Franken fünfundsiebzig!«

»Sie sind auch nicht mehr wert«, sagte Frau Guibal geringschätzig. »Diese Fähnchen gehen schon beim Ansehen entzwei.«

Seitdem Herr von Boves, von der Gicht geplagt, an einen Sessel gefesselt war, waren die Damen intime Freundinnen geworden. Die Gattin ließ sich die Geliebte gefallen; es war ihr sogar angenehmer, wenn die Sache in ihrem Haus stattfand, denn sie bekam dabei etwas Taschengeld in die Hand, kleine Summen, die ihr Mann opferte, da er auf ihre Nachsicht angewiesen war.

»Kommen Sie mit hinein«, sagte Frau Guibal, »sehen wir uns die Ausstellung an … Wollte sich Ihr Schwiegersohn nicht hier mit Ihnen treffen?«

»Ja«, antwortete Blanche anstelle der Mutter. »Paul holt uns, wenn er aus dem Büro kommt, um vier Uhr im Lesesaal ab.«

Sie waren seit einem Monat verheiratet. Vallagnosc hatte einen dreiwöchigen Urlaub erhalten, den sie im Süden verbracht hatten; seit einer Woche war er wieder auf seinem Posten. Die junge Frau hatte bereits die Fülle ihrer Mutter, sie schien durch die Ehe noch mehr in die Breite zu gehen.

»Da ist ja Frau Desforges!« rief die Gräfin und zeigte auf einen eben haltenden Wagen.

»Unglaublich!« sagte Frau Guibal. »Nach allem, was geschehen ist … Sie muß doch noch über den Brand der ›Vier Jahreszeitein‹ trauern!«

Es war wirklich Henriette. Sie bemerkte die Damen, näherte sich ihnen mit heiterer Miene und verbarg ihren Unmut unter der geheuchelten Liebenswürdigkeit der Dame von Welt.

»Mein Gott, ich habe mir die Sache auch ansehen wollen. Das ist doch besser, als es sich erzählen zu lassen«, erklärte sie.

»Oh, ich stehe nach wie vor auf gutem Fuß mit Herrn Mouret, obgleich man sagt, daß er wütend sei, seitdem ich an der Konkurrenz interessiert bin. Ich kann ihm nur eines nicht verzeihen, und das ist diese Heirat. Sie wissen doch, die Heirat des Laufburschen Joseph mit meinem Schützling, Fräulein von Fontenailles.«

»Wie, ist es passiert?« fragte Frau von Boves. »Abscheulich!«

»Ja, meine Liebe, und das hat er nur getan, um uns einen Hieb zu versetzen. Ich kenne ihn, er hat damit sagen wollen, daß unsere wohlerzogenen Töchter zu nichts anderem taugen, als seine Laufburschen zu heiraten.«

Sie ereiferten sich immer mehr. Alle vier standen auf dem Bürgersteig, wo sie von der Menge hin und her gedrängt wurden. Allmählich gerieten sie in den allgemeinen Sog; sie brauchten sich ihm nur zu überlassen und wurden unbewußt durch die Tür hineingetragen. Die Unterhaltung wurde lauter, da sie sich in dem zunehmenden Lärm nur mehr schwer verständlich machen konnten.

Vor ihnen breiteten sich nun die Geschäftsräume aus, die größten der Welt, wie es in der Reklame hieß. Ihre Blicke waren wie gebannt von dem Schauspiel: rings um sie her gleichsam eine schneeige Landschaft, unendliche Gletscher von schimmerndem Weiß, eine gleißende Vielfalt von Stoffen und Fertigwaren — immer wieder in makellosestem Weiß. Die Tische verschwanden unter der blendenden Fülle, Seiden und zarte Musseline schmiegten sich weich an die Säulen, eine Flut der kunstvollsten Spitzen ergoß sich in breiten Wellen vom Gewölbe herab. So weit das Auge blickte, nichts als Weiß und doch niemals das gleiche Weiß.

»Wunderbar!« wiederholten die Damen ein ums andere Mal. Es war Mourets Glanzleistung, das genialste Werk seiner Ausstellungskunst.

Das rege Treiben in den Geschäftsräumen ließ nicht nach. Die Aufzüge wurden belagert; im Erfrischungsraum und im Lesesaal war es zum Brechen voll, ein ganzes Volk schien sich hier ein Stelldichein gegeben zu haben. Die Menge bildete lauter dunkle Punkte im schneeigen Weiß der Dekorationen; man glaubte Schlittschuhläufer auf einem zugefrorenen See zu erblicken. Im Erdgeschoß herrschte ein verworrenes Wogen, belebt durch Ebbe und Flut; man sah nichts als die erregten, entzückten Gesichter der Frauen. Dabei herrschte, besonders in den oberen Stockwerken, eine wahre Treibhaushitze. Das Gesumm der vielen tausend Stimmen war wie das Rauschen eines angeschwollenen Stroms.

 

»Wir müssen sehen, daß wir vorwärtskommen«, sagte Frau von Boves. »Wir können doch nicht ewig auf einem Fleck bleiben.«

Der Inspektor Jouve, der in der Nähe der Tür stand, hatte sie seit ihrem Eintritt nicht mehr aus den Augen gelassen. Als sie sich einen Moment umwandte, kreuzten sich ihre Blicke. Und sobald die Damen weitergingen, folgte er in einiger Entfernung, anscheinend ohne sich weiter um sie zu kümmern.

»Schauen Sie, das ist ein netter Gedanke!« rief Frau Guibal, die vor der ersten Kasse stehenblieb.

Sie sprach von der neuesten Aufmerksamkeit, die Mouret ersonnen hatte und von der in den Zeitungen viel die Rede war. Sie bestand in kleinen Sträußen von weißen Veilchen, die er zu Tausenden in Nizza gekauft hatte und nun jeder Kundin, selbst für den geringsten Einkauf, überreichen ließ. Allmählich waren alle Damen mit Blumen geschmückt, deren Duft die Räume erfüllte.

»Ja«, bemerkte Frau Desforges nicht ohne Neid, »der Gedanke ist gut.«

In dem Augenblick, als die Damen ihren Weg fortsetzen wollten, hörten sie hinter sich zwei Angestellte über die Veilchen ihre Scherze machen. Nun sei es also wohl soweit mit der Heirat zwischen dem Chef und der Direktrice aus der Kinderabteilung? meinte der eine, ein langer Bursche. Je nun, erwiderte der andere, ein kleiner Dicker, man könne noch nichts Bestimmtes sagen; immerhin seien die Veilchen gekauft worden.

»Wie«, rief Frau von Boves, »Herr Mouret heiratet?«

»Ja, das ist das Neueste«, sagte Frau Desforges gleichgültig; »aber schließlich ist es ja das Ende vom Lied.«

Die Gräfin sandte ihrer neuen Freundin einen verständnisinnigen Blick zu. Jetzt begriffen beide, weshalb Frau Desforges trotz des offenen Bruchs in das »Paradies der Damen« gekommen war: sie wollte offenbar sehen und leiden.

»Ich bleibe bei Ihnen«, sagte Frau Guibal, deren Neugierde erwacht war. »Wir werden Frau von Boves im Lesesaal wiedertreffen.«

»Gut«, erklärte die Gräfin. »Ich habe im ersten Stock zu tun. Kommst du, Blanche?«

Sie ging, von ihrer Tochter gefolgt, hinauf, während Jouve, um nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ihr auf einer anderen Treppe folgte. Frau Desforges und Frau Guibal verloren sich im dichten Gewühl des Erdgeschosses.

Inmitten des Verkaufsrummels sprach man an allen Tischen von nichts anderem als von der Liebesgeschichte des Chefs. Das Abenteuer, das die Angestellten seit Monaten beschäftigte, hatte wieder einmal zu einem Zusammenstoß geführt. Man hatte erfahren, daß Denise trotz der Bitten Mourets im Begriff sei, das »Paradies der Damen« zu verlassen, unter dem Vorwand, sie brauche Erholung. Und wieder stand Meinung gegen Meinung. Würde sie gehen – würde sie nicht gehen? Man begann um hundert Sous Wetten abzuschließen. Über einen Punkt aber herrschte Einigkeit: das Mädchen zeigte ganz offenkundig die Stärke einer angebeteten Frau, die sich nicht ergeben will; der Chef hinwiederum hatte seinen Reichtum, seine Freiheit als Witwer und schließlich seinen Stolz dagegenzusetzen, der sich bei einer übertriebenen Forderung doch aufbäumen konnte. Jedenfalls hatte die Kleine ihre Sache mit vollendeter Raffinesse betrieben, und nun spielte sie die letzte Karte aus, indem sie ihn vor die Entscheidung stellte: Heirate mich, oder ich gehe!

Denise aber dachte gar nicht an solche Dinge. Sie kannte keine Berechnung und keine Forderungen. Gerade daß man so über sie sprach, bewog sie zum Gehen. Hatte sie das alles gewollt? War sie listig, kokett, ehrgeizig gewesen? Sie war doch einfach gekommen und selbst höchlichst erstaunt gewesen, daß ihr eine solche Liebe zuteil wurde. Warum wollte man heute in ihrem Entschluß, das »Paradies der Damen« zu verlassen, wieder einen geschickten Schachzug sehen? Es war doch so natürlich! Der ewige Tratsch, die hartnäckigen Bewerbungen Mourets hatten ihre Stellung unhaltbar gemacht, und sie zog es vor, zu gehen, aus Furcht, daß sie eines Tages doch nachgeben und es dann ihr ganzes Leben lang bereuen könnte. Wenn darin ein Zug von Raffinesse lag, so wußte sie nichts davon, sie fragte sich bekümmert, was sie denn nur anfangen sollte, um nicht den Anschein zu erwecken, sie wolle sich einen Ehemann angeln! Der Gedanke an eine Heirat brachte sie jetzt auf; sie war entschlossen, abermals nein, immer nein zu sagen, wenn er die Torheit so weit treiben sollte. Niemand sollte um ihretwillen ein Opfer bringen. Die Notwendigkeit der Trennung ließ die Tränen in ihr aufsteigen; doch sie sagte sich mutig, es müsse sein, wenn sie anders handelte, würde sie keine Ruhe und keine Freude mehr finden.

Als sie Mouret gekündigt hatte, war er wie erstarrt gewesen, nur mühsam imstande, seine Erregung zu meistern. Dann hatte er trocken bemerkt, daß er ihr acht Tage Bedenkzeit gewähre, bevor er seine Einwilligung zu einer solchen Torheit gebe, und als sie nach Verlauf dieser acht Tage bei ihrem Entschluß beharrt und erklärt hatte, sie wolle nach dem großen Sonderverkauf gehen, schien er sich etwas beruhigt zu haben. Er verlegte sich auf vernünftige Argumente: sie verscherze ihr Glück, sagte er, sie werde nirgends mehr eine Stellung finden, wie sie sie bei ihm gehabt habe. Hatte sie denn etwas anderes in Aussicht? Er war bereit, ihr alle Vorteile zu bieten, die sie woanders bekommen würde; und als Denise erwiderte, sie habe sich noch gar nicht umgesehen, sondern wolle erst einmal einen Monat in Valognes ausruhen, fragte er, was sie denn daran hindere, nachher wieder ins »Paradies der Damen« zurückzukehren? Gequält von diesem Verhör, schwieg sie beharrlich. Da beschlich ihn der Gedanke, daß sie vielleicht einen Liebhaber, einen zukünftigen Gatten aufsuchen wollte. Hatte sie ihm nicht eines Abends gestanden, daß sie jemanden liebte, ein Geständnis, das er seither wie eine offene Wunde im Herzen trug? Und wenn dieser Mann sie heiraten wollte, würde sie alles verlassen, um ihm zu folgen; daher ihre Hartnäckigkeit. Es war also alles aus! Sachlich und kühl fügte er hinzu, daß er sie nicht länger zurückzuhalten beabsichtige, da sie ihm die wahre Ursache ihrer Kündigung nicht sagen wolle. Und diese trockene Antwort verwirrte sie mehr als eine heftige Szene, die sie befürchtet hatte.

Während der Woche, die Denise noch in der Firma verbringen sollte, zeigte Mouret eine eisige Kälte. Wenn er durch die Abteilung ging, tat er, als sähe er sie gar nicht. Niemals schien er mehr in seiner Arbeit aufzugehen als jetzt. Allein unter dieser scheinbaren Kälte verbargen sich Unentschlossenheit und Leid. Maßlose Zornesanwandlungen trieben ihm alles Blut in den Kopf, er träumte davon, Denises Widerstand zu ersticken, sie mit Gewalt zu nehmen. Dann wurde er wieder vernünftig und suchte nach praktischen Mitteln, um sie am Fortgehen zu hindern. Allein er war ohnmächtig, all seine Stärke und sein Geld nützten ihm nichts. Allmählich indessen setzte sich ein Gedanke in ihm fest. Nach dem Tod von Frau Hédouin hatte er sich geschworen, nie wieder zu heiraten. Sein erstes Glück stammte von einer Frau, und er war entschlossen, auch seine zukünftigen Erfolge nur auf den Frauen aufzubauen. Es war bei ihm wie bei Bourdoncle eine Art Aberglaube, daß der Leiter eines großen Modewarenhauses unverheiratet bleiben müsse, wenn er seine Macht über die Kundinnen bewahren wolle: eine Frau im Haus vertreibe die anderen. Und er stemmte sich innerlich gegen den folgerichtigen Ablauf der Dinge, er wollte lieber sterben als nachgeben, und eine geheime Wut gegen Denise ergriff ihn. Er fühlte genau, daß sie die Rache verkörperte, und fürchtete, an dem Tag, da er sie heiratete, besiegt über seinen Millionen zusammenzubrechen, geknickt wie ein Strohhalm. Dann wurde er allmählich wieder schwach. Wovor hatte er denn solche Angst? Sie war so sanft und vernünftig, daß er sich ihr ohne Furcht überlassen konnte. Und zwanzigmal in der Stunde begann dieser Kampf in seinem Innern von neuem. Er verlor schließlich vollends die Vernunft, wenn er daran dachte, daß sie selbst nach dieser äußersten Unterwerfung nein sagen könnte. Am Morgen des großen Sonderverkaufs hatte er noch immer keinen Entschluß gefaßt, und am nächsten Tag sollte Denise gehen.

Als Bourdoncle an diesem Montag gegen drei Uhr nachmittags in Mourets Arbeitszimmer trat, saß dieser, die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt und die Hände an die Augen gepreßt, so in Gedanken versunken da, daß Bourdoncle ihn an der Schulter berühren mußte, um sich bemerkbar zu machen. Mouret hob sein tränenfeuchtes Gesicht, die beiden sahen sich an, dann drückten sie sich die Hände als alte Kampfgenossen, die miteinander im Handel so manche Schlacht geschlagen hatten. Bourdoncle hatte seit einem Monat seine Haltung vollständig geändert. Er beugte sich vor Denise, ja er trieb den Chef insgeheim an, er solle sie heiraten. Ohne Zweifel tat er das, um nicht durch eine Macht hinweggefegt zu werden, die der seinen überlegen war. Doch auf dem Grund dieses Sinneswandels hätte man noch etwas anderes finden können, und zwar das Wiedererwachen seines Ehrgeizes, die unbestimmte, aber allmählich erstarkte Hoffnung, nun seinerseits Mouret unterzukriegen, vor dem er so lange den Nacken gebeugt hatte. Das lag gewissermaßen in der Luft dieses Hauses. Der ewige Kampf ums Dasein weckte den Appetit, ließ ihn zur Gefräßigkeit werden, die von unten nach oben die Mageren antrieb, die Fetten aufzufressen. Nur eine Art scheue Furcht, sein Glück aufs Spiel zu setzen, hatte Bourdoncle bisher daran gehindert, zuzuschnappen. Der Chef wurde jetzt zum Kind, er schlitterte in eine unsinnige Heirat hinein, war im Begriff, sein Glück zu vernichten, den Zauber, den er auf die Kundschaft ausübte, zu zerstören. Warum sollte er ihn davon abhalten, wenn er selber die Erbschaft antreten konnte, sobald der andere erledigt in die Arme einer Frau gesunken war? Wie in kameradschaftlichem Mitgefühl drückte er ihm die Hand und sagte:

»Nur Mut, zum Teufel! Heiraten Sie sie, und die Quälerei hat ein Ende.«

Doch Mouret hatte sich schon wieder gefaßt. Er erhob sich und widersprach.

»Nein, nein, es ist zu dumm! — Kommen Sie, wir wollen die Runde durchs Geschäft machen. Der Verkauf läuft schon, ich denke, es wird ein prächtiger Tag.«

Sie gingen hinaus und traten ihren Rundgang durch die übervollen Abteilungen an. Bourdoncle betrachtete ihn argwöhnisch von der Seite, beunruhigt durch diesen letzten Anflug von Tatkraft.

In der Kinderabteilung drängten sich zahllose Mütter mit ihren Kleinen, die fast verschwanden unter der Flut von Sachen, die man ihnen anprobierte. Auch Frau Bourdelais war da mit ihren drei Kindern, Madeleine, Edmond und Lucien; sie ärgerte sich eben über den Jüngsten, weil er nicht ruhig stehen wollte, während Denise sich bemühte, ihm ein weißes Jackett überzuziehen.

»So halt doch still! — Glauben Sie nicht, Fräulein, daß es etwas zu eng ist? Es ist so schwer, für diese kleinen Leutchen das Richtige zu finden … Dann brauchen wir noch einen Mantel für mein Töchterchen.«

Denise war eben im Begriff, einen Mantel für Madeleine zu suchen, als sie einen Ruf der Überraschung ausstieß.

»Wie, du bist es? Was ist denn los?«

Ihr Bruder Jean, mit einem Paket in der Hand, stand vor ihr. Er war seit acht Tagen verheiratet, und seine Frau, eine kleine Brünette mit reizendem Gesicht, hatte letzten Samstag einen langen Besuch im »Paradies der Damen« gemacht, um verschiedenes einzukaufen. Das junge Ehepaar sollte Denise nach Valognes begleiten. Es sollte eine regelrechte Hochzeitsreise werden.

»Denke dir«, sagte er, »Thérèse hat eine Menge Sachen vergessen. Ein paar sind auch umzutauschen, und da sie selbst sehr viel zu tun hat, hat sie mich mit diesem Paket hergeschickt. Ich will dir erklären … «

Doch sie unterbrach ihn, als sie auch Pépé bemerkte.

»Wie — Pépé hier? Und was ist mit dem Internat?«

»Meiner Treu«, sagte Jean, »er war doch zum Wochenende bei uns, und da hab ich es nicht fertiggebracht, ihn wieder zurückzubringen; er will erst am Abend hin. Der arme Kerl ist traurig genug, daß er in Paris eingesperrt bleiben muß, während wir eine Vergnügungsreise machen.«

Denise lächelte, obgleich die Arbeit ihr fast über den Kopf wuchs. Sie überließ Frau Bourdelais einer ihrer Verkäuferinnen und begab sich mit ihren Brüdern in einen Winkel der Abteilung, wo das Gedränge weniger stark war. Die Kleinen, wie sie sie nach wie vor nannte, waren recht stattliche Burschen geworden. Pépé, zwölf Jahre alt, ein hübscher Junge in seinem Internatsanzug, war schon größer als sie selbst, allein immer noch zart und anschmiegsam. Jean war breitschultrig und kräftig geworden, er überragte sie um einen ganzen Kopf; dennoch hatte er seine ganze frauenhafte Schönheit behalten. Die kleine und zarte Schwester bewahrte ihnen gegenüber die mütterliche Autorität und behandelte sie weiterhin wie große Jungen, die man betreuen muß. Sie tadelte Jean, weil er seine Jacke nicht ordentlich zugeknöpft hatte, und überzeugte sich, ob Pépé auch ein reines Taschentuch bei sich habe. Als sie sah, daß der Jüngere geweint hatte, schalt sie ihn freundlich aus.

 

»Sei doch gescheit, Kleiner, man darf seine Schulstunden nicht schwänzen; in den Ferien will ich dich mitnehmen. Soll ich dir etwas Taschengeld geben?«

Dann wandte sie sich zum andern:

»Du verdrehst ihm den Kopf, indem du ihm erzählst, daß wir eine Vergnügungsreise machen. Sei doch du wenigstens vernünftiger!«

Sie hatte dem älteren Bruder viertausend Franken, die Hälfte ihrer Ersparnisse, gegeben, damit er seinen Haushalt einrichten konnte. Der jüngere kostete sie im Internat viel Geld. Sie gab wie eh und je ihren ganzen Verdienst für die Brüder aus, lebte und arbeitete nur für sie, entschlossen, niemals zu heiraten.

»Da ist vor allem in diesem Paket der havannabraune Mantel, den Thérèse –«

Er unterbrach sich, und als Denise sich umwandte, um festzustellen, was Jean die Rede verschlagen hatte, sah sie Mouret hinter sich stehen.

Er beobachtete schon seit einer Weile, wie sie mit den beiden Jungen umging, sie bald ausschalt, bald zärtlich bemutterte. Bourdoncle war abseits stehengeblieben, scheinbar widmete er sich ganz dem Verkauf, in Wirklichkeit aber ließ er kein Auge von dieser Szene.

»Das sind Ihre Brüder?« fragte Mouret. Sein Ton war kalt, wie immer, wenn er jetzt mit ihr sprach.

Denise zuckte zusammen, dann erwiderte sie, bemüht, ebenso kühl zu erscheinen:

»Ja, Herr Mouret. Ich habe den älteren verheiratet, und jetzt schickt ihn seine Frau wegen verschiedener Einkäufe her.«

Mouret betrachtete die drei immer noch, schließlich sagte er: »Der jüngere ist ordentlich in die Höhe geschossen. Ich erinnere mich, ihn eines Abends mit Ihnen in den Tuilerien gesehen zu haben.«

Seine Stimme wurde bei diesen Worten gedämpfter, sie zitterte ein wenig. Denise bückte sich verwirrt und tat, als müsse sie Pépés Gürtel in Ordnung bringen. Die beiden Brüder erröteten und lächelten dem Chef ihrer Schwester zu.

»Sie sehen Ihnen sehr ähnlich«, bemerkte Mouret weiter.

»Oh«, rief Denise, »sie sind viel hübscher als ich!«

Er schien einen Augenblick die Gesichter vergleichen zu wollen. Doch er war mit seiner Kraft am Ende. So sehr liebte sie sie, diese Kinder … Er ging ein paar Schritte weiter, kehrte indessen um und flüsterte ihr zu:

»Kommen Sie nach Geschäftsschluß in mein Arbeitszimmer. Ich habe mit Ihnen zu sprechen, bevor Sie abreisen.«

Dann entfernte er sich und nahm seinen Rundgang wieder auf. Von neuem begann der Kampf in seinem Innern. Die Verabredung mit ihr wühlte ihn auf. Welcher Regung hatte er da nur wieder nachgegeben? Es war doch lächerlich, er hatte ja gar keinen eigenen Willen mehr. Nun, er wollte ihr wenigstens ein paar Abschiedsworte sagen.

Bourdoncle, der sich ihm aufs neue angeschlossen hatte, schien seine Unruhe nicht zu teilen. Dennoch beobachtete er Mouret auch weiterhin.

Denise hatte sich mittlerweile wieder zu Frau Bourdelais begeben.

»Paßt der Mantel?« fragte sie.

»O ja, sehr gut. Für heute hätte ich genug. Diese Kinder ruinieren einen ja vollständig.«

Denise konnte sich nun um Jean kümmern und begleitete ihn in die verschiedenen Abteilungen, wo er sich ohne Führung gewiß nicht zurechtgefunden hätte. Vor allem wollte Thérèse den havannabraunen Mantel gegen einen weißen, aber im gleichen Schnitt, umtauschen. Das Mädchen hatte das Paket genommen und begab sich, von den beiden Brüdern begleitet, in die Konfektionsabteilung. Hier sah man nur wenige Kundinnen. Fast sämtliche Verkäuferinnen waren neu. Claire war seit einem Monat verschwunden; die einen sagten, der Mann einer Kundin habe sie entführt, die anderen hingegen versicherten, sie sei unter die Straßenmädchen gegangen. Marguerite wollte endlich nach Grenoble zurückkehren, um dort die Leitung eines kleinen Ladens zu übernehmen, in dem ihr Vetter sie erwartete. Nur Frau Aurélie blieb noch, unverändert und unwandelbar in dem glatten Panzer ihres Seidenkleids, das Gesicht maskenhaft starr wie eh und je. Die schlechte Aufführung ihres Sohnes Albert machte ihr allerdings viel Kummer, und sie hätte sich bereits auf ihr Landgut zurückgezogen, wenn dieser Taugenichts von Sohn sie nicht um ein gut Teil ihrer Ersparnisse gebracht hätte. Schon richtete Bourdoncle zuweilen scheele Blicke auf sie; er war überrascht zu sehen, daß sie nicht so viel Takt besaß, sich rechtzeitig zurückzuziehen, denn sie war zu alt für den Verkauf. Bald würde für die ganze Familie Lhomme die Stunde schlagen.

»Wie, Sie sind es?« sagte sie mit übertriebener Liebenswürdigkeit zu Denise. »Sie wollen diesen Mantel umtauschen? Aber natürlich, sofort. Ah, da sind ja Ihre Brüder! Sie sind recht groß geworden.«

Ungeachtet ihres Stolzes hätte sie sich am liebsten vor Denise auf die Knie geworfen, um ihr den Hof zu machen. In der Konfektionsabteilung sprach man jetzt von nichts anderem mehr als von dem bevorstehenden Weggang des Mädchens; die Direktrice wurde ganz krank davon, denn sie hatte mit der Fürsprache ihrer ehemaligen Verkäuferin gerechnet.

»Man sagt, Sie wollen uns verlassen?« flüsterte sie. »Das ist wohl nicht möglich.«

»Doch, doch«, erwiderte das Mädchen.

Marguerite hatte zugehört; nun trat sie näher und sagte:

»Sie haben recht, das Wichtigste ist die Selbstachtung. Ich wünsche Ihnen alles Gute, meine Liebe.«

Es kamen einige Kundinnen, und Frau Aurélie forderte sie ziemlich barsch auf, sich um die Damen zu kümmern.

Als Denise den Mantel nahm, um den Umtausch selbst zu erledigen, wollte Frau Aurélie das nicht zulassen, sondern rief eine der Aushilfskräfte herbei. Diese Neuerung hatte man ebenfalls Denise zu verdanken; dadurch wurden die Verkäuferinnen entlastet.

»Begleiten Sie das Fräulein«, sagte die Direktrice und reichte der Aushilfe den Mantel.

Dann wandte sie sich wieder zu Denise und meinte:

»Ich bitte Sie, überlegen Sie sich die Sache noch ein wenig. Wir sind alle untröstlich über Ihren Weggang.«

Jean und Pépé folgten ihrer Schwester; in der Wäscheabteilung trafen sie Pauline, die, kaum daß sie Denise bemerkt hatte, auch schon mit Fragen über sie herfiel. Sie schien sehr bewegt. Was war es denn nun mit den Gerüchten, die über Denises Weggang im ganzen Haus umliefen?

»Sie werden bei uns bleiben, nicht wahr?« meinte sie. »Ich habe um meinen Kopf gewettet, daß Sie bleiben. Was soll denn aus mir werden, wenn Sie gehen?«

Als Denise erwiderte, daß sie am folgenden Tag ausscheiden werde, ließ Pauline nicht locker.

»Nein, nein, ich kann nicht daran glauben. Jetzt, wo ich ein Kind habe, müssen Sie mich zur Zweiten ernennen lassen. Baugé rechnet fest damit, meine Liebe.«

Sie lächelte und schien ihrer Sache ganz sicher zu sein. Dann kümmerte sie sich um Jeans Wünsche und rief schließlich als Ablösung eine neue Aushilfskraft herbei. Es war Fräulein von Fontenailles, seit kurzem mit Joseph verheiratet. Um ihr eine besondere Gunst zu erweisen, hatte man sie zur Aushilfe aufrücken lassen. Sie trug einen weiten schwarzen Kittel mit einer gelben Nummer auf der Schulter.