50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
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»Begleiten Sie das Fräulein«, sagte Pauline.

Dann wandte sie sich zu Denise und setzte leise hinzu:

»Ich werde Zweite, nicht wahr? Abgemacht!«

Denise versprach es ihr lachend und entfernte sich. Sie ging mit Pépé und Jean hinab, begleitet von der Aushilfe. Im Erdgeschoß kamen sie in die Wollwarenabteilung. Hier plauderte Liénard gerade mit Mignot, der Vertreter geworden war und die Stirn hatte, sich wieder im »Paradies der Damen« zu zeigen. Sie hatten ohne Zweifel von Denise gesprochen, denn sie schwiegen plötzlich und grüßten mit übertriebener Höflichkeit. So war es übrigens in allen Abteilungen, durch die sie kam; die Angestellten verneigten sich stumm, in Ungewißheit darüber, welche Rolle sie morgen spielen mochte. Man flüsterte miteinander, man fand, sie gebe sich sehr siegessicher, und die Wetten begannen von neuem.

Jean und Pépé wichen nicht von ihrer Seite, sie drängten sich an sie ganz wie damals, als sie müde von den Strapazen der Reise in Paris angekommen waren. Dieses ungeheure Geschäft, in dem sie zu Hause war, brachte die beiden Brüder in Verwirrung; sie suchten Schutz bei ihrem »Mütterchen«. Alle Blicke folgten ihnen, man lächelte über die beiden großen Burschen, die Schritt für Schritt dem schmächtigen, ernsten Mädchen folgten, alle drei von demselben Blond, einem Blond, das auf ihrem ganzen Weg durch die Abteilungen die Leute flüstern ließ:

»Das sind ihre Brüder … das sind ihre Brüder … «

Während Denise nach einem Verkäufer suchte, kam es zu einer Begegnung. Mouret betrat mit Bourdoncle die Galerie, und gerade als er wieder vor dem Mädchen stehenblieb, gingen Frau Desforges und Frau Guibal vorüber. Henriette unterdrückte das Beben, das ihren ganzen Körper durchlief. Sie sah Mouret an und dann Denise. Auch die beiden wechselten einen Blick mit ihr; die kleine Szene war der stumme Schlußakt, das übliche Ende eines großen Herzensdramas. Schon hatte Mouret sich entfernt, während Denise, gefolgt von ihren Brüdern, sich im Hintergrund der Abteilung verlor, noch immer auf der Suche nach einem Verkäufer. Henriette erkannte in der Aushilfe, die Denise folgte, Fräulein von Fontenailles mit ihrer gelben Nummer auf der Schulter. Bei diesem Anblick machte sie ihrem Zorn Luft und sagte mit gereizter Stimme zu Frau Guibal:

»Schauen Sie, was er aus dieser Unglücklichen gemacht hat! Ist das nicht beleidigend? Eine Marquise! … Er zwingt sie, wie ein Hund den Geschöpfen zu folgen, die er auf der Straße aufgelesen hat.«

Sie suchte sich indessen zu beruhigen und fügte mit geheuchelter Gleichgültigkeit hinzu:

»Sehen wir uns mal die Seidenabteilung an.«

Auch hier war alles in Weiß getaucht. Favier maß soeben Foulard ab für die »hübsche Dame«, jene elegante Blondine, die regelmäßig erschien und von den Verkäufern stets nur so genannt wurde. Sie kam seit Jahren in das Geschäft, und man wußte noch immer nichts von ihr, kannte weder ihre Lebensumstände noch ihre Adresse noch ihren Namen. Übrigens suchte auch keiner Näheres zu erfahren, wenngleich sich alle in Vermutungen erschöpften, sooft sie auftauchte. Heute wirkte sie sehr heiter. Als Favier sie zur Kasse gebracht hatte und zurückkam, tauschte er mit Hutin seine Bemerkungen aus.

»Vielleicht will sie wieder heiraten.«

»Ist sie denn Witwe?« fragte der andere.

»Ich weiß es nicht; aber Sie erinnern sich doch, daß sie einmal in Trauer war … Vielleicht hat sie auch an der Börse gewonnen. Sie hat ganz schön eingekauft.«

Hutin war indessen nicht recht bei der Sache. Er hatte zwei Tage zuvor eine lebhafte Auseinandersetzung mit der Geschäftsleitung gehabt und fühlte, daß es aus war mit ihm. Nach dem großen Sonderverkauf würde er sicherlich entlassen werden. Favier hatte bereits die Zusage, an seiner Stelle zum Abteilungsleiter ernannt zu werden. Anstatt ihn aber zu ohrfeigen, war Hutin sogar von einer gewissen Achtung für diesen gefühlskalten Burschen erfüllt, dem es gelungen war, ihn aus dem Sattel zu heben.

»Übrigens«, sagte Favier, »Sie wissen doch, daß sie bleibt? … Der Chef ist wieder viel vergnügter.«

Er sprach von Denise. Das Getratsche pflanzte sich fort von Abteilung zu Abteilung.

»Verflucht!« rief Hutin. »Ich war doch recht dumm, daß ich nicht mit ihr geschlafen habe! Heute wäre ich ein gemachter Mann!«

Als er Favier unverhohlen feixen sah, errötete er und versuchte gleichfalls zu lachen. Um den Eindruck seiner Bemerkung zu verwischen, erging er sich in gehässigen Klagen und behauptete, dieses Geschöpf habe seine Stellung untergraben. Dann trat plötzlich ein Lächeln auf seine Lippen; er sah Frau Guibal und Frau Desforges in der Abteilung erscheinen.

»Haben Sie Wünsche, gnädige Frau?« fragte er.

»Nein«, erwiderte Henriette. »Wie Sie sehen, gehe ich hier spazieren. Ich bin nur aus Neugierde gekommen.«

Als er sie immerhin zum Stehen gebracht hatte, dämpfte er die Stimme; ein ganzer Plan keimte in ihm auf. Er schmeichelte ihr, hechelte das Haus durch; er habe genug, sagte er, er wolle lieber gehen als solche Ungehörigkeiten länger mitmachen. Sie lauschte entzückt. In dem Glauben, ihn dem »Paradies der Damen« abspenstig zu machen, erbot sie sich, ihm die Stelle des Leiters in der Seidenabteilung bei Bouthemont zu verschaffen, sobald die »Vier Jahreszeiten« wieder eröffnet würden. Die Angelegenheit wurde abgemacht, sie flüsterten leise miteinander, während Frau Guibal aufmerksam die Dekorationen betrachtete.

»Darf ich Ihnen ein paar Veilchen anbieten?« fragte er schließlich laut und zeigte auf mehrere Sträußchen, die er sich von einer Kasse geholt hatte.

»O nein, danke!« rief Henriette abwehrend. »Ich will mit dieser Hochzeit nichts zu tun haben.«

Sie begriffen einander und trennten sich mit verständnisinnigen Blicken.

Als Henriette sich jetzt nach Frau Guibal umsah, fand sie sie zu ihrer Überraschung in Gesellschaft von Frau Marty. Diese jagte, gefolgt von ihrer Tochter Valentine, seit zwei Stunden durch alle Abteilungen, gequält von einem jener fürchterlichen Anfälle von Verschwendungssucht, aus denen sie stets völlig gebrochen hervorging. Am meisten hatten es ihr immer die neuen Abteilungen angetan. So hatte sie sich heute fast eine Stunde bei den Putzwaren aufgehalten, die in einem neuen Raum im ersten Stockwerk untergebracht waren. Sie drängte sich an sämtliche Tische, ließ sich alle Schränke ausräumen, nahm die Hüte von den Gestellen und probierte sie der Reihe nach sich und ihrer Tochter auf. Dann war sie in die Schuhabteilung hinabgestiegen, die in einer Ecke des Erdgeschosses hinter den Krawatten lag. Auch dies war eine Neueröffnung. Sie durchstöberte alle Fächer, gequält von einem krankhaften Verlangen nach einem Paar mit Schwanenflaum besetzter Pantoffeln aus weißer Seide und nach weißen Atlasstiefelchen.

»Oh, meine Liebe«, stammelte sie, »Sie glauben gar nicht … Hüte gibt es da! Ich habe einen für mich und einen für meine Tochter genommen. Und erst die Schuhe! Wunderbar!«

»Unerhört!« fügte das junge Mädchen im Ton einer erfahrenen Frau hinzu. »Stiefelchen für zwanzig Franken fünfzig!«

Ein Angestellter schleppte den unvermeidlichen Stapel an Waren hinter ihnen her.

»Und wie geht es Herrn Marty?« fragte Frau Desforges.

»Nicht schlecht, glaube ich«, erwiderte Frau Marty, verblüfft durch diese unerwartete Frage, die sich angesichts ihrer Verschwendungssucht sehr boshaft ausnahm. Doch sie ließ das Thema gleich wieder fallen und brach in einen Ausruf des Entzückens aus.

»Schauen Sie, ist das nicht himmlisch!«

Die Damen befanden sich vor der Abteilung für Blumen und Federn, die im Mittelbau zwischen der Seiden- und der Handschuhabteilung untergebracht war. Unter dem hellen Licht des Glasdaches war eine phantastische Blütenpracht entfaltet, eine weiße Garbe, hoch und ausladend wie eine Eiche. Es begann unten mit kleinen Sträußen von Veilchen, Maiglöckchen, Hyazinthen und Margeriten, allem zarten Weiß der Blumenbeete. Darüber erhoben sich üppigere Sträuße: weiße Rosen mit einem Stich ins Fleischfarbene, riesige weiße Pfingstrosen mit einem zarten Hauch von Karmin, weiße Chrysanthemen, die wie eine gelbgestirnte Wolke emporstiegen. Immer höher, immer weiter verbreitete sich die Blütenpracht: majestätische Lilien, ganze Apfelblütenzweige, duftender Flieder, auf der Höhe des ersten Stockwerks überragt von üppigen Büscheln von Straußenfedern und anderen weißen Federn. Etwas abseits waren Arrangements aus Orangenblüten ausgestellt. Dann gab es Metallblumen, Disteln und Ähren aus Silber. Und in dem Gewirr der Zweige und Blüten schienen die seltensten kleinen Vögel zu nisten: ein exotischer Hutschmuck in allen Farben des Regenbogens.

»Ich kaufe einen Apfelblütenzweig«, erklärte Frau Marty.

»Prächtig, nicht wahr? Und dieser kleine Vogel! Schau nur, Valentine! Den nehme ich mit … «

Frau Guibal, eingekeilt in der wogenden Menge, begann sich zu langweilen.

»Wir überlassen Sie Ihren Einkäufen und gehen hinauf«, sagte sie zu Frau Marty.

»Nein, warten Sie!« rief die andere, »ich gehe mit, da oben ist die Parfümerie, da muß ich hin!«

Diese Abteilung war erst tags zuvor eingerichtet worden und lag neben dem Leseraum. Um das Gedränge auf den Treppen zu vermeiden, machte Frau Desforges den Vorschlag, sie sollten die Aufzüge benutzen. Allein der Andrang war auch hier so groß, daß sie darauf verzichten mußten. Endlich gelangten sie hinauf; sie kamen am Erfrischungsraum vorbei, wo ein solches Gewühl herrschte, daß ein Inspektor den Auftrag erhalten hatte, die gefräßige Menge nur in kleinen Gruppen hineinzulassen. Schon hier verspürten die Damen die Nähe der Parfümerie; es war wie der durchdringende Duft eines Riechkissens, der das ganze Stockwerk erfüllte. Auf den mit Glas abgedeckten Tischen und den Kristallplatten der Etageren waren in langen Reihen Döschen und Flaschen mit Cremes, Puder, wohlriechenden Ölen und Essenzen aufgestellt, während die Bürsten, Kämme und Scheren ein besonderes Regal einnahmen. Das allgemeine Entzücken galt einem in der Mitte angebrachten silbernen Springbrunnen, aus dem ein Strahl von Nelkenessenz aufstieg, der mit melodischem Geplätscher in das Metallbecken zurückfiel. Ein köstlicher Duft verbreitete sich ringsumher, und die Damen netzten im Vorübergehen ihre Taschentücher mit der duftenden Flüssigkeit.

 

»Jetzt stehe ich zu Ihrer Verfügung«, sagte Frau Marty, nachdem sie sich mit Essenzen, Cremes und Zahnpasta beladen hatte, »ich bin fertig. Wir wollen nach Frau von Boves sehen.« Doch die japanische Abteilung auf dem Absatz der großen Haupttreppe hielt sie wieder fest. Dieser Zweig hatte sich bedeutend vergrößert seit dem Tag, da Mouret sich den Spaß gemacht hatte, an dieser Stelle einen kleinen Verkaufsstand für allerlei Kleinkram einzurichten, ohne zu ahnen, welchen enormen Erfolg die Sache haben würde. Mittlerweile gab es hier schon alte Bronzen, Elfenbein- und Lackholzgegenstände zu kaufen. Die Abteilung hatte einen jährlichen Umsatz von anderthalb Millionen Franken; ihre Einkäufer durchstöberten den ganzen Orient bis in die entferntesten Winkel, plünderten Tempel und Paläste. Vier Jahre hatten Mouret auf diesem Gebiet genügt, um den Antiquitätenhandel von ganz Paris an sich zu reißen. Überdies entstanden fortwährend neue Abteilungen. So hatte man im Dezember wieder zwei eröffnet, um die tote Zeit des Winterhalbjahrs zu überbrücken: eine Abteilung für Bücher und eine für Kinderspielzeug, die sicherlich ebenfalls aufblühen und wieder zwei Geschäftszweige vernichten würden.

Obgleich sie sich vorgenommen hatte, nichts zu kaufen, ließ sich Frau Desforges bei den Japanwaren durch eine außerordentlich fein gearbeitete Elfenbeinschnitzerei verführen.

»Schicken Sie mir das zur nächsten Kasse. Neunzig Franken ist der Preis, nicht wahr?«

Da sie Frau Marty samt ihrer Tochter in einen Porzellankauf vertieft sah, rief sie ihr, Frau Guibal mit sich ziehend, zu:

»Sie finden uns oben im Leseraum … Ich will ein wenig ausruhen.«

Im Lesesaal mußten die Damen stehenbleiben; alle Stühle rings um den großen, mit Zeitungen bedeckten Tisch waren besetzt. Da lasen dicke Herren in aller Gemütsruhe ihr Lieblingsblatt und dachten nicht daran, ihre Plätze galanterweise abzutreten. Einige Damen schrieben, die Nase dicht über das Papier gebeugt, als wollten sie geheime Herzensergüsse mit ihren breitrandigen Hüten verdecken. Frau von Boves war übrigens nicht da, und Henrierte wurde schon ungeduldig, als sie plötzlich Vallagnosc bemerkte, der seine Schwiegermutter und seine Frau ebenfalls suchte. Er grüßte und meinte:

»Sie sind gewiß in der Spitzenabteilung; sie können sich von dort nicht losreißen. Ich will mal nachsehen.«

Bevor er ging, war er so galant, den Damen Stühle zu verschaffen.

In der Spitzenabteilung wuchs das Gedränge von Minute zu Minute. Nachdem Frau Von Boves mit ihrer Tochter tatsächlich hier herumgeirrt war in dem sinnlichen Verlangen, ihre Hände in diese zarten Gewebe zu versenken, war sie zu dem Entschluß gekommen, sich von Deloche Alençonspitzen vorlegen zu lassen. Zuerst hatte er ihr Imitationen gezeigt, allein sie wollte echte sehen und begnügte sich auch nicht mit kleinen Garnituren zu dreihundert Franken, sondern verlangte Volants, Tücher und Fächer zu sieben- bis achthundert, ja tausend Franken. Bald war der Tisch mit einem Vermögen an Spitzen bedeckt. Etwas abseits stand regungslos der alte Jouve und ließ kein Auge von Frau von Boves. Der Verkäufer, den sie nun schon zwanzig Minuten aufhielt, wagte keinen Widerstand zu leisten, so sehr imponierte sie ihm durch ihre Vornehmheit, ihre Gestalt und ihre gebieterische Stimme. Allmählich aber begann er doch zu zögern, denn man hatte den Angestellten strenge Weisung erteilt, die kostbaren Spitzen auf dem Tisch nicht so aufzuhäufen.

Überdies war ihm in der vorigen Woche das Unglück passiert, daß er sich zehn Meter Mechelner Spitzen hatte stehlen lassen. Allein Frau von Boves brachte ihn in Verwirrung, sein bißchen Festigkeit wankte, und er verließ den Haufen Alençoner Spitzen, um sich umzuwenden und die verlangten neuen Muster herunterzuholen.

»Schau nur, Mama«, sagte Blanche, die daneben in einem Karton mit wohlfeilen Valenciennesspitzen herumkramte, »mit diesen kleinen Stücken könnten wir Polster besetzen.«

Frau von Boves antwortete nicht. Als sich die Tochter umwandte, sah sie, wie ihre Mutter, immer unter den Spitzen herumsuchend, ein Stück im Ärmel ihres Mantels verschwinden ließ. Blanche schien nicht sonderlich überrascht zu sein, ja sie trat näher, um die Manipulation ihrer Mutter zu verbergen. Da tauchte plötzlich Jouve zwischen den beiden Damen auf. Er neigte sich zum Ohr der Gräfin und flüsterte in höflichem Ton:

»Gnädige Frau, folgen Sie mir bitte.«

»Warum denn?« fragte Frau von Boves unwillig.

»Folgen Sie mir, gnädige Frau!« wiederholte Jouve im selben ruhigen Ton.

Angstvoll und verstört blickte sie rasch um sich. Dann ergab sie sich, gewann ihre hochfahrende Haltung wieder und ging neben ihm her wie eine Königin, die sich der Obhut eines Flügeladjutanten anzuvertrauen geruht. Niemand hatte die kleine Szene beobachtet. Deloche, der mit den Mustern zurückkehrte, sah hocherstaunt, wie Frau von Boves weggeführt wurde. Wie? Die auch? Diese vornehme Dame? Blanche, um die sich niemand kümmerte, stand blaß und zitternd unter der Menge und blickte ihrer Mutter nach, schwankend zwischen dem Gefühl, sie dürfte sie eigentlich nicht verlassen, und der Furcht, samt ihr dabehalten zu werden. Sie sah ihre Mutter in das Arbeitszimmer Bourdoncles eintreten und begnügte sich damit, vor der Tür zu warten.

Bourdoncle war gerade anwesend. Bei solchen Diebstählen pflegte er selbst das Urteil zu sprechen. Seit langer Zeit war Jouve der Gräfin auf der Spur; er hatte Bourdoncle seinen Verdacht schon mitgeteilt. Dieser war denn auch nicht sonderlich überrascht, als ihm der Inspektor von dem Vorfall Meldung machte. Es kamen ihm so außerordentliche Fälle unter die Hand, daß er Frauen für zu allem fähig hielt, wenn sie einmal die Begierde gepackt hatte. Da ihm Mourets gesellschaftliche Beziehungen zu der Diebin bekannt waren, behandelte er sie mit vollendeter Höflichkeit.

»Gnädige Frau, wir entschuldigen derartige Augenblicke der Schwäche … Allein bedenken Sie, wohin solche Selbstvergessenheit Sie führen kann! Wenn jemand bemerkt hätte, wie Sie die Spitzen in den Ärmel Ihres Mantels gleiten ließen —«

Sie unterbrach ihn entrüstet. Sie eine Diebin! Für wen hielt er sie denn? Sie war die Gräfin von Boves, ihr Gatte hoch angesehen bei Hofe!

»Ich weiß, ich weiß, gnädige Frau«, sagte Bourdoncle ruhig.

»Ich habe die Ehre, Sie zu kennen … Aber geben Sie vor allem die Spitzen zurück, die Sie bei sich haben … «

Sie wehrte sich noch immer, spielte die große Dame, weinte und tobte. Jeder andere wäre wankend geworden und hätte befürdhtet, es könne ein bedauerlicher Irrtum geschehen sein.

»Nehmen Sie sich in acht!« schrie sie. »Mein Mann wird Ihr Haus zu Fall bringen; er wird Rache nehmen; er wird, wenn nötig, bis zum Minister gehen!«

»Sie sind nicht vernünftiger als die anderen, gnädige Frau. Gut: dann wird man Sie eben durchsuchen.«

Sie gab noch immer nicht nach, sondern sagte mit vernichtender Ruhe:

»Bitte, lassen Sie mich durchsuchen. Aber Sie setzen Ihre Firma aufs Spiel, ich mache Sie darauf aufmerksam.«

Jouve holte zwei Verkäuferinnen aus der Korsettabteilung. Die beiden Männer zogen sich in ein Zimmer nebenan zurück, während die beiden Mädchen die Gräfin entkleideten. Außer den Alençonspitzen — zwölf Meter zu je tausend Franken —, die sich im Ärmel ihres Mantels fanden, wurden in ihrem Ausschnitt noch ein Taschentuch, ein Fächer und eine Krawatte entdeckt, alles in allem Spitzen im ungefähren Wert von vierzehntausend Franken. So stahl Frau von Boves schon seit einem Jahr, das Opfer einer wahnwitzigen, unwiderstehlichen Begierde. Sie stahl nicht nur Waren in den Geschäften, sie stahl auch ihrem Gatten das Geld aus der Tasche; sie stahl, um zu stehlen, triebhaft und hemmungslos.

»Das ist eine niederträchtig gelegte Falle!« schrie sie, als Bourdoncle und Jouve zurückkehrten. »Man hat mir die Spitzen zugesteckt. Ich schwöre es bei Gott!«

Sie war auf einen Sessel hingesunken und weinte Tränen der Wut. Bourdoncle schickte die Verkäuferinnen hinaus; dann sagte er gelassen:

»Gnädige Frau, aus Rücksicht auf Ihre Familie wollen wir diesen bedauerlichen Vorfall unterdrücken. Aber vorher werden Sie uns eine kurze Erklärung schreiben, nur den einen Satz: ›Ich habe im »Paradies der Damen« Spitzen gestohlen.‹ Und das heutige Datum. An dem Tag, da Sie mir zweitausend Franken für wohltätige Zwecke bringen, erhalten Sie diese Erklärung zurück.«

»Niemals werde ich so etwas schreiben, lieber sterbe ich!« schrie sie in einer neuen Aufwallung von Zorn und Entrüstung.

»Sie werden nicht sterben, gnädige Frau, sondern ich werde den Polizeikommissar holen lassen.«

Nun gab es eine greuliche Szene. Sie beschimpfte ihn und schrie, es sei niederträchtig, daß Männer eine Frau so quälten. Ihre junonische Schönheit, ihr imposantes, majestätisches Auftreten verlor sich im Wutausbruch eines Fischweibes. Dann versuchte sie, die beiden Männer zu rühren, bat sie im Namen ihrer Mütter, wollte sich ihnen zu Füßen werfen. Da sie, an solche Szenen gewöhnt, unerbittlich blieben, setzte sie sich plötzlich zurecht, ergriff die Feder und stellte mit fieberhaft zitternder Hand die geforderte Erklärung aus.

»Da haben Sie, mein Herr! Ich weiche der Gewalt!«

Bourdoncle nahm das Papier, faltete es sorgfältig zusammen und verschloß es in einem Schubfach, wobei er sagte:

»Wie Sie sehen, gnädige Frau, befindet sich Ihre Erklärung in zahlreicher Gesellschaft; denn alle die Damen, die zuerst sterben wollen und hernach doch schreiben, was von ihnen verlangt wird, vergessen später, ihre Billetts abzuholen.«

Sie brachte ihre Kleider in Ordnung und beachtete ihn nicht. Dann fragte sie kühl:

»Ich kann wohl gehen?«

Bourdoncle war bereits mit einer anderen Angelegenheit beschäftigt. Auf Jouves Bericht hin beschloß er, Deloche zu entlassen. Dieser Verkäufer war unfähig; er ließ sich fortwährend bestehlen und würde wohl von den Kunden niemals für voll angesehen werden.

Frau von Boves wiederholte ihre Frage; da sie mit einem zustimmenden Kopfnicken entlassen wurde, warf sie nur noch einmal einen mörderischen Blick auf die beiden Männer und ging hinaus, die Tür geräuschvoll hinter sich zuschlagend.

»Ihr Gauner!« murmelte sie dabei.

Blanche hatte inzwischen vor der Tür des Arbeitszimmers ausgeharrt. Da sie nicht wußte, was drinnen vorging, und den Inspektor und die Verkäuferinnen kommen und gehen sah, war sie tief bestürzt; sie dachte schon an Polizei, an Gericht, an Gefängnis. Um ihren Schrecken aufs höchste zu steigern, erschien mit einemmal Vallagnosc, dieser Mann, der erst seit einem Monat ihr Gatte war und dessen Du sie noch in Verlegenheit brachte. Erstaunt über ihre Verstörtheit, fragte er sie:

»Wo ist deine Mutter? … So sag doch! Du regst mich auf … « Es wollte ihr keine halbwegs glaubwürdige Lüge einfallen. In ihrer Beklemmung dämpfte sie die Stimme und stotterte:

»Mama … Mama … sie hat gestohlen.«

»Wie, gestohlen?«

Endlich begriff er. Entsetzt starrte er in das aufgedunsene Gesicht seiner Frau, die blaß und völlig außer sich war.

»Spitzen hat sie genommen, in den Ärmel ihres Mantels geschoben«, stammelte die Unglückliche weiter.

»Und du hast zugesehen?« murmelte er.

Es überlief ihn kalt bei dem Gedanken, daß sie vielleicht die Mitschuldige ihrer Mutter war. Schon wandten einzelne Leute die Köpfe nach ihnen um. Was tun? Eben hatte er sich dafür entschieden, zu Bourdoncle hineinzugehen, als er Mouret erblickte, wie er durch die Galerie schritt. Er befahl seiner Frau, ihn hier zu erwarten, nahm den Arm seines alten Freundes und erzählte ihm in einigen hastig hervorgestoßenen Worten, was vorgefallen war. Mouret führte ihn rasch in sein Arbeitszimmer, wo er ihn über die möglichen Folgen beruhigte. Er versicherte, daß seine Vermittlung unnötig sei, und erklärte ihm, wie die Sache ungefähr ablaufen werde. Er selbst schien übrigens über diesen Diebstahl nicht sonderlich überrascht zu sein, als hätte er ihn seit langer Zeit vorausgesehen. Allein Vallagnosc wollte, als eine sofortige Verhaftung nicht mehr zu befürchten war, das Abenteuer nicht mit der gleichen Ruhe hinnehmen. Er lehnte sich im Sessel zurück und erging sich in Klagen über sein eigenes Schicksal. Da sei er also in eine Diebesfamilie geraten! rief er. Dabei sei er auf diese dumme Heirat nur dem Vater zuliebe eingegangen. Er brach in Tränen aus, sehr zum Erstaunen Mourets, der sich seines früheren teilnahmslosen Pessimismus erinnerte. Hatte er ihn nicht zwanzigmal sagen hören, daß das Leben gar nichts tauge und höchstens das Schlechte noch einigen Spaß verspreche? Um den anderen zu zerstreuen, machte nun er sich das Vergnügen, ihm in freundschaftlich scherzhaftem Ton Gleichgültigkeit zu predigen. Vallagnosc aber wurde böse; er konnte sein gestörtes Gleichgewicht nicht wiederfinden, seine ganze spießbürgerliche Erziehung lehnte sich empört gegen seine Schwiegermutter auf. Bei der geringsten Berührung mit menschlicher Schwäche lag dieser Spötter verzagend am Boden. Es sei abscheulich, meinte er, man ziehe die Ehre seines Geschlechtes in den Schmutz! Die Welt schien ihm aus den Fugen geraten zu sein.

 

»So beruhige dich doch«, ermahnte ihn Mouret, von Mitleid ergriffen. »Ich rate dir, hinunterzugehen und Frau von Boves deinen Arm anzubieten, das ist besser, als einen Skandal zu machen.«

Da erhob sich Vallagnosc und befolgte den Rat seines ehemaligen Mitschülers. Sie betraten in dem Augenblick die Galerie, als Frau von Boves das Zimmer Bourdoncles verließ. Sie nahm majestätisch den Arm ihres Schwiegersohnes, und als Mouret sie mit äußerster Höflichkeit grüßte, hörte er sie flüstern:

»Sie haben sich tausendmal entschuldigt; wahrhaftig: es geschehen hier schreckliche Mißgriffe.«

Blanche hatte sie eingeholt und ging stillschweigend hinter ihnen her. Sie verloren sich allmählich im Gewühl der Kauflustigen.

Allein und nachdenklich schritt Mouret von neuem durch das Geschäft. Auf der Höhe der Mitteltreppe blieb er stehen und betrachtete lange den ungeheuren Bau, in dem sein Frauenvolk sich drängte.

Es schlug sechs Uhr. Draußen ging der Tag zur Neige, und das Licht wich allmählich aus den noch immer übervollen Gängen. Man zündete eine nach der anderen die elektrischen Lampen an, deren strahlende Milchglaskugeln in ihrer endlosen Zahl erst die ganze Ausdehnung der Geschäftsräume ahnen ließen. Als alle brannten, stieg ein Gemurmel des Entzückens empor; die große Weißwarenausstellung nahm in dieser neuen Beleuchtung einen feenhaften Glanz an. Es war, als verwandelte sich diese Fülle von Weiß ebenfalls in eine schimmernde Lichtquelle.

Mouret stand oben auf der Haupttreppe und betrachtete seine weibliche Kundschaft in dieser flammenden Helle. Die Käuferinnen brachen allmählich auf, die Fächer zeigten große Lücken, das Gold klang hell auf den Kassentischen. Ausgeplündert, überwältigt, mit zerknitterter Kleidung gingen sie davon, mit gesättigter Wollust und geheimer Scham wie ob eines in einem zweideutigen Gasthof befriedigten Verlangens. Er war es, der sie in dieser Weise besaß; er hielt sie in seiner Gewalt, hatte sie sich untertan gemacht, beherrschte sie wie ein Despot, dessen Launen in jeden Haushalt den Ruin tragen. In ihrer seit zehn Jahren sorgfältig genährten Sucht nach Luxus sah er sie trotz vorgerückter Stunde immer noch durch die Stockwerke irren. Frau Marty und ihre Tochter waren jetzt ganz oben in der Möbelabteilung. Von ihren Kindern festgehalten, konnte Frau Bourdelais sich von den Pariser Spezialitäten nicht trennen. Dann kam die höhere Gesellschaft: Frau von Boves, am Arm ihres Schwiegersohnes und gefolgt von Blanche, in jeder Abteilung haltmachend, noch immer mit stolzer Miene die Stoffe besichtigend. Und mitten in diesem Meer von Frauen, die von Lebenskraft und Begierde strotzten und sämtlich mit Veilchensträußen geschmückt waren wie bei der zu einem Volksfest gewordenen Hochzeitsfeier einer Königin, sah er Frau Desforges, die mit Frau Guibal in der Handschuhabteilung stehengeblieben war, sie allein ohne Veilchenstrauß. Trotz ihrer eifersüchtigen Rachsucht kaufte auch sie, und er fühlte sich wieder einmal als Sieger, auch sie lag zu seinen Füßen.

Mechanischen Schritts ging Mouret durch die Galerien, dermaßen in Gedanken versunken, daß er sich vom Besucherstrom schieben ließ. Als er aufblickte, befand er sich in der neuerrichteten Abteilung für Putzwaren, deren Fenster auf die Rue du Dix-Décembre gingen. Von da aus betrachtete er die hinausströmende Menge. Die untergehende Sonne vergoldete die Giebel der Häuser, der blaue Himmel dieses schönen Tages wurde allmählich fahl, ein frischer Abendwind strich durch die in Dämmerung gehüllten Straßen, die nur vor dem »Paradies der Damen« durch die elektrischen Lampen der Geschäftsräume hell erleuchtet waren. In den Straßen nach der Oper und der Börse zu standen noch immer in dichter Folge die Wagen, jeden Augenblick hörte man eine Nummer oder einen Namen ausrufen, und gleich darauf bog eine Droschke oder ein Privatwagen aus den Reihen, um eine Dame aufzunehmen und sich in schnellem Trab zu entfernen.

Mouret betrachtete traumverloren dieses Schauspiel; und in diesem seinem Triumph, angesichts der Stadt, die er erobert hatte, angesichts der Frauen, die er beherrschte, empfand er eine plötzliche Schwäche, ein Nachlassen seiner Willenskraft, die Überlegenheit einer höheren Macht. Es war wie ein Bedürfnis, mitten in seinem Triumph überwunden zu werden, der Wahnwitz eines Kriegers, der am Tag nach seinem Sieg sich den Launen eines Kindes fügt. Er, der sich seit Monaten wehrte, der sich noch am Morgen geschworen hatte, seine Leidenschaft zu ersticken, gab auf einmal nach, wie von einem Schwindel erfaßt, glücklich darüber, sich für etwas entschieden zu haben, was er für eine Torheit hielt. Sein so plötzlich gefaßter Entschluß nahm von einer Minute zur anderen solche Festigkeit an, daß er in der Welt nichts Zwingenderes und nichts Notwendigeres mehr sah als dies.

Am Abend, als die letzte Schicht gegessen hatte, wartete er in seinem Arbeitszimmer. Zitternd wie ein Jüngling, der sein Glück aufs Spiel gesetzt sieht, ging er auf und ab, es duldete ihn nicht auf einem Fleck. Wenn Schritte nahten, klopfte sein Herz heftiger. Jetzt eilte er zur Tür, denn er hatte aus der Ferne ein Gemurmel gehört, das immer näher kam.

Es war Lhomme, der die Tageseinnahme brachte. Sie wog so schwer, daß er zwei Laufburschen zu Hilfe genommen hatte. Diese trugen in zwei mächtigen Säcken die kleinen Münzen, während er selbst mit den Banknoten und dem Gold vorausging. Keuchend und schwitzend kam er aus dem Hintergrund des Geschäfts, umgeben von der wachsenden Erregung der Verkäufer. Alles war entzückt angesichts dieser wandernden Schätze. Im ersten Stock hatten die Leute in sämtlichen Abteilungen ehrfurchtsvoll Spalier gebildet. Je näher der Kassierer kam, desto höher stieg das Getöse, es war wie der Jubel des Volkes, das das goldene Kalb begrüßt.

Mouret hatte inzwischen die Tür geöffnet, und Lhomme erschien, von den zwei Burschen gefolgt, die unter ihrer Last fast zusammenbrachen. Der Kassierer hatte gerade noch genug Kraft, um keuchend die Gesamtsumme hervorzustoßen:

»1 000 227 Franken 95 Centimes!«

Endlich die Million! Eine Million an einem Tag! Die Zahl, von der Mouret so lange geträumt hatte! Dennoch machte er eine zornige Bewegung, wie jemand, der in einer ungeduldigen Erwartung enttäuscht worden ist, und sagte:

»Gut, gut, legen Sie es hin!«

Lhomme wußte, daß der Chef es liebte, die Einnahmen auf seinem Schreibtisch zu sehen, bevor man sie in die Hauptkasse schaffte. Die Million bedeckte die ganze Fläche, überflutete die Papiere, drängte fast das Tintenfaß über den Rand. Das Gold, das Silber, das Kupfer floß aus den Säcken, bildete einen riesigen Haufen, jedes Stück aus den Händen der Kundschaft gekommen, noch warm und gleichsam lebendig.