50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Kapitel Ein­hundert­sechzehn

Zunächst war K. froh, dem Gedränge der Mägde und Gehilfen in dem warmen Zimmer entgangen zu sein. Auch fror es ein wenig, der Schnee war fester, das Gehen leichter. Nur fing es freilich schon zu dunkeln an, und er beschleunigte die Schritte.

Das Schloß, dessen Umrisse sich schon aufzulösen begannen, lag still wie immer, niemals noch hatte K. dort das geringste Zeichen von Leben gesehen, vielleicht war es gar nicht möglich, aus dieser Ferne etwas zu erkennen, und doch verlangten es die Augen und wollten die Stille nicht dulden. Wenn K. das Schloß ansah, so war es ihm manchmal, als beobachtete er jemanden, der ruhig dasitze und vor sich hinsehe, nicht etwa in Gedanken verloren und dadurch gegen alles abgeschlossen, sondern frei und unbekümmert, so, als sei er allein und niemand beobachte ihn, und doch mußte er merken, daß er beobachtet wurde, aber es rührte nicht im geringsten an seiner Ruhe, und wirklich – man wußte nicht, war es Ursache oder Folge -, die Blicke des Beobachters konnten sich nicht festhalten und glitten ab. Dieser Eindruck wurde heute noch verstärkt durch das frühe Dunkel; je länger er hinsah, desto weniger erkannte er, desto tiefer sank alles in Dämmerung.

Gerade als K. zu dem noch unbeleuchteten Herrenhof kam, öffnete sich ein Fenster im ersten Stock, ein junger, dicker, glattrasierter Herr im Pelzrock beugte sich heraus und blieb dann im Fenster. K.s Gruß schien er auch nicht mit dem leichtesten Kopfnicken zu beantworten. Weder im Flur noch im Ausschank traf K. jemanden, der Geruch von abgestandenem Bier war noch schlimmer als letzthin, etwas Derartiges kam wohl im Wirtshaus »Zur Brücke« nicht vor. K. ging sofort zu der Tür, durch die er letzthin Klamm beobachtet hatte, drückte vorsichtig die Klinke nieder, aber die Tür war versperrt; dann suchte er die Stelle zu ertasten, wo das Guckloch war, aber der Verschluß war wahrscheinlich so gut eingepaßt, daß er die Stelle auf diese Weise nicht finden konnte, er zündete deshalb ein Streichholz an. Da wurde er durch einen Schrei erschreckt. In dem Winkel zwischen Tür und Kredenztisch, nahe beim Ofen, saß zusammengeduckt ein junges Mädchen und starrte ihn in dem Aufleuchten des Streichholzes mit mühsam geöffneten, schlaftrunkenen Augen an. Es war offenbar die Nachfolgerin Friedas. Sie faßte sich bald, drehte das elektrische Licht an, der Ausdruck ihres Gesichtes war noch böse, da erkannte sie K. »Ah, der Herr Landvermesser«, sagte sie lächelnd, reichte ihm die Hand und stellte sich vor: »Ich heiße Pepi.« Sie war klein, rot, gesund, das üppige, rötlichblonde Haar war in einen starken Zopf geflochten, außerdem krauste es sich rund um das Gesicht, sie hatte ein ihr sehr wenig passendes, glatt niederfallendes Kleid aus grauglänzendem Stoff, unten war es kindlich ungeschickt von einem in eine Masche endigenden Seidenband zusammengezogen, so daß es sie beengte. Sie erkundigte sich nach Frieda, und ob sie nicht bald zurückkommen werde. Das war eine Frage, die nahe an Boshaftigkeit grenzte. »Ich bin«, sagte sie dann, »gleich nach Friedas Weggang in Eile hierher berufen worden, weil man doch nicht eine Beliebige hier verwenden kann, ich war bis jetzt Zimmermädchen, aber es ist kein guter Tausch, den ich gemacht habe. Viel Abend- und Nachtarbeit ist hier, das ist sehr ermüdend, ich werde es kaum ertragen, ich wundere mich nicht, daß Frieda es aufgegeben hat.« – »Frieda war hier sehr zufrieden«, sagte K., um Pepi endlich auf den Unterschied aufmerksam zu machen, der zwischen ihr und Frieda bestand und den sie vernachlässigte. »Glauben Sie ihr nicht«, sagte Pepi. ,»Frieda kann sich beherrschen wie nicht leicht jemand. Was sie nicht gestehen will, gesteht sie nicht, und dabei merkt man gar nicht, daß sie etwas zu gestehen hätte. Ich diene doch jetzt hier schon einige Jahre mit ihr, immer haben wir zusammen in einem Bett geschlafen, aber vertraut bin ich mit ihr nicht, gewiß denkt sie heute schon nicht mehr an mich. Ihre einzige Freundin vielleicht ist die alte Wirtin aus dem Brückengasthaus, und das ist doch auch bezeichnend.« – »Frieda ist meine Braut«, sagte K. und suchte nebenbei die Gucklochstelle in der Tür. »Ich weiß«, sagte Pepi, »deshalb erzähle ich es ja. Sonst hätte es doch für Sie keine Bedeutung.« – »Ich verstehe«, sagte K. »Sie meinen, daß ich stolz darauf sein kann, ein so verschlossenes Mädchen für mich gewonnen zu haben.« – »Ja«, sagte sie und lachte zufrieden, so, als habe sie K. zu einem geheimen Einverständnis hinsichtlich Friedas gewonnen.

Aber es waren nicht eigentlich ihre Worte, die K. beschäftigten und ein wenig vom Suchen ablenkten, sondern ihre Erscheinung war es und ihr Vorhandensein an dieser Stelle. Freilich, sie war viel jünger als Frieda, fast kindlich noch, und ihre Kleidung war lächerlich, sie hatte sich offenbar angezogen entsprechend den übertriebenen Vorstellungen, die sie von der Bedeutung eines Ausschankmädchens hatte. Und diese Vorstellungen hatte sie gar noch in ihrer Art mit Recht, denn die Stellung, für die sie noch gar nicht paßte, war wohl unverhofft und unverdient und nur vorläufig ihr zuteil geworden, nicht einmal das Ledertäschchen, das Frieda immer im Gürtel getragen hatte, hatte man ihr anvertraut. Und ihre angebliche Unzufriedenheit mit der Stellung war nichts als Überhebung. Und doch, trotz ihrem kindlichen Unverstand hatte auch sie wahrscheinlich Beziehungen zum Schloß; sie war ja, wenn sie nicht log, Zimmermädchen gewesen; ohne von ihrem Besitz zu wissen, verschlief sie hier die Tage, aber eine Umarmung dieses kleinen, dicken, ein wenig rundrückigen Körpers konnte ihr zwar den Besitz nicht entreißen, konnte aber an ihn rühren und aufmuntern für den schweren Weg. Dann war es vielleicht nicht anders als bei Frieda? O doch, es war anders. Man mußte nur an Friedas Blick denken, um das zu verstehen. Niemals hätte K. Pepi angerührt. Aber doch mußte er jetzt für ein Weilchen seine Augen bedecken, so gierig sah er sie an.

»Es muß ja nicht angezündet sein«, sagte Pepi und drehte das Licht wieder aus, »ich habe nur angezündet, weil Sie mich so sehr erschreckt haben. Was wollen Sie denn hier? Hat Frieda etwas vergessen?« – »Ja«, sagte K. und zeigte auf die Tür, »hier im Zimmer nebenan eine Tischdecke, eine weiße, gestrickte.« – »Ja, ihre Tischdecke«, sagte Pepi, »ich erinnere mich, eine schöne Arbeit, ich habe ihr dabei geholfen, aber in diesem Zimmer ist sie wohl kaum.« – »Frieda glaubt es. Wer wohnt denn hier?« fragte K. »Niemand«, sagte Pepi. »Es ist das Herrenzimmer, hier trinken und essen die Herren, das heißt, es ist dafür bestimmt, aber die meisten bleiben oben in ihren Zimmern.« – »Wenn ich wüßte«, sagte K., »daß jetzt nebenan niemand ist, würde ich sehr gerne hineingehen und die Decke suchen. Aber es ist eben unsicher; Klamm, zum Beispiel, pflegt oft dort zu sitzen.« – »Klamm ist jetzt gewiß nicht dort«, sagte Pepi, »er fährt ja gleich weg, der Schlitten wartet schon im Hof.«

Sofort, ohne ein Wort der Erklärung, verließ K. den Ausschank, wandte sich im Flur anstatt zum Ausgang gegen das Innere des Hauses und hatte nach wenigen Schritten den Hof erreicht. Wie still und schön es hier war! Ein viereckiger Hof, auf drei Seiten vom Hause, gegen die Straße zu – eine Nebenstraße, die K. nicht kannte – von einer hohen, weißen Mauer mit einem großen, schweren, jetzt offenen Tor begrenzt. Hier, auf der Hofseite, schien das Haus höher als auf der Vorderseite, wenigstens war der erste Stock vollständig ausgebaut und hatte ein größeres Ansehen, denn er war von einer hölzernen, bis auf einen kleinen Spalt in Augenhöhe geschlossenen Galerie umlaufen. K. schief gegenüber, noch im Mitteltrakt, aber schon im Winkel, wo sich der gegenüberliegende Seitenflügel anschloß, war ein Eingang ins Haus, offen, ohne Tür. Davor stand ein dunkler, geschlossener, mit zwei Pferden bespannter Schlitten. Bis auf den Kutscher, den K. auf die Entfernung hin jetzt in der Dämmerung mehr vermutete als erkannte, war niemand zu sehen.

Die Hände in den Taschen, vorsichtig sich umschauend, nahe an der Mauer, umging K. zwei Seiten des Hofes, bis er beim Schlitten war. Der Kutscher, einer jener Bauern, die letzthin im Ausschank gewesen waren, hatte ihn, im Pelz versunken, teilnahmslos herankommen sehen, so wie man etwa den Weg einer Katze verfolgt. Auch als K. schon bei ihm stand, grüßte, und sogar die Pferde ein wenig unruhig wurden wegen des aus dem Dunkel auftauchenden Mannes, blieb er gänzlich unbekümmert. Das war K. sehr willkommen. Angelehnt an die Mauer, packte er sein Essen aus, gedachte dankbar Friedas, die ihn so gut versorgt hatte, und spähte dabei in das Innere des Hauses. Eine rechtwinklig gebrochene Treppe führte herab und war unten von einem niedrigen, aber scheinbar tiefen Gang gekreuzt; alles war rein, weiß getüncht, scharf und gerade abgegrenzt.

Das Warten dauerte länger, als K. gedacht hatte. Längst schon war er mit dem Essen fertig, die Kälte war empfindlich, aus der Dämmerung war schon völlige Finsternis geworden, und Klamm kam immer noch nicht. »Das kann noch sehr lange dauern«, sagte plötzlich eine rauhe Stimme so nahe bei K., daß er zusammenfuhr. Es war der Kutscher, der, wie aufgewacht, sich streckte und laut gähnte. »Was kann denn lange dauern?« fragte K., nicht undankbar wegen der Störung, denn die fortwährende Stille und Spannung war schon lästig gewesen. »Ehe Sie weggehen werden«, sagte der Kutscher. K. verstand ihn nicht, fragte aber nicht weiter, er glaubte auf diese Weise den Hochmütigen am besten zum Reden zu bringen. Ein Nichtantworten hier in der Finsternis war fast aufreizend. Und tatsächlich fragte der Kutscher nach einem Weilchen: »Wollen Sie Kognak?« – »Ja«, sagte K. unüberlegt, durch das Angebot allzusehr verlockt, denn ihn fröstelte. »Dann machen Sie den Schlitten auf«, sagte der Kutscher, »in der Seitentasche sind einige Flaschen, nehmen Sie eine, trinken Sie und reichen Sie sie mir dann. Mir ist es wegen des Pelzes zu beschwerlich hinunterzusteigen.« Es verdroß K., solche Handreichungen zu machen, aber da er sich nun mit dem Kutscher schon eingelassen hatte, gehorchte er, selbst auf die Gefahr hin, beim Schlitten etwa von Klamm überrascht zu werden. Er öffnete die breite Tür und hätte gleich aus der Tasche, welche auf der Innenseite der Tür angebracht war, die Flasche herausziehen können, aber da nun die Tür offen war, trieb es ihn so sehr in das Innere des Schlittens, daß er nicht widerstehen konnte, nur einen Augenblick lang wollte er darin sitzen. Er huschte hinein. Außerordentlich war die Wärme im Schlitten, und sie blieb so, obwohl die Tür, die K. nicht zu schließen wagte, weit offen war. Man wußte gar nicht, ob man auf einer Bank saß, sosehr lag man in Decken, Polstern und Pelzen; nach allen Seiten konnte man sich drehen und strecken, immer versank man weich und warm. Die Arme ausgebreitet, den Kopf durch Polster gestützt, die immer bereit waren, blickte K. aus dem Schlitten in das dunkle Haus. Warum dauerte es so lange, ehe Klamm herunterkam? Wie betäubt von der Wärme nach dem langen Stehen im Schnee, wünschte K., daß Klamm endlich komme. Der Gedanke, daß er in seiner jetzigen Lage von Klamm lieber nicht gesehen werden sollte, kam ihm nur undeutlich, als leise Störung, zu Bewußtsein. Unterstützt in dieser Vergeßlichkeit wurde er durch das Verhalten des Kutschers, der doch wissen mußte, daß er im Schlitten war, und ihn dort ließ, sogar ohne den Kognak von ihm zu fordern. Das war rücksichtsvoll, aber K. wollte ihn ja bedienen. Schwerfällig, ohne seine Lage zu verändern, langte er nach der Seitentasche, aber nicht in der offenen Tür, die zu weit entfernt war, sondern hinter sich in die geschlossene, nun, es war gleichgültig, auch in dieser waren Flaschen. Er holte eine hervor, schraubte den Verschluß auf und roch daran, unwillkürlich mußte er lächeln, der Geruch war so süß, so schmeichelnd, so wie man von jemand, den man sehr lieb hat, Lob und gute Worte hört und gar nicht genau weiß, worum es sich handelt, und es gar nicht wissen will und nur glücklich ist in dem Bewußtsein, daß er es ist, der so spricht. »Sollte das Kognak sein?« fragte sich K. zweifelnd und kostete aus Neugier. Doch, es war Kognak, merkwürdigerweise, und brannte und wärmte. Wie es sich beim Trinken verwandelte, aus etwas, das fast nur Träger süßen Duftes war, in ein kutschermäßiges Getränk! »Ist es möglich?« fragte sich K., wie vorwurfsvoll gegen sich selbst, und trank noch einmal.

 

Da – K. war gerade in einem langen Schluck befangen – wurde es hell, das elektrische Licht brannte, innen auf der Treppe, im Gange, im Flur, außen über dem Eingang. Man hörte Schritte die Treppe herabkommen, die Flasche entfiel K.s Hand, der Kognak ergoß sich über einen Pelz, K. sprang aus dem Schlitten, gerade hatte er noch die Tür zuschlagen können, was einen dröhnenden Lärm gab, als kurz darauf ein Herr langsam aus dem Hause trat. Das einzig Tröstliche schien, daß es nicht Klamm war, oder war gerade dieses zu bedauern? Es war der Herr, den K. schon im Fenster des ersten Stockes gesehen hatte. Ein junger Herr, äußerst wohlaussehend, weiß und rot, aber sehr ernst. Auch K. sah ihn düster an, aber er meinte sich selbst mit diesem Blick. Hätte er doch lieber seine Gehilfen hergeschickt; sich so zu benehmen, wie er es getan hatte, hätten auch sie verstanden. Ihm gegenüber der Herr schwieg noch, so, als hätte er für das zu Sagende nicht genug Atem in seiner überbreiten Brust. »Das ist ja entsetzlich«, sagte er dann und schob seinen Hut ein wenig aus der Stirn. Wie? Der Herr wußte doch wahrscheinlich nichts von K.s Aufenthalt im Schlitten und fand schon irgend etwas entsetzlich? Etwa daß K. bis in den Hof gedrungen war? »Wie kommen Sie denn hierher?« fragte der Herr schon leiser, schon ausatmend, sich ergebend in das Unabänderliche. Was für Fragen! Was für Antworten! Sollte etwa K. noch ausdrücklich selbst dem Herrn bestätigen, daß sein mit soviel Hoffnungen begonnener Weg vergebens gewesen war? Statt zu antworten, wandte sich K. zum Schlitten, öffnete ihn und holte seine Mütze, die er darin vergessen hatte. Mit Unbehagen merkte er, wie der Kognak auf das Trittbrett tropfte.

Dann wandte er sich wieder dem Herrn zu; ihm zu zeigen, daß er im Schlitten gewesen war, hatte er nun keine Bedenken mehr, es war auch nicht das schlimmste; wenn er gefragt würde, allerdings nur dann, wollte er nicht verschweigen, daß ihn der Kutscher selbst zumindest zum Öffnen des Schlittens veranlaßt hatte. Das eigentlich Schlimme aber war ja, daß ihn der Herr überrascht hatte, daß nicht genug Zeit mehr gewesen war, sich vor ihm zu verstecken, um dann ungestört auf Klamm warten zu können, oder daß er nicht genug Geistesgegenwart gehabt hatte, im Schlitten zu bleiben, die Tür zu schließen und dort auf den Pelzen Klamm zu erwarten oder dort wenigstens zu bleiben, solange dieser Herr in der Nähe war. Freilich, er hatte ja nicht wissen können, ob nicht vielleicht doch schon jetzt Klamm selbst komme, in welchem Fall es natürlich viel besser gewesen wäre, ihn außerhalb des Schlittens zu empfangen. Ja, es war mancherlei hier zu bedenken gewesen, jetzt aber gar nichts mehr, denn es war zu Ende.

»Kommen Sie mit mir«, sagte der Herr, nicht eigentlich befehlend, aber der Befehl lag nicht in den Worten, sondern in einem sie begleitenden kurzen, absichtlich gleichgültigen Schwenken der Hand. »Ich warte hier auf jemanden«, sagte K., nicht mehr in Hoffnung auf irgendeinen Erfolg, sondern nur grundsätzlich. »Kommen Sie«, sagte der Herr nochmals ganz unbeirrt, so, als wolle er zeigen, daß er niemals daran gezweifelt habe, daß K. auf jemanden warte. »Aber ich verfehle dann den, auf den ich warte«, sagte K. mit einem Zucken des Körpers. Trotz allem, was geschehen war, hatte er das Gefühl, daß das, was er bisher erreicht hatte, eine Art Besitz war, den er zwar nur noch scheinbar festhielt, aber doch nicht auf einen beliebigen Befehl hin ausliefern mußte. »Sie verfehlen ihn auf jeden Fall, ob Sie warten oder gehen«, sagte der Herr, zwar schroff in seiner Meinung, aber auffallend nachgiebig für K.s Gedankengang. »Dann will ich ihn lieber beim Warten verfehlen«, sagte K. trotzig, durch bloße Worte dieses jungen Herrn würde er sich gewiß nicht von hier vertreiben lassen. Darauf schloß der Herr mit einem überlegenen Ausdruck des zurückgelehnten Gesichtes für ein Weilchen die Augen, so, als wolle er von K.s Unverständigkeit wieder zu seiner eigenen Vernunft zurückkehren, umlief mit der Zungenspitze die Lippen des ein wenig geöffneten Mundes und sagte dann zum Kutscher: »Spannen Sie die Pferde aus.«

Der Kutscher, ergeben dem Herrn, aber mit einem bösen Seitenblick auf K., mußte nun doch im Pelz heruntersteigen und begann, sehr zögernd, so, als erwarte er nicht vom Herrn einen Gegenbefehl, aber von K. eine Sinnesänderung, die Pferde mit dem Schlitten rückwärts näher zum Seitenflügel zurückzuführen, in welchem offenbar hinter einem großen Tor der Stall mit dem Wagenschuppen untergebracht war. K. sah sich allein zurückbleiben; auf der einen Seite entfernte sich der Schlitten, auf der anderen, auf dem Weg, den K. gekommen war, der junge Herr, beide allerdings sehr langsam, so, als wollten sie K. zeigen, daß es noch in seiner Macht gelegen sei, sie zurückzuholen.

Vielleicht hatte er diese Macht, aber sie hätte ihm nichts nützen können; den Schlitten zurückzuholen bedeutete sich selbst zu vertreiben. So blieb er still als einziger, der den Platz behauptete, aber es war ein Sieg, der keine Freude machte. Abwechselnd sah er dem Herrn und dem Kutscher nach. Der Herr hatte schon die Tür erreicht, durch die K. zuerst den Hof betreten hatte, noch einmal blickte er zurück, K. glaubte ihn den Kopf schütteln zu sehen über soviel Hartnäckigkeit, dann wandte er sich mit einer entschlossenen, kurzen, endgültigen Bewegung um und betrat den Flur, in dem er gleich verschwand. Der Kutscher blieb länger auf dem Hof, er hatte viel Arbeit mit dem Schlitten, er mußte das schwere Stalltor aufmachen, durch Rückwärtsfahren den Schlitten an seinen Ort bringen, die Pferde ausspannen, zu ihrer Krippe führen, das alles machte er ernst, ganz in sich gekehrt, ohne jede Hoffnung auf eine baldige Fahrt; dieses schweigende Hantieren ohne jeden Seitenblick auf K. schien diesem ein viel härterer Vorwurf zu sein als das Verhalten des Herrn. Und als nun, nach Beendigung der Arbeit im Stall, der Kutscher quer über den Hof ging, in seinem langsamen, schaukelnden Gang, das große Tor zumachte, dann zurückkam, alles langsam und förmlich nur in Betrachtung seiner eigenen Spur im Schnee, dann sich im Stall einschloß und nun auch alles elektrische Licht verlöschte – wem hätte es leuchten sollen? – und nur noch oben der Spalt in der Holzgalerie hell blieb und den irrenden Blick ein wenig festhielt, da schien es K., als habe man nun alle Verbindung mit ihm abgebrochen und als sei er nun freilich freier als jemals und könne hier auf dem ihm sonst verbotenen Ort warten, solange er wolle, und habe sich diese Freiheit erkämpft, wie kaum ein anderer es könnte, und niemand dürfe ihn anrühren oder vertreiben, ja kaum ansprechen; aber – diese Überzeugung war zumindest ebenso stark – als gäbe es gleichzeitig nichts Sinnloseres, nichts Verzweifelteres als diese Freiheit, dieses Warten, diese Unverletzlichkeit.

Kapitel Ein­hundert­siebzehn

Und er riß sich los und ging ins Haus zurück, diesmal nicht an der Mauer entlang, sondern mitten durch den Schnee, traf im Flur den Wirt, der ihn stumm grüßte und auf die Tür des Ausschanks zeigte, folgte dem Wink, weil ihn fror und weil er Menschen sehen wollte, war aber sehr enttäuscht, als er dort an einem Tischchen, das wohl eigens hingestellt worden war, denn sonst begnügte man sich dort mit Fässern, den jungen Herrn sitzen und vor ihm – ein für K. bedrückender Anblick – die Wirtin aus dem Brückengasthaus stehen sah. Pepi, stolz, mit zurückgeworfenem Kopf, ewig gleichem Lächeln, ihrer Würde unwiderlegbar sich bewußt, schwenkend den Zopf bei jeder Wendung, eilte hin und wieder, brachte Bier und dann Tinte und Feder, denn der Herr hatte Papiere vor sich ausgebreitet, verglich Daten, die er einmal in diesem, dann wieder einmal in einem Papiere am anderen Ende des Tisches fand, und wollte nun schreiben. Die Wirtin, von ihrer Höhe, überblickte still, mit ein wenig aufgestülpten Lippen, wie ausruhend, den Herrn und die Papiere, so, als habe sie schon alles Nötige gesagt und es sei gut aufgenommen worden. »Der Herr Landvermesser, endlich«, sagte der Herr bei K.s Eintritt mit kurzem Aufschauen, dann vertiefte er sich wieder in seine Papiere. Auch die Wirtin streifte K. nur mit einem gleichgültigen, gar nicht überraschten Blick. Pepi aber schien K. überhaupt erst zu bemerken, als er zum Ausschankpult trat und einen Kognak bestellte.

K. lehnte dort, drückte die Hand an die Augen und kümmerte sich um nichts. Dann nippte er von dem Kognak und schob ihn zurück, weil er ungenießbar sei. »Alle Herren trinken ihn«, sagte Pepi kurz, goß den Rest aus, wusch das Gläschen und stellte es ins Regal. »Die Herren haben auch besseren«, sagte K. »Möglich«, sagte Pepi, »ich aber nicht.« Damit hatte sie K. erledigt und war wieder dem Herrn zu Diensten, der aber nichts benötigte und hinter dem sie nur im Bogen immerfort auf und ab ging, mit respektvollen Versuchen, über seine Schultern hinweg einen Blick auf die Papiere zu werfen; es war aber nur wesenlose Neugier und Großtuerei, welche auch die Wirtin mit zusammengezogenen Augenbrauen mißbilligte.

Plötzlich aber horchte die Wirtin auf und starrte, ganz dem Horchen hingegeben, ins Leere. K. drehte sich um, er hörte gar nichts Besonderes, auch die anderen schienen nichts zu hören, aber die Wirtin lief auf den Fußspitzen mit großen Schritten zu der Tür im Hintergrund, die in den Hof führte, blickte durchs Schlüsselloch, wandte sich dann zu den anderen mit aufgerissenen Augen, erhitztem Gesicht, winkte sie mit dem Finger zu sich, und nun blickten sie abwechselnd durch, der Wirtin blieb zwar der größte Anteil, aber auch Pepi wurde immer bedacht, der Herr war der verhältnismäßig Gleichgültigste. Pepi und der Herr kamen auch bald zurück, nur die Wirtin sah noch immer angestrengt hindurch, tief gebückt, fast kniend, man hatte fast den Eindruck, als beschwöre sie jetzt nur noch das Schlüsselloch, sie durchzulassen, denn zu sehen war wohl schon längst nichts mehr. Als sie sich dann endlich doch erhob, mit den Händen das Gesicht überfuhr, die Haare ordnete, tief Atem holte, die Augen scheinbar erst wieder an das Zimmer und die Leute hier gewöhnen mußte und es mit Widerwillen tat, sagte K., nicht um sich etwas bestätigen zu lassen, was er wußte, sondern um einem Angriff zuvorzukommen, den er fast fürchtete, so verletzlich war er jetzt: »Ist also Klamm schon fortgefahren?« Die Wirtin ging stumm an ihm vorüber, aber der Herr sagte von seinem Tischchen her: »Ja, gewiß. Da Sie Ihren Wachtposten aufgegeben hatten, konnte ja Klamm fahren. Aber wunderbar ist es, wie empfindlich der Herr ist. Bemerkten Sie, Frau Wirtin, wie unruhig Klamm ringsumher sah?« Die Wirtin schien das nicht bemerkt zu haben, aber der Herr fuhr fort: »Nun, glücklicherweise war ja nichts mehr zu sehen, der Kutscher hatte auch die Fußspuren im Schnee glattgekehrt.« – »Die Frau Wirtin hat nichts bemerkt«, sagte K., aber er sagte es nicht aus irgendeiner Hoffnung, sondern nur gereizt durch des Herrn Behauptung, die so abschließend und inappellabel hatte klingen wollen. »Vielleicht war ich gerade nicht beim Schlüsselloch«, sagte die Wirtin, zunächst um den Herrn in Schutz zu nehmen, dann aber wollte sie auch Klamm sein Recht geben und fügte hinzu: »Allerdings, ich glaube nicht an eine so große Empfindlichkeit Klamms. Wir freilich haben Angst um ihn und suchen ihn zu schützen und gehen hierbei von der Annahme einer äußersten Empfindlichkeit Klamms aus. Das ist gut so und gewiß Klamms Wille. Wie es sich aber in Wirklichkeit verhält, wissen wir nicht. Gewiß, Klamm wird mit jemandem, mit dem er nicht sprechen will, niemals sprechen, soviel Mühe sich auch dieser jemand gibt und so unerträglich er sich vordrängt, aber diese Tatsache allein, daß Klamm niemals mit ihm sprechen, niemals ihn vor sein Angesicht kommen lassen wird, genügt ja, warum sollte er in Wirklichkeit den Anblick irgend jemandes nicht ertragen können. Zumindest läßt es sich nicht beweisen, da es niemals zur Probe kommen wird.« Der Herr nickte eifrig. »Es ist das natürlich im Grunde auch meine Meinung«, sagte er, »habe ich mich ein wenig anders ausgedrückt, so geschah es, um dem Herrn Landvermesser verständlich zu sein. Richtig jedoch ist, daß sich Klamm, als er ins Freie trat, mehrmals im Halbkreis umgesehen hat.« – »Vielleicht hat er mich gesucht «, sagte K. »Möglich«, sagte der Herr, »darauf bin ich nicht verfallen.« Alle lachten, Pepi, die kaum etwas von dem Ganzen verstand, am lautesten.

 

»Da wir jetzt so fröhlich beisammen sind«, sagte dann der Herr, »würde ich Sie, Herr Landvermesser, sehr bitten, durch einige Angaben meine Akten zu ergänzen.« – »Es wird hier viel geschrieben«, sagte K. und blickte von der Ferne auf die Akten hin. »Ja, eine schlechte Angewohnheit«, sagte der Herr und lachte wieder, »aber vielleicht wissen Sie noch gar nicht, wer ich bin. Ich bin Momus, der Dorfsekretär Klamms.« Nach diesen Worten wurde es im ganzen Zimmer ernst; obwohl die Wirtin und Pepi den Herrn natürlich kannten, waren sie doch wie betroffen von der Nennung des Namens und der Würde. Und sogar der Herr selbst, als habe er für die eigene Aufnahmefähigkeit zuviel gesagt und als wolle er wenigstens vor jeder nachträglichen, den eigenen Worten innewohnenden Feierlichkeit sich flüchten, vertiefte sich in die Akten und begann zu schreiben, daß man im Zimmer nichts als die Feder hörte. »Was ist denn das: Dorfsekretär?« fragte K. nach einem Weilchen. Für Momus, der es jetzt, nachdem er sich vorgestellt hatte, nicht mehr für angemessen hielt, solche Erklärungen selbst zu geben, sagte die Wirtin: »Herr Momus ist der Sekretär Klamms wie irgendeiner der Klammschen Sekretäre, aber sein Amtssitz und, wenn ich nicht irre, auch seine Amtswirksamkeit -«, Momus schüttelte aus dem Schreiben heraus lebhaft den Kopf, und die Wirtin verbesserte sich, »also nur sein Amtssitz, nicht seine Amtswirksamkeit ist auf das Dorf eingeschränkt. Herr Momus besorgt die im Dorfe nötig werdenden schriftlichen Arbeiten Klamms und empfängt alle aus dem Dorf stammenden Ansuchen an Klamm als erster.« Als K., noch wenig ergriffen von diesen Dingen, die Wirtin mit leeren Augen ansah, fügte sie, halb verlegen, hinzu: »So ist es eingerichtet, alle Herren aus dem Schloß haben ihre Dorfsekretäre.« Momus, der viel aufmerksamer als K. zugehört hatte, sagte ergänzend zur Wirtin. »Die meisten Dorfsekretäre arbeiten nur für einen Herrn, ich aber für zwei, für Klamm und für Vallabene.« – »Ja«, sagte die Wirtin, sich nun ihrerseits auch erinnernd, und wandte sich an K. »Herr Momus arbeitet für zwei Herren, für Klamm und für Vallabene, ist also zweifacher Dorfsekretär.« – »Zweifacher gar«, sagte K. und nickte Momus, der jetzt, fast vorgebeugt, voll zu ihm aufsah, zu, so wie man einem Kind zunickt, das man eben hat loben hören. Lag darin eine gewisse Verachtung, so wurde sie entweder nicht bemerkt oder geradezu verlangt. Gerade vor K., der doch nicht einmal würdig genug war, um von Klamm auch nur zufällig gesehen werden zu dürfen, wurden die Verdienste eines Mannes aus der nächsten Umgebung Klamms ausführlich dargestellt mit der unverhüllten Absicht, K.s Anerkennung und Lob herauszufordern. Und doch hatte K. nicht den richtigen Sinn dafür; er, der sich mit allen Kräften um einen Blick Klamms bemühte, schätzte zum Beispiel die Stellung eines Momus, der unter Klamms Augen leben durfte, nicht hoch ein, fern war ihm Bewunderung oder gar Neid, denn nicht Klamms Nähe an sich war ihm das Erstrebenswerte, sondern daß er, K., nur er, kein anderer mit seinen, mit keines anderen Wünschen an Klamm herankam und an ihn herankam, nicht um bei ihm zu ruhen, sondern um an ihm vorbeizukommen, weiter ins Schloß.

Und er sah auf seine Uhr und sagte: »Nun muß ich aber nach Hause gehen.« Sofort veränderte sich das Verhältnis zu Momus' Gunsten. »Ja, freilich«, sagte dieser, »die Schuldienerpflichten rufen. Aber einen Augenblick müssen Sie mir noch widmen. Nur ein paar kurze Fragen.« – »Ich habe keine Lust dazu«, sagte K. und wollte zur Tür gehen. Momus schlug einen Akt gegen den Tisch und stand auf: »Im Namen Klamms fordere ich Sie auf, meine Fragen zu beantworten.« – »In Klamms Namen?« wiederholte K. »Kümmern ihn denn meine Dinge?« – »Darüber«, sagte Momus, »habe ich kein Urteil und Sie doch wohl noch viel weniger, das wollen wir also beide getrost ihm überlassen. Wohl aber fordere ich Sie, in meiner mir von Klamm verliehenen Stellung, auf, zu bleiben und zu antworten.« – »Herr Landvermesser«, mischte sich die Wirtin ein, »ich hüte mich, Ihnen noch weiter zu raten; ich bin ja mit meinen bisherigen Ratschlägen, den wohlmeinendsten, die es geben kann, in unerhörter Weise von Ihnen abgewiesen worden, und hierher zum Herrn Sekretär – ich habe nichts zu verbergen – bin ich nur gekommen, um das Amt von Ihrem Benehmen und Ihren Absichten gebührend zu verständigen und mich für alle Zeiten davor zu bewahren, daß Sie etwa neu bei mir einquartiert würden, so stehen wir zueinander, und daran wird wohl nichts mehr geändert werden, und wenn ich daher jetzt meine Meinung sage, so tue ich es nicht etwa, um Ihnen zu helfen, sondern um dem Herrn Sekretär die schwere Aufgabe, die es bedeutet, mit einem Mann wie Ihnen zu verhandeln, ein wenig zu erleichtern. Trotzdem aber können Sie eben wegen meiner vollständigen Offenheit – anders als offen kann ich mit Ihnen nicht verkehren, und selbst so geschieht es widerwillig – aus meinen Worten auch für sich Nutzen ziehen, wenn Sie nur wollen. Für diesen Fall mache ich Sie nun also darauf aufmerksam, daß der einzige Weg, der für Sie zu Klamm führt, hier durch die Protokolle des Herrn Sekretärs geht. Aber ich will nicht übertreiben, vielleicht führt der Weg nicht bis zu Klamm, vielleicht hört er weit vor ihm auf, darüber entscheidet das Gutdünken des Herrn Sekretärs. Jedenfalls aber ist es der einzige Weg, der für Sie wenigstens in der Richtung zu Klamm führt. Und auf diesen einzigen Weg wollen Sie verzichten, aus keinem anderen Grund als aus Trotz?« – »Ach, Frau Wirtin«, sagte K., »es ist weder der einzige Weg zu Klamm, noch ist er mehr wert als die anderen. Und Sie, Herr Sekretär, entscheiden darüber, ob das, was ich hier sagen würde, bis zu Klamm dringen darf oder nicht?« »Allerdings«, sagte Momus und blickte mit stolz gesenkten Augen rechts und links, wo nichts zu sehen war, »wozu wäre ich sonst Sekretär.« – »Nun sehen Sie, Frau Wirtin«, sagte K., »nicht zu Klamm brauche ich einen Weg, sondern erst zum Herrn Sekretär.« – »Diesen Weg wollte ich Ihnen öffnen«, sagte die Wirtin. »Habe ich Ihnen nicht am Vormittag angeboten, Ihre Bitte an Klamm zu leiten? Dies wäre durch den Herrn Sekretär geschehen. Sie aber haben es abgelehnt, und doch wird Ihnen jetzt nichts anderes übrigbleiben als nur dieser Weg. Freilich, nach Ihrer heutigen Aufführung, nach dem versuchten Überfall auf Klamm, mit noch weniger Aussicht auf Erfolg. Aber diese letzte, kleinste, verschwindende, eigentlich gar nicht vorhandene Hoffnung ist doch Ihre einzige.« – »Wie kommt es, Frau Wirtin«, sagte K., »daß Sie ursprünglich mich so sehr davon abzuhalten versucht haben, zu Klamm vorzudringen, und jetzt meine Bitte gar so ernst nehmen und mich beim Mißlingen meiner Pläne gewissermaßen für verloren zu halten scheinen? Wenn man mir einmal aus aufrichtigem Herzen davon abraten konnte, überhaupt zu Klamm zu streben, wie ist es möglich, daß man mich jetzt scheinbar ebenso aufrichtig auf dem Weg zu Klamm, mag er zugegebenerweise auch gar nicht bis hin führen, geradezu vorwärts treibt?« – »Treibe ich Sie denn vorwärts?« sagte die Wirtin. »Heißt es vorwärts treiben, wenn ich sage, daß Ihre Versuche hoffnungslos sind? Das – wäre doch wahrhaftig das Äußerste an Kühnheit, wenn Sie auf solche Weise die Verantwortung für sich auf mich überwälzen wollten. Ist es vielleicht die Gegenwart des Herrn Sekretärs, die Ihnen dazu Lust macht? Nein, Herr Landvermesser, ich treibe Sie zu gar nichts an. Nur das eine kann ich gestehen, daß ich Sie, als ich Sie zum erstenmal sah, vielleicht ein wenig überschätzte. Ihr schneller Sieg über Frieda erschreckte mich, ich wußte nicht, wessen Sie noch fähig sein könnten, ich wollte weiteres Unheil verhüten und glaubte, dies durch nichts anderes erreichen zu können, als daß ich Sie durch Bitten und Drohungen zu erschüttern versuchte. Inzwischen habe ich über das Ganze ruhiger zu denken gelernt. Mögen Sie tun, was Sie wollen. Ihre Taten werden vielleicht draußen im Schnee auf dem Hof tiefe Fußspuren hinterlassen, mehr aber nicht.« – »Ganz scheint mir der Widerspruch nicht aufgeklärt zu sein«, sagte K., »doch ich gebe mich damit zufrieden, auf ihn aufmerksam gemacht zu haben. Nun bitte ich aber Sie, Herr Sekretär, mir zu sagen, ob die Meinung der Frau Wirtin richtig ist, daß nämlich das Protokoll, das Sie mit mir aufnehmen wollen, in seinen Folgen dazu führen könnte, daß ich vor Klamm erscheinen darf. Ist dies der Fall, bin ich sofort bereit, alle Fragen zu beantworten. In dieser Hinsicht bin ich überhaupt zu allem bereit.« – »Nein«, sagte Momus, »solche Zusammenhänge bestehen nicht. Es handelt sich nur darum, für die Klammsche Dorfregistratur eine genaue Beschreibung des heutigen Nachmittags zu erhalten. Die Beschreibung ist schon fertig, nur zwei, drei Lücken sollen Sie noch ausfüllen, der Ordnung halber; ein anderer Zweck besteht nicht und kann auch nicht erreicht werden.« K. sah die Wirtin schweigend an. »Warum sehen Sie mich an«, fragte die Wirtin, »habe ich vielleicht etwas anderes gesagt? So ist er immer, Herr Sekretär, so ist er immer. Fälscht die Auskünfte, die man ihm gibt, und behauptet dann, falsche Auskunft bekommen zu haben. Ich sagte ihm seit jeher, heute und nimmer, daß er nicht die geringste Aussicht hat, von Klamm empfangen zu werden; nun, wenn es also keine Aussicht gibt, wird er sie auch durch dieses Protokoll nicht bekommen. Kann etwas deutlicher sein? Weiter sage ich, daß dieses Protokoll die einzige wirkliche amtliche Verbindung ist, die er mit Klamm haben kann; auch das ist doch deutlich genug und unanzweifelbar. Wenn er mir nun aber nicht glaubt, immerfort – ich weiß nicht, warum und wozu – hofft, zu Klamm vordringen zu können, dann kann ihm, wenn man in seinem Gedankengange bleibt, nur die einzige wirkliche amtliche Verbindung helfen, die er mit Klamm hat, also dieses Protokoll. Nur dieses habe ich gesagt, und wer etwas anderes behauptet, verdreht böswillig die Worte.« – »Wenn es so ist, Frau Wirtin«, sagte K., »dann bitte ich Sie um Entschuldigung, dann habe ich Sie mißverstanden; ich glaubte nämlich – irrigerweise, wie sich jetzt herausgestellt – aus Ihren früheren Worten herauszuhören, daß doch irgendeine allerkleinste Hoffnung für mich besteht.« – »Gewiß«, sagte die Wirtin, »das ist allerdings meine Meinung, Sie verdrehen meine Worte wieder, nur diesmal nach der entgegengesetzten Richtung. Eine derartige Hoffnung für Sie besteht meiner Meinung nach und gründet sich allerdings nur auf dieses Protokoll. Es verhält sich aber damit nicht so, daß Sie einfach den Herrn Sekretär mit der Frage anfallen können: ›Werde ich zu Klamm dürfen, wenn ich die Fragen beantworte?‹ Wenn ein Kind so fragt, lacht man darüber, wenn es ein Erwachsener tut, ist es eine Beleidigung des Amtes, der Herr Sekretär hat es nur durch die Feinheit seiner Antwort gnädig verdeckt. Die Hoffnung aber, die ich meine, besteht eben darin, daß Sie durch das Protokoll eine Art Verbindung, vielleicht eine Art Verbindung mit Klamm haben. Ist das nicht Hoffnung genug? Wenn man Sie nach Ihren Verdiensten fragt, die Sie des Geschenkes einer solchen Hoffnung würdig machen, könnten Sie das Geringste vorbringen? Freilich, Genaueres läßt sich über diese Hoffnung nicht sagen, und insbesondere der Herr Sekretär wird in seiner amtlichen Eigenschaft niemals auch nur die geringste Andeutung darüber machen können. Für ihn handelt es sich, wie er sagt, nur um eine Beschreibung des heutigen Nachmittags, der Ordnung halber; mehr wird er nicht sagen, auch wenn Sie ihn gleich jetzt mit Bezug auf meine Worte danach fragen.« – »Wird denn, Herr Sekretär«, fragte K., »Klamm dieses Protokoll lesen?« – »Nein«, sagte Momus, »warum denn? Klamm kann doch nicht alle Protokolle lesen, er liest sogar überhaupt keines. ›Bleibt mir vom Leibe mit eueren Protokollen!‹ pflegt er zu sagen.« – »Herr Landvermesser«, klagte die Wirtin, »Sie erschöpfen mich mit solchen Fragen. Ist es denn nötig oder auch nur wünschenswert, daß Klamm dieses Protokoll liest und von den Nichtigkeiten Ihres Lebens wortwörtlich Kenntnis bekommt; wollen Sie nicht lieber demütigst bitten, daß man das Protokoll vor Klamm verbirgt, eine Bitte übrigens, die ebenso unvernünftig wäre wie die frühere – denn wer kann vor Klamm etwas verbergen? -, die aber doch einen sympathischeren Charakter erkennen ließe. Und ist es denn für das, was Sie Ihre Hoffnung nennen, nötig? Haben Sie nicht selbst erklärt, daß Sie zufrieden sein würden, wenn Sie nur Gelegenheit hätten, vor Klamm zu sprechen, auch wenn er Sie nicht ansehen und Ihnen nicht zuhören würde? Und erreichen Sie durch dieses Protokoll nicht zumindest dieses, vielleicht aber viel mehr?« »Viel mehr? – fragte K. »Auf welche Weise?« – »Wenn Sie nur nicht immer«, rief die Wirtin, »wie ein Kind alles gleich in eßbarer Form dargeboten haben wollten! Wer kann denn Antwort auf solche Fragen geben? Das Protokoll kommt in die Dorfregistratur Klamms, das haben Sie gehört, mehr kann darüber mit Bestimmtheit nicht gesagt werden. Kennen Sie aber dann schon die ganze Bedeutung des Protokolls, des Herrn Sekretärs, der Dorfregistratur? Wissen Sie, was es bedeutet, wenn der Herr Sekretär Sie verhört? Vielleicht oder wahrscheinlich weiß er es selbst nicht. Er sitzt ruhig hier und tut seine Pflicht, der Ordnung halber, wie er sagte. Bedenken Sie aber, daß ihn Klamm ernannt hat, daß er im Namen Klamms arbeitet, daß das, was er tut, wenn es auch niemals bis zu Klamm gelangt, doch von vornherein Klamms Zustimmung hat. Und wie kann etwas Klamms Zustimmung haben, was nicht von seinem Geiste erfüllt ist? Fern sei es von mir, damit etwa in plumper Weise dem Herrn Sekretär schmeicheln zu wollen, er würde es sich auch selbst sehr verbitten, aber ich rede nicht von seiner selbständigen Persönlichkeit, sondern davon, was er ist, wenn er Klamms Zustimmung hat, wie eben jetzt: Dann ist er ein Werkzeug, auf dem die Hand Klamms liegt, und wehe jedem, der sich ihm nicht fügt.«