50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

Tekst
Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Einmal, als Josi wiederkam, brachte er die überraschende Kunde mit, daß sein Werk zu mehr als zwei Dritteln vollendet sei und man jetzt auf der näheren Seite ohne Gefahr in den Felsengang eintreten und durch die Felsen der ersten zwei Bretter und über die Wildleutfurren wandeln könne.

Da gab ihm Bini einen glühenden Kuß: und ihr kleiner Schrei: »Josi, mein Held!« verriet ihre Freude über die Meldung.

Sie und der Vater beschlossen, Josi am anderen Tag an den Weißen Brettern einen Besuch zu machen.

Da klangen die Kirchenglocken.

Als sie aber mit gesenktem Köpfchen, das Betbuch, das weiße Tüchlein und den Rosmarinzweig in den Händen, sittsam die Kirchhoftreppe emporschritt, wichen links und rechts die Frauen zurück: »Das Teufelsmädchen – das dem Rebellen den Daumen hält!«

Der überraschten Binia entglitt das Betbuch und es fiel zu Boden.

»Seht ihr es, daß sie eine Teufelin ist, sie kann das Betbuch nicht mehr halten,« riefen die Weiber.

Vroni hob der Erschrockenen das silberbeschlagene Büchlein auf: »Binia, ich bleibe bei dir!«

Weiter ging Binia den Dornenweg, doch jetzt erhobenen Hauptes, mit glühenden Wangen, blitzenden Augen. »Vroni,« sagte sie, »gehe von mir, es könnte auch dir schaden.«

Sie tritt in die Kirche, sie will sich in die kleine Bank setzen, wo das Wappen der seligen Mutter, ein Steinbock, gemalt ist. Da tritt die Glottermüllerin, das häßliche, scheinheilige Weib, vor sie, speit mit zahnlosem Mund vor ihr aus, weist mit dem Zeigefinger auf den nassen Fleck am Boden und sagt: »Das bannt – darüber hinaus kommst du nicht, Hexe!« Und richtig, Binia weicht zurück.

»He, seht,« schreit die Glottermüllerin, »sie ist eine Teufelin – ja, sie hält dem Rebellen an den Weißen Brettern wirklich und wahrhaftig den Hexendaumen.«

Da ist Josi plötzlich an Binias Seite. Ihm ist es nicht besser ergangen. Die Männer haben die Fäuste gegen ihn geballt. Nun reicht er ihr vor der ganzen Gemeinde die Hand: »Komm, Binia, wir gehen wieder,« und den Kopf zurückwerfend, sagt er: »Schämt euch, ihr Unvernünftigen von St. Peter!«

Damit wendet sich das Paar.

Am Altar steht aber schon, das weiße Heilandskreuz auf der dunklen Soutane, der greise Pfarrer. Er erhebt das kleine Handkruzifix, tritt schwankend vor und spricht mit der gebrechlichen, meckernden Stimme und dem wackelnden Kopfe des hohen Alters:

»Josi Blatter und Binia Waldisch, im Namen Gottes und aller Heiligen, bleibet! Ich schütze euch mit dem heiligen Kreuz. Ihr aber von St. Peter, hütet euch. In euern Hütten und Häusern geht ein alter heidnischer Teufelsglaube um, der nach Opfern schreit, ihr seid eine unchristliche räudige Rotte geworden und gehorcht dem Baalspfaffen Johannes mehr als der heiligen Kirche. Ich, euer rechtmäßiger Pfarrer, sage euch: Wenn ihr, ihr Tollen von St. Peter, nicht aufhört mit eurer Bosheit, so lege ich die Siegel der Kirche an dieses Gotteshaus, an eure Glocken, ich verweigere euch die Sakramente und ein christliches Grab, leben und sterben sollt ihr wie das wilde Getier. Wer von euch am Aberglauben hängen bleiben will, verlasse jetzt gleich das Gotteshaus.«

In seinen Stuhl zurückgesunken erwartete der alte Priester, seine Gebete murmelnd, die Wirkung seiner Worte, doch auf der Seite der Männer sah er nichts als finsteren Trotz, auf der Seite der Frauen herrschte das Heulen der Furcht. Erst nach einer Weile begann er, noch zitternd vor Erregung, den Gottesdienst.

Als der Presi hörte, was für einen Schimpf man seinen Kindern zugefügt hatte, wütete und tobte er gegen das Dorf wie in alter Zeit: »Keiner außer dem Garden bekommt im Bären mehr einen Trunk, von heute an ist er kein Wirtshaus mehr!« Dem Pfarrer aber, seinem ehemaligen Feind, ging er männlich danken.

Am anderen Tag stieg er, den grünen Asersack an der knorrigen Hand, mit Binia hinauf durch die Alpen, wo das Vieh zum Abzug rüstete. Es war ein sonniger und klarer Tag, Binia hatte wieder rote Wänglein, ihr glückliches Kinderlachen erwachte für einen Augenblick wieder und läutete über die Enzianen dahin und im Arm trug sie die Bergastern, um das Werk Josis zu schmücken.

Der Presi baute Luftschlösser. Ja, den Bären will er verkaufen auf die Zeit, wo Josi sein Gelübde gelöst hat, seine Kapitalien flüssig machen und dann dem Zug des Glückes und der Liebe folgen. »Josi,« sagt er zu Binia, »wird in der weiten Welt schon ein schönes Plätzchen für uns wissen. Unter dem thörichten Volk von St. Peter ist es mir verleidet.«

Sie erreichten die Höhe der heiigen Wasser, sie standen am Eingang der Weißen Bretter, wo die trübe Flut, die aus dem Hintergrund des Thales kam, durch einen Kännel abgelenkt in eine Runse floß und in lustigen Bächlein in die blauen Tiefen des Glotterthals niederschäumte.

Mit heiligem Schauer betrat Binia den Felsengang Josis, der sich mannshoch wölbte, und der Presi betrachtete das Werk in Bewunderung. Anderthalb Fuß breit und einen Fuß tief zog sich am Grund des Stollens der neue Wässerwassergraben dahin, neben ihm ein genügend breiter erhöhter Felsenweg für den Garden, die Wände waren mit Hammer und Meißel ausgeglichen und die Risse des Gesteins mit Zement ausgegossen. Da und dort fiel durch ein Felsenfenster ein Bündel Tageslicht in das stille, halbdunkle Gestein. Nun schritten sie unter dem Balkendach der Wildleutfurre, weiter durch das mittlere Weiße Brett, wieder über die Wildleutfurre – da sieh – da horch – im Dunkel vor ihnen glüht ein roter Lichtfunke und tönt Hammerschlag. An das Gestein hingeknäuelt arbeitet Josi im Schein der Grubenlampe.

Ein kleiner Ruf Binias – er läßt das Werkzeug fallen: »Bini – meine Bini – Vater gottwillkommen!«

Die schöne, feine Bini hat Josi zu Ehren ihr bestes Kleid angezogen, sie steht, in den Händen den Strohhut, um den sie zum Schutz ein weißes Tüchlein geschlagen hat, demütig erglühend vor dem bestaubten Felsensprenger, der im schlechtesten Gewand bei der Arbeit ist.

»Da errichtest du wirklich ein Werk der Wohlfahrt für die Ewigkeit, Josi,« grüßt der Presi im Vaterstolz.

Ein paar Stunden weilt der freundliche Besuch in der sonnigen Höhe. Am Eingang des Felsenkanals sitzen die Liebenden mit dem Presi, der sein Reisesäcklein auspackt, und die Gläser der dreie klingen auf glückliche Vollendung des Werkes zusammen. Ueber das Glotterthal sind die blauen Schleier des Nachmittags hingegossen, die Bergwelt mit ihren Firnen steht weit im Kreise still und feierlich in Verklärung da, Haupt an Haupt, Firn an Firn, am erhabensten die Krone.

»Josi,« flüstert Binia und ihr weiches dunkles Haar streift ihn, »heute ist es schön wie zu Santa Maria del Lago – es ist so schön, daß man vor Glück sterben könnte.«

Da rollt es von der Krone dumpf – ein seltsames Zeichen im Herbst, wo sonst die Gletscher friedlich sind. Aber man lebt eben in einem Jahr, wo die Natur ausgleicht, was der vorausgegangene schlechte Sommer zu viel an Schnee auf das Gebirge gehäuft hat. Darum schaffen und donnern die Gletscher bis spät ins Jahr hinein.

Glückselig steigen Vater und Tochter von der Leitung, von dem Werk, wie es sonst keines im Berglande giebt, durch den Abendnebelflor des Herbstes zu Thal und hören noch den jauchzenden Nachruf Josis. Den anderen Tag ist der Presi draußen in Hospel und unterhandelt mit dem Kreuzwirt, der bei der Ausrechnung mit Frau Cresenz ein gieriges Auge auf den Bären geworfen hat und im eigenen Vorteil den Fremdenverkehr im Glotterthal aufrecht erhalten will, am dritten geht er in die Stadt und tritt mit starken Einschlägen alle Kapitalbriefe gegen Bargeld an die Bank ab.

Inzwischen erlebt aber Binia etwas, was der Mutigen beinahe die letzte Hoffnung raubt.

Die Magd kommt weinend gelaufen, sie macht das Kreuz vor ihr und sagt: »Ihr seid eine Hexe und haltet es mit dem Teufel – ich gehe jetzt gleich aus dem Haus.« »Aber Cleophi, seid nicht närrisch!« Und Binia lächelt ihr gütig zu.

»Wohl, wohl, Ihr seid eine Teufelin – der Kaplan und selbst die alte Susi in Tremis sagten es und Kinder haben ja im Teufelsgarten den Ring Eures ehemaligen Verlobten gefunden, den Ring, mit dem Ihr Euch in der Totennacht dem Satan angelobt habt. Kaplan Johannes geht mit ihm durchs Dorf, alles weiß es: Es scheint nur, daß Euer Liebster das Werk an den Weißen Brettern selber baue, er schafft aber nicht, er thut nur so am Tag, und in der Nacht baut es der Teufel. Dafür müßt Ihr mit dem Satan siebenmal um das Bockje reiten.«

»Geht, Cleophi, geht – da ist Euer Lohn.«

Totenblaß steht Binia. Sie hat bei dem Kampf im Teufelsgarten Thöni den Ring vor die Füße geworfen. Jetzt ist er in den Händen des gräßlichen Kaplans, und nun ist er ein neues Mittel für den Verrückten, gegen sie zu hetzen. Und wird man nicht, wie man den Ring gefunden hat, Thöni finden?

Sie beißt hilflos in die Fingerknöchel: »Warum hat uns denn der Himmel vor den Kugeln Thönis bewahrt, wenn Josi und ich an einem Schein von Schuld und am Aberglauben des Dorfes sterben sollen?«

Der Garde, der mit Peter Thugi das Wasserrad, das in die Leitung eingeschaltet werden soll, auf den Berg schaffte, hat Josi das Versprechen abgenommen, daß er die paar Wochen, die noch zur Vollendung nötig sind, an den Weißen Brettern bleibe. Er kommt nicht mehr zu Thal. Auch der Garde ist im tiefsten Herzen überzeugt, daß Josis Werk gut ist, aber er kennt die furchtbare Empörung im Dorf. Wo er zum Guten redet, begegnet er höhnischem, kaltem Lächeln und drohendem Schweigen, die Gemeinde horcht nur noch auf den bösen verrückten Kaplan Johannes.

Eine Weile hat ihr allerdings die wohlgemeinte Warnung und Drohung des Pfarrers Zügel angelegt, aber jetzt knurren die Dörfler: »Der Alte wagt es nicht, uns die Kirche zu verschließen, wir wollen ihn schon meistern,« und die Weiber hangen an Kaplan Johannes. »Er hat ein besseres Herz für uns als der Pfarrer, der nichts von unseren alten heiligen Sagen wissen will.« Und wenn ein Halbvernünftiger noch den Einwurf erhebt, man wolle doch nicht so stark zu einem Verrückten halten, sonst komme man gewiß an ein böses Ziel, antworten die anderen: »Kaplan Johannes ist schon närrisch, aber gerade denen, die Gott etwas geschlagen hat, giebt er dafür besondere Weisheiten. Der Kaplan Johannes sieht und weiß mehr als sieben Pfarrer.«

 

Er hat gute Zeiten, sein Bettelsack ist immer voll, wo er geht, rufen die Weiber: »Kommt doch ein wenig zu uns herein, Johannes!« Klagt ein Bauer: »Meine Kühe fressen nicht mehr und geben keine Milch,« so antwortet Johannes: »Merkt Ihr es, merkt Ihr es! Das kommt vom Teufelssalz. Das ganze Thal riecht nach Schwefel.« Nun spüren auch die Dörfler den Geruch. In irgend einem Haus ist eine schwere Geburt. »Seht Ihr,« flüstern es die Frauen einander zu, »die Kinder können nicht mehr zur Welt kommen. Das rührt vom Sprengen her!«

Die von St. Peter spüren es kaum, wie der Kaplan ein Netz des Aberglaubens um sie zieht. Und plötzlich geht die feste Sage unter denen von St. Peter, es sei eine weiße arme Seele durch das Dorf gewandelt und habe dreimal gerufen:

»O weh, o weh – am Teufelssalz

Stirbt dieser Tage Jung's und Alt's!«

So in drei Nächten!

Und warum rollen die Gletscher im Herbst, wo sie doch sonst schweigen? Das bedeutet: »Am letzten Weinmonat geht St. Peter mit Menschen und Vieh unter. In dem Augenblick, wo der Wasserhammer der neuen Leitung einsetzt, verlassen die erzürnten armen Seelen die Krone, die Firnen fallen mit so schrecklichem Donner auf das Dorf, daß das bloße Hören schon tötet!«

Drei Männer nur noch, der Presi, der Garde und der Pfarrer, und einige stille, wie Eusebi und Peter Thugi, glauben an Josis Werk.

Die Regierung hat sich übrigens auch nicht ganz von dem Werk zurückgezogen, wie sie drohte, sie meldet, sie hoffe, die Leute von St. Peter haben sich, da das Werk einen so erfreulichen Fortgang nehme, wegen des Dynamites beruhigt, und lade den Gemeinderat ein, auf den Tag der Vollendung, den letzten Weinmonat, ein hübsches Gemeindefestchen zu Ehren Josi Blatters zu veranstalten. Sie wolle sich dabei vertreten lassen und ersuche Josi Blatter, daß er die letzten rettenden Schüsse auf diesen Tag verspare, an dem man, während im Thal die Glocken läuten, in feierlicher Prozession an die Weißen Bretter ziehen wolle.

Dazu schütteln der Garde und der Presi wehmütig und ungläubig die greisen Häupter, aber es ist gut, wenn auf diesen Tag jemand von der Regierung kommt – Vielleicht ist dann ein Mann der Staatsgewalt am nötigsten – es wird der Tag sein, wo in St. Peter der Aufruhr losbricht, denn so sind die Leute des Thales – sie warten in der Voraussetzung, daß doch irgend noch ein Ereignis geschehen und ihre That überflüssig machen könnte, den letzten Augenblick zum Handeln ab.

Aber dann – –

In diesen Tagen der äußersten Spannung, die durch die Stille des Dorfes noch unheimlicher wurde, sagte der Presi einmal zu Binia: »Der Garde hat mich gefragt, wie denn dein Ring, der jetzt denen im Dorf so viel zu reden giebt, in den Teufelsgarten gekommen sei. Ich habe geantwortet, du habest ihn Thöni zurückgegeben und er habe ihn wohl auf der Flucht fortgeworfen. Ist es so?«

Ahnungslos fragt der Presi, Binia aber schwankt vor Entsetzen. Sie wagt es nicht mehr, dem Vater das gräßliche Geheimnis länger vorzuenthalten. Jeder der schönen Herbsttage, die kommen und gehen, vermehrt die Gefahr, daß Thönis Leiche gefunden werde, denn die Wasser der Glotter fließen immer spärlicher und immer klarer, und der arme Vater darf doch nicht ungerüstet von der Entdeckung der Leiche überrascht werden.

Zögernd legte sie, die Hände gefaltet, die Augen auf den Boden geheftet, mit leiser und feiner Stimme die furchtbare Beichte ab. Als sie erzählt, wie sie Josi in den Teufelsgarten bestellt habe und dann heimlich durch die Wetternacht dort hinausgegangen sei, da lodern die Augen des Presi noch einmal in alter Zornglut auf und mit böser Stimme sagt er: »Gott's Donner! Du giebst es mir recht zu schmecken, daß du immer ein Trotzkopf gegen deinen Vater gewesen bist. Da kommt ja eine höllische Geschichte aus.«

Binia nimmt seine Hand, sie beichtet mit dem Mut der Verzweiflung. Plötzlich wird der rote Kopf des Presi blaß. Weil sie vor ihm in die Kniee sinkt und schreit:

»So ist's gegangen! verzeihe mir, Vater – verzeihe mir!« da zieht er sie mit zitternden Armen empor und preßt die leichte, schöne Gestalt seines Kindes stürmisch an seine breite Brust.

»Bini – arme Bini,« stöhnt er, »da ist nichts zu verzeihen – du bist den Weg gegangen, den du hast gehen müssen, und es ist geschehen, was hat geschehen müssen. – Es ist Schicksal – –«

Seine Stimme bricht schluchzend ab und plötzlich fühlt Binia, wie zwei warme Thränen über die Wangen des Mannes rollen, den sie nie zuvor hat weinen gesehen. In mächtiger Bewegung halten sich Vater und Kind umschlungen, eine Stille waltete in dem Gemach, als ginge ein Engel auf leisen Sohlen an den zweien vorbei.

So halten sie sich in Glück und Elend lange, lange.

Das Leben des Presi hat durch die Beichte Binias einen Stoß erhalten wie noch nie.

Er findet den Mut nicht, in der gräßlichen Angelegenheit irgend etwas zu thun. Er klammert sich an die Hoffnung, Thönis Leiche würde schon deswegen nicht gefunden, weil sie niemand suche. Ein halbes Jahr ist jetzt vorüber, seit die That geschehen ist, und niemand kümmert sich um Thöni mehr. Ist es nicht bei Unglücksfällen schon häufig genug vorgekommen, daß man mit dem größten Eifer die Leichen solcher, die in die Glotter gestürzt sind, nicht mehr hat finden können? Entwederlagen sie in den Schlünden der Schlucht verborgen oder der mächtige Wasserschwall des Sommers hatte sie weiter geschwemmt und in den Strom hinausgeführt. So mochte es auch mit der Leiche Thönis gegangen sein.

Viel mehr als die Angst vor einer Entdeckung quälen den Presi die Erinnerungen an Thöni, das Bewußtsein, daß er die Verantwortung für das unglückliche Leben trägt.

»Thöni, der mir alles von den Augen absah, hat gemeint, es sei mir ein Gefallen, wenn Josi tot bliebe. Er hat den ersten Brief unterschlagen, dann hat er nicht mehr rückwärts gehen können, hat falsch geschrieben, und es ist gekommen, wie's hat kommen müssen. Daß er ein Schelm und fremd geworden ist, daran bin ich schuld.«

Das tönt ihm unaufhörlich durch die Sinne.

Das Schrecklichste aber! Er glaubt nicht daran, daß Thöni selber in die Glotter gelaufen sei. Es klingt so unglaubwürdig. Sein Kind redet es sich nur so ein, um nicht in dem Gedanken, sie liebe einen Totschläger, umzukommen – – aber der Presi wagt es nicht, sie noch einmal darüber zu fragen – nein – nein – er zittert nur davor, eines Tages könnte in Josi doch die Selbstanklage erwachen, wie sie in seiner Brust erwacht ist, und es würde die zwei, die nicht ohne einander leben können, trennen.

Ein Fluch des Unglücks ginge dann von ihm und seinen Gewaltthaten noch in das folgende Geschlecht hinein.

Das sinnt der Presi in entsetzlicher Furcht. Er glaubt nicht mehr an ein schönes Alter, aber wenn er die dunklen Augen Binias traurig auf sich gerichtet sieht. so lächelt er sie mit seinem wärmsten Lächeln an, hebt den gebeugten Rücken und meint vor ihr verbergen zu können, wie rasch er zusammenfällt und aus den Kleidern schwindet.

O, es ist rührend, wie sich der alte Mann zu verstellen sucht, daß Binia nicht sehe, wie er hoffnungslos leidet.

Hoffnungslos! – Nein, wenn er sein herrliches Kind sich anschaut, wie es mutig und geduldig seine Leiden trägt, wie es auf Josi wie auf einen Felsen baut, glaubt und harrt, dann ist auch ihm, der Held der heligen Wasser sei so stark, daß er selbst das Ereignis in der Glotterschlucht besiege.

Um den Vater müht sich Binia treu und hingebungsvoll, sie sinnt Tag und Nacht nur darüber, wie sie den Gram von seiner Stirne scheuche.

»Kind – Herzensvogel,« sagt er, »wie bist du mit deinem Vater lieb.«

Seine Auswanderungspläne hat er aufgegeben – in St. Peter hat er gelebt, in St. Peter will er sterben – steigt Josi von seinem Werk herunter, so wird er ihm sagen: »Nimm meine Binia – schenke ihr Glück, viel Glück – zieht fort – mein Segen begleitet euch – ich aber erwarte mein letztes Stündlein in St. Peter.«

In drei Tagen wird Josi kommen, aber niemand wagt auch nur das bescheidenste Festchen vorzubereiten. Der Handel um den Bären stockt. Aus Scheu vor Frau Cresenz, aus der Furcht vor dem eigenen Gewissen, aus Sorge, es könnte in seiner Abwesenheit Binia ein Leid geschehen, wagt es der Presi nicht mehr, nach Hospel hinauszugehen. Die ganze blinde Wut des Volksaberglaubens hat sich auf das arme Kind geworfen, sie erfährt Beleidigungen, wo sie geht und wo sie steht, und die Dörfler schlagen das Kreuz und speien vor ihr.

Der Verkauf des Bären würde die Aufregung im Dorf noch steigern.

Er hat einen furchtbaren Groll auf die von St. Peter, aber ändern kann er an der entsetzlichen Lage nichts, er vertraut nur auf die heilige Scheu, die denn doch jeder im Dorfe hat, ein Leben anzutasten. Nein, das thun sie nicht, obwohl sie entsetzlich sind in ihrem drohenden Schweigen.

Was geschehen mag, er wird noch einmal als Presi auf seinem Posten stehen – und so stark sein, daß er sie bändigt. – –

Ja, Presi, Ihr werdet Euch schon noch einmal auf den Posten stellen müssen – in St. Peter stehen die Dinge bös.

Kapitel Neunzehn

Ein neuer Ahornbund ist entstanden, furchtbarer als der erste, so furchtbar, daß ihn niemand auszuführen wagt und jeder zittert vor dem Los, das ihn treffen könnte.

Ehe der Hammer an den Weißen Brettern schlägt, muß zur Rettung St. Peters ein Mord begangen sein. Josi Blatter, der sich gegen den Himmel gewendet hat, muß fallen, die armen Seelen auf der Krone müssen versöhnt werden.

In der Nacht halten die Männer seitab vom Dorf unter Wetterlärchen ihre ernsten Beratungen. Leichten Herzens thun sie den Schritt nicht, jeder ist ganz durchdrungen von dem Gedanken, was für eine schreckliche That ein Mord ist. Seit Matthys Jul, der fern im Dämmerschein der Sage steht, hat im Glotterthale kein Mann einen anderen getötet. Es ist aber doch besser, es falle nur einer, nur Josi Blatter, der Rebell, als daß das ganze Dorf untergehe.

Nicht Josi Blatter ist der Retter von St. Peter, sondern der ist es, der ihn erschlägt.

Man kann ihn aber nicht erschlagen, er ist droben in den Felsen, er steht in einem schmalen Gang, in dem nur ein Mann auf einmal gehen kann, und er ist Herr des Teufelssalzes, er ist mit dem Satan im Bund, und wenn Hunderte gegen ihn streiten, so überwältigt er sie mit einer einzigen Patrone, die er nach dem nächsten Stein schleudert.

Die Männer stehen ratlos. Nur noch zwei Tage, dann wird der Hammer von den Weißen Brettern schlagen.

Seit man Binias Ring gefunden hat, ist Kaplan Johannes dem Schicksal Thönis auf der Spur. Warum sind Josi Blatter und Binia Waldisch in der Wetternacht über den Stutz heraufgekommen, in der Nacht, wo Thöni Grieg geflohen ist? Warum haben seine Verwandten in Hospel nie die geringste Nachricht von ihm bekommen? Er klettert Tag um Tag an den Felsenufern der Glotter und späht in die Wasser.

Heute hat Johannes in einem Felsenschlund beim Bildhaus an der Grenze von Tremis, in dem das Wasser quirlt und brodelt, etwas auftauchen sehen, was ein Bein und ein Schuh sein könnte – nein, was ein Bein und ein Schuh ist.

Wie die Männer von ihren heimlichen Beratungen heimkommen, herrscht unter den Weibern schon Wehklagen: es stehe einer außerhalb der Brücke in der Glotter, er strecke den Arm gegen die Weißen Bretter und stöhne immer nur: »Der dort oben – der dort oben« – und hinterher seufzte er: »Und Binia Waldisch!«

Abergläubisches Entsetzen füllt das Dorf. Es ist kein Schlaf in St. Peter – nur Beten und Gejammer: »Warum haben wir den Bau an den Weißen Brettern zugegeben, warum haben wir uns durch den Presi verführen lassen?« Und dazu die dumpfe Antwort: »Auf ihn und sein Kind mag es kommen.« In der Nacht sinkt ein dichter kalter Nebel ins Thal, ehe der Tag dämmert, klopft der Mesner schreckensbleich an die Thüren: »Ich kann nicht zur Frühmesse läuten, es steht einer in weißem Gewand an der Kirchenthüre!«

Mit ihren Laternen gehen die Dörfler in festgeschlossener Schar zum Gotteshaus.

Es steht keiner an der Kirchenthüre, aber ein großer Zettel klebt daran, sie lesen ihn mit Entsetzen und die Frauen fahren kreischend zurück.

 

»Gerechte Bürger von St. Peter!« heißt es auf dem Blatt. »Ich, Thöni Grieg, klage es euch. Aus den Wassern der Glotter schreie ich seit dem Fridolinstag um ein ehrliches Begräbnis in geweihter Erde, während mein Blut sündig an den Weißen Brettern vermauert wird. Ihr kennt meine Mörder. Begrabt mich und schafft Gerechtigkeit. Die armen Seelen wissen, was ich leide, und ziehen aus.«

Das Dorf ist ratlos, das Grauen liegt allen in den Gliedern, einer raunt es dem anderen zu: »Wenn die Toten zu schreiben anfangen, dann ist es Zeit, daß wir handeln.«

Da schlarpt Kaplan Johannes mit lodernden Augen heran. »Seht ihr, die Toten reden! Was wollt ihr mehr? Ich will euch etwas sagen, aber die Zunge soll dem verdorren, der Satan soll dem ins Blut fahren, der mich verrät. Bevor ihr den Mord am Rebellen sühnen könnt, müßt ihr Binia Waldisch, die Teufelin, schlagen; erst wenn sie im Blute liegt, ist er schwach und leicht zu bewältigen. Wozu der Schrecken, wozu das Erbarmen? Lest, wie sie Thöni getötet und sein Blut nach der Stadt gebracht haben, damit man das Teufelssalz hat bereiten können. Die erste Schuldige ist Binia Waldisch, die Tochter des Presi; sie müßt ihr schlagen, sonst geht St. Peter unter.«

Die Männer schaudern: »Das thun wir, so wahr uns Gott helfe, nicht. Mann gegen Mann, so ist's in den alten Zeiten gehalten morden, aber eine Jungfrau tötet, selbst wenn sie eine Teufelin wäre, keiner. Eher mag St. Peter untergehen.«

Da rollt der Gletscher.

»Hört ihr's – St. Peter geht unter!« wehklagen die Frauen, und der Kaplan lächelt: »Ihr könnt die Hexe mit weltlichen Waffen nicht umbringen, die heiligen Grabkreuze müßt ihr aus der Erde reißen und sie damit schlagen.«

»Johannes,« grollen die Männer und ballen gegen ihn die Fäuste, »seid Ihr der Satan, der uns ins Unglück bringen will? Eine Jungfrau mit Grabkreuzen erschlagen! Das ist unerhört im Bergland. Thäten mir das unseren heiligen Toten zu leid, daß wir ihre stillen Gräber schänden, so geschähe es uns gerecht, wenn unser alter Pfarrer uns das Gotteshaus verschlösse und die Glocken bannte. Dann müßten wir ja auch zu Grunde gehen, es giebt ja genug Meldungen im Gebirge, wie Dörfer vergangen sind, denen die Kirche den Segen entzogen hat. Die Weiber sind unfruchtbar geworden, der Sohn hat das Beil gegen den Vater erhoben, wie die Wölfe haben sich die Bewohner zerrissen und die letzten sich in Verzweiflung über die Felsen gestürzt. Kaplan – Ihr wollt uns zu Grunde richten – seht Euch vor, wenn Ihr uns schlecht ratet, so seid Ihr der erste, den wir erschlagen.« Da hat der Kaplan einen Anfall der Fallsucht, wie er ihn selbst hervorrufen kann. Er stürzt, er zuckt, er schäumt, er schreit.

»Er ist seiner selbst nicht mehr mächtig, jetzt redet Gott aus ihm,« mahnt der Glottermüller und streckt die gefalteten Hände zum Himmel. Was aber Johannes spricht, ist entsetzlich: »Thöni Grieg – du mußt aufstehen, sie müssen einen Toten zeugen hören, daß St. Peter untergeht.«

Ja, wenn ein Toter aufersteht, wenn Thöni Grieg in der Glotter liegt, so wollen sie dem Kaplan glauben und das Entsetzliche thun, Binia Waldisch, die Mörderin, erschlagen.

Während aber die Dörfler auf dem Kirchhof noch beraten, ertönt der Ruf: »Der Pfarrer kommt – der Pfarrer!«

Da springt der Kaplan auf: »Er will euch überreden. – Eilt an die Glotter und seht. – Vor dem Bildhaus zu Tremis schwimmt Thüni Grieg in der Schlucht.«

Halb in Groll, halb in Furcht und Scham flieht die Gemeinde vor ihrem Pfarrer. Er liest den Anschlag an der Kirchenthüre, sein weißes Haupt zittert, er stammelt: »Jetzt muß ich Wort halten!« Weinend schleicht der alte trostlose Mann ins Pfarrhaus zurück. »Sie haben sich dem Baalspfaffen ergeben, sie haben sich von der heiligen Kirche gewandt, wohlan, so muß ich mein Wort halten.«