50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Teil Drei

Inhalt

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel Drei­und­zwanzig

So endet Onderkuhle. So endet meine fürstliche Erziehung.

Wohin? Zu meinen Eltern zurück? Was kann ich ihnen sein, wenn nicht eine Last? Ein Sohn gehört zu seinen Eltern, ich weiß es. Aber was dann, wenn er für ihr fürstliches Elend nur Sorge bedeutet? Das Geschenk der Armut und Genügsamkeit haben sie mir von sich weitergegeben, aber sie haben genug davon für sich behalten. Und doch würden sie ihrem einzigen Sohne die Tür nicht verschließen, auch wenn er nicht im vollen Glänze einer ausgezeichneten Aufführung zu ihnen zurückkäme. Sie würden ihre kleinen Portionen in noch kleinere Teile zerschnitzeln, vielleicht mir den Hauptteil zuweisen, dagegen alle Sorgen auf sich nehmen, wie sie auch jetzt die Sorgen lieber bei sich behalten, statt mir zu schreiben. Denn ihr Schweigen ist nicht Lieblosigkeit. Aber mögen sie verblendet sein in ihrer Liebe, ich bin es in meiner Liebe nicht.

Ich verfolge den Weg zwischen den Rübenfeldern, der zur nächsten größeren Ansiedlung führt. Von Onderkuhle habe ich Abschied genommen. Ich sehe nur zu klar, daß dieser Abschied nicht den von mir selbst anerkannten Gesetzen entspricht. Nicht Mut zu haben wurde verlangt, sondern Mut zu zeigen. Mut haben kann man nicht immer, Mut zeigen ist immer möglich. Das war die Lehre der Schule und des Meisters. Was ich war, habe ich vernichtet. Sollte es so sein? Soll ich dem Schicksal danken, daß es Onderkuhle zerstört hat und mit dem schönen, durch Generationen gepflegten und geliebten Onderkuhle auch das Onderkuhle in mir selbst? Ich lebe. Ich fühle, Feigheit ist gefährlicher als Mut. Ich will den Versuch wagen, allein zu leben, mich allein durchzuschlagen. Meine Hände schmerzen nicht mehr. Die offenen Stellen haben schon begonnen, sich zu überhäuten. Ich bin achtzehn Jahre alt. In der Brusttasche habe ich meine Papiere und in der linken Seitentasche meine Uhr. Man wird diese in V. in Geld umsetzen können, das ist für den Anfang das wichtigste. Es wird nicht viel sein, aber genug, mich nach Brüssel zu bringen und mich dort die ersten Tage über Wasser zu halten.

Längst hat die flache Landschaft, die ich durchwandere, ihren eigentümlichen Onderkuhle-Charakter verloren. Es sind Felder, Flecken, Gehöfte, Wege und Viehherden wie überall in der Welt. Aber mit dem Gefühl der freudigsten Bestürzung sehe ich plötzlich gegen sieben Uhr morgens die Luftspiegelung vor mir, wie ich sie einige Tage vor dem Unglück gesehen: ein Stück Stadt, eben V., an ihrem Rande eine ziemlich hohe, aber mißfarbene und an einigen Stellen deutlich abbröckelnde Fabrikwand. Das Haus steht allein, ist von unangenehmen Dünsten umgeben, die an die Chlordämpfe bei den chemischen Experimenten von Onderkuhle erinnern. Ich sehe eine breite Einfahrt, die sich eben öffnet, um die übernächtige Feuerwehrmannschaft auf ihrem Lastautomobil einzulassen, ihr folgt später eine Pferdefeuerspritze. Das Automobil rollt langsam, die Pferde aber keuchen, sie haben ihr Letztes hergegeben, um dem Automobil folgen zu können. Im Hintergrund der Fabrik raucht ein viereckiger, mäßig hoher Fabrikschlot, auch er mit Zeichen des Verfalls. Vielleicht ätzen die chemischen Dünste. Auch ist weit und breit um das Haus alles Grün stumpf und kärglich. Es ist Wochentag, und die Arbeit beginnt wie immer. Die Arbeiter sehen mich an, sie wissen, woher ich komme. Ebenso weiß es jeder Kaufmann in der kleinen Stadt, wo alle Lieferanten des Stiftes wohnen. Als ich in das erste beste Geschäft eintrete und meine Uhr vorlege, um darauf Geld zu erhalten, weist man die Uhr zurück, stellt mir aber ohne Pfand jeden gewünschten Betrag zur Verfügung und weigert sich sogar – ganz Onderkuhle –, etwas Geschriebenes als Schuldschein anzunehmen. Aber ich bestehe darauf. Dann begebe ich mich zum Bahnhofe. Eben läuft ein Zug ein, dem noch Arbeiter für die Fabrik entsteigen. Man erkennt meine hechtgraue Uniform, und ein junges Fabrikmädchen lächelt mir halb freundlich, halb spöttisch zu. Ich löse im Zuge mein Billett und bin am Spätnachmittag dieses Tages in meiner Vaterstadt.

Es ist heiß, aber die Luft ist gesättigt von Feuchtigkeit. Die grelle Sonne bricht durch die übermäßig belebten engen Straßen wie in Schächte. Aber hier in den breiten Boulevards atmet es sich nicht freier als in der Nähe der giftige Chlordämpfe erzeugenden Fabrik in V. Der Verkehr spielt sich, für mich fast unbegreiflich laut und schnell, inmitten einer Art gleißenden Nebels ab, aus dem nur die staubgrauen Kronen der bemitleidenswerten Bäume und die Türme der alten Baulichkeiten hervorragen. Die Straßen und Plätze sind strotzend gefüllt mit abgehetzten, dabei aber nicht einmal richtig erschöpften Menschen, dazu Fahrzeug auf Fahrzeug mit blind rennenden schlechten Pferden, rasend schnell fahrende Automobile. Kaum erkenne ich die Straßen wieder, die ich doch als Kind unzählige Male gesehen habe. In einer sehr engen, aber aus lauter sechsstöckigen Bauten bestehenden Seitenstraße finde ich ein Hospiz, wo man für wenig Geld einen Schlafraum erhält. Auch hier gibt es eine Hausordnung, an der hellsten Wand des finstern Kämmerchens angeschlagen, die eine Aufforderung enthält, täglich an den Segnungen des gemeinsamen Gebetes teilzunehmen. Doch wird kein Zwang ausgeübt. Das Haus selbst ist so ruhig mitten in dem rasenden Dröhnen des Straßenverkehrs wie ein großer Kiesel mitten in einem Bienenhause. Gerade diese Stille läßt sich schwer ertragen. Ich bin müde, aber nicht fähig, ein Auge zu schließen. Ich hatte es mir leichter gedacht, in derselben Stadt wie meine Eltern zu leben, ohne sie in der ersten Stunde schon aufzusuchen. Ich möchte es zu gern wagen, mich noch heute meinen Eltern zu nähern. Schon daß die bloße Möglichkeit besteht, macht mich glücklich, glücklicher, als ich es in der letzten Zeit in Onderkuhle war.

Kapitel Vier­und­zwanzig

Ist es nicht, als hätte mich gestern erst mein Vater den Weg zur Bahn geführt? Heute kehre ich zurück. Ich stelle mir vor, er habe die Nachricht von meiner Ankunft zu spät erhalten, oder er sei verhindert, an die Bahn zu kommen, eine wichtige Sitzung im Adelsklub halte ihn fest. So will ich mir die Sorgen fortdenken, die – jetzt erst fühle ich es ganz deutlich – während der letzten Wochen auf mir gelegen haben. Mit meiner Mutter rechne ich nicht einmal in meiner Phantasie. Sie erwarte ich nicht einmal in meinen Träumen. Schon sind die Straßen zwischen dem Bahnhofe und meinem Vaterhause durchflogen. Plötzlich kommt mir der Gedanke: Sollte meinem Vater etwas zugestoßen sein? Erwartet mich eine Strafe für mein Versagen? In unserer Anstalt gab es ernstere Strafen nie. Sehr oft hielten die Schüler untereinander ein Strafgericht ab, aber nie wurde von einem der Lehrer oder Meister eine Züchtigung befohlen; die schärfste Strafe war der Aufenthalt in einem abgeschlossenen Raum, allein mit sich selbst und seinem bösen Gewissen.

Alle diese Gedanken erlöschen mit einem Male, als ich vor der Tür meines Vaterhauses einen Leichenwagen erblicke. Nicht Todesangst überfällt mich, sondern es ist heißer Schmerz, ein lebendiges Erschrecken. Nicht zum Klagen, Jammern, Stöhnen treibt es mich, nicht zum Hinwerfen auf die Stufen, aber zum Blickabwenden zwingt es mich und, ich sage es offen, zur Flucht. Was ist geschehen? Wovor will der Mensch fliehen, der eben erst vor dem Brande Onderkuhles geflohen ist? Auf wen wartet der Leichenwagen mit den müden verschwitzten, struppigen Pferden im Spätnachmittagslichte, die unter schäbigen, früher schwarzen, jetzt grünlich schillernden Schabracken versteckt sind? Wer ist es? Meine Mutter, die verspielte, die zarte, die schüchterne, die mädchenhafteste Mutter, die nur den einen Fehler hatte, sich vor mir zu scheuen? Aber scheue ich mich nicht ebenso vor ihr? Geht meine Scheu nicht so weit, daß ich mich in den gegenüberliegenden Hauseingang drücke? Dort atme ich wie einen Trost die kühle, mit fernem Obstgeruch erfüllte Luft ein. Oder ist es mein Vater, der ewig müde, er, der Fürst mit der hängenden Unterlippe, den schieferfarbenen Augen, die nur zu selten ins Blau umschlagen, der adelsbewußte, zurückhaltende Mann mit seinem kavaliersmäßigen Gang, mit seiner immer und für jeden offenen, leider oft leeren Hand, die aber die Handschuhe nicht gern ablegt?

In dem Treppenhause brennen die wenigen Leuchter, es entsteht ein sonderbares Zwielicht, da aus den Hoffenstern (wie deutlich erblicke ich jetzt das Haus vor mir!) ein starker Strahl der Abendsonne fällt. So sieht es aus, als hätte man vergessen, das Licht auszudrehen. Über den Läufer ist noch ein dunkelgrüner Trauerteppich gespannt. Er zeigt Schmutz- und Staubspuren, man kann es nicht verhindern, daß Lieferanten und Hausbewohner, wenn auch auf den Zehenspitzen angesichts des feierlichen Augenblicks, emporsteigen.

Es kann nicht sein, daß es ein Mitglied unserer Familie ist, das darauf wartet, daß man es zu Grabe trage. Oder sollte das Elend unseres Hauses so weit gehen, daß es sich ein standesgemäßes Sterben nicht mehr leisten kann? Ich empfinde jetzt die Nähe meiner Eltern als etwas sehr Nahes, sehr Gewohntes, sehr Warmes, Beruhigendes, nicht als etwas Erregendes. Und doch möchte ich Tränen weinen um sie beide.

 

Meines Mitgefühls bin ich mir noch nie so bewußt geworden, wenn ich mich aus Onderkuhle nach ihnen sehnte, wie jetzt, wo ich aus dem gegenüberliegenden Hauseingang die doppelt beleuchtete, im hellen Staube daliegende Treppe betrachte. Aber soll ich um Menschen weinen, die ich seit so vielen Jahren entweder gar nicht, wie meine Mutter, oder nur auf wenige, streng bewachte Augenblicke gesehen habe, wie meinen Vater? Aber unbeschreibbar, nicht anders als unbeschreibbar ist meine Freude, als ich sie jetzt beide erblicke! Meine Mutter geht einige Stufen voran, als könne sie es nicht erwarten, auf die Straße zu kommen, ihr folgt mein Vater, sehr ernst, sehr bleich. Hinter ihnen die Träger, bärtige, schon greisenhafte Gestalten, die nicht ohne Anstrengung einen schwarzen Sarg auf Händen tragen. Unser uralter Diener David muß es sein, den sie jetzt bestatten wollen. Wahrscheinlich war er lange krank, mein armer Vater hat ihn bedient, statt daß er meinen Vater bedient hätte, aber man wollte sich voneinander nicht trennen. Deshalb das lange Schweigen. Nur deshalb? Könnte ich es doch nur glauben! Mein Vater ist sehr ergriffen, er will sich fassen, sieht sich um, ob man mit dem Sarge auch richtig umgehe – eine Bewegung ohne Sinn, aber sehr ergreifend, da mein Vater einen zu hohen weißen Kragen trägt und seinen Kopf nur schwer darin bewegen kann. Jetzt schluchzen beide Eltern auf, sie weinen beim ersten Schritt aus dem Hause. Nicht um mich, der aus seinem Winkel ihnen zusieht und sie beide mit seiner scheuen Liebe umfaßt. Nun kommen sie alle in meine Nähe. Ich sehe vor mir den aus billigem Material gearbeiteten Sarg, an dem der Lack schon abspringt, ich sehe den dürftigen Blumenkranz mit der blauen seidenen Schleife, dem einzigen Schmuck. Mein Vater wendet sich jetzt zu meiner Mutter, um ihr den Arm zu reichen. Diesen Augenblick benutze ich, um, aus dem Haustor hervortretend, mich tief zu verbeugen. Nur so kann ich mich ihnen verbergen. Und muß ich es nicht? Muß es nicht sein? In katholischen Ländern ist es Sitte, jede Leiche durch Abnehmen des Hutes zu grüßen. Nie wurde ein leererer Gruß gegeben noch angenommen. Meine lebenden Eltern lasse ich, der lebende Sohn, ohne ein Wort vorbeigehen, aber den toten Diener grüße ich um seines Todes willen. Oder um seines Dienstes willen? Meine Eltern sehen mich, aber sie erkennen mich nicht. Nur so ist ihr Dankesgruß zu erklären, der wortlose, den sie mir beide, mein Vater etwas herzlicher, meine Mutter etwas unbeteiligter, zukommen lassen. Dies unser Wiedersehen nach so langer Zeit! Fast sieben Jahre ist es her, daß ich meine Mutter nicht gesehen habe. Sie ist beinahe nicht gealtert, sie ist schön, wie sie immer war, aber mein Vater zeigt ein gänzlich verändertes Wesen.

Das Schiebefach in dem Leichenwagen wird mit großer Schnelle aufgezogen, mit dem Sarge beladen und wieder eingeschoben. Ein sonderbarer Anblick, der einer gewissen Komik nicht entbehrt, denn es sieht aus, als würde ein Kastenbrot ins Ofenrohr geschoben. Jetzt kommt eine schwerfällige Karosse angefahren, die bis jetzt an einer schattigen Ecke unter den mageren Bäumen gehalten hat. Der Kutscher ist ebenso müde wie die Leichenbeamten. Offenbar haben sie heute schon mehr als ein Begräbnis dritter Klasse hinter sich, schnell raffen die Beamten noch den Treppenbehang mit sich, drehen die Lichter aus, holen in aller Eile zwei eiserne Kandelaber herunter, die sie mit dem andern feierlichen Gerumpel unter dem Schiebefach unterbringen, und jetzt schlagen sie auf die Pferde ein, sie wollen auf den Kirchhof und dann heim zu ihrer Familie.

Meine Eltern haben in der altmodischen, langgeschweiften, aber sehr gut gefederten Karosse Platz genommen, die nun beim schnelleren Anfahren wie ein Boot auf See schwankt. So folgen sie in unzeitgemäßer Eile der Leiche ihres alten Dieners. Er hat auch meine Jugendjahre begleitet, mich verläßlich, aber ohne Liebe betreuend. Er war dem Geschlechte der Orlamündes treu, nicht mir. Er diente der dritten Generation. Muß er deshalb dritter Klasse bestattet werden? Das ist Ernst, keine Ironie, die mir ferneliegt. Jedes Geschlecht lebte standesgemäß, soweit es konnte. Das vierte vor mir noch im Besitze eines großen Vermögens und auf eigenem Grund und Boden. Aber schon mein Großvater, der einzige Nachkomme meines Urgroßvaters (kinderreiche Ehen gab es in der ganzen Verwandtschaft nicht), verbrauchte viel, erwarb nichts, er heiratete in beschränkte Verhältnisse hinein, mein Vater in bedrängte. Alle drei Geschlechter hatten Diener, das älteste eine große Anzahl, das zweite eine mittlere, aus welcher zum Schluß nur der Alte übrigblieb. Ich werde seine Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen. Ich werde mein eigener Diener sein und, will es das Glück, auch mein eigener Herr. Aber die Überlieferung unseres Hauses, ich weiß es, fährt eben in dem Wagen, dessen Pferde in ihren baumwollenen Schabracken schwitzen, unter dem absplitternden Lack seines Fichtenholzsarges dem Kirchhofe zu. Auch hier geht ein Orlamünde den Weg unseres niedergleitenden Geschlechtes. Ich will ihm nicht folgen.

Während ich die altgewohnten Treppen zu unserer Wohnung in wenigen Sprüngen durchmesse, empfinde ich den Stoff meiner Litewka freudenvoll an meine Brust gepreßt, so hohes Lebensgefühl umfängt mich jetzt. Jetzt habe ich den Entschluß für die nächste Zeit gefunden. Nur Handarbeit kann mich erhalten. Ich bin stark, jung und gesund, ohne Ansprüche, ohne Bedenken, denn ich habe Angst vor nichts. Maschinen, proletarische Arbeit für geringes Geld, selbst körperliche Berührung mit Menschen, nichts davon schreckt mich. Vor allem will ich mein Leben aus eignem fristen. Weshalb soll, was Millionen gelingt, gerade mir unmöglich sein?

Noch ein Geschlecht, das meine, das vierte, hätte sich an die Reste der fürstlichen Herrlichkeit halten können, wenn auch nur entweder unadelig in der Gesinnung oder kümmerlich im Resultat. Ich weiß, daß meine Mutter eine kostbare Perlenkette besitzt. Mein Vater hat ein Paar goldene Sporen, einen mit Stahl und Gold eingelegten alten Küraß, alte Orden mit echten, wenn auch nicht großen, altmodisch geschliffenen Steinen und unseren Namen. Den Namen besitzt er noch, was von den übrigen Herrlichkeiten noch da ist, weiß ich nicht und will ich nicht wissen. Denn ich will bewußt auf jedes Erbe verzichten. Nun will ich mich als verschollen ansehen; aus Onderkuhle bin ich geflohen, in der weiten Welt, von der mich nichts trennt und von der mich gegen meinen Willen nichts fernhalten kann, bin ich nie mehr aufzufinden. Der andere Weg ist weniger romantisch. Aber menschlicher ist er und erspart meinen Eltern den großen Kummer, mich lange zu suchen und vergeblich nach mir zu forschen. Ich muß nur wie ein Mensch in der Masse verschwinden. Diesen Schmerz aber kann ich ihnen beim besten Sohneswillen nicht ersparen, daß ich mich von ihnen, wenn auch nur vorläufig, löse und sie ihrem Schicksal, mich dem meinen überlasse. Von meinem Schicksal wissen sie wohl noch nichts. Zeitungen lesen sie selten, und der Schuldirektor von Onderkuhle hat ihnen wahrscheinlich noch keine Nachricht gegeben. Besser ist es, wenn sie alles durch mich erfahren, was sie doch erfahren müssen. Ich will den Meinen schreiben und auch mir den Lebensweg wie einen Stundenplan in Onderkuhle für die nächste Zeit vorzeichnen. Ich habe mich mit den Schultern an die Tür unserer Wohnung gelehnt, aus welcher der alte Vaterhausduft dringt und daneben ganz zart der Brodem nach Weihrauch, nach gelöschtem Kalk, nach Medizin und Tod. Ich habe zufällig etwas Papier bei mir (welcher Zögling eines Erziehungsinstituts lebt ohne Notizbuch, auch wenn er nichts zu schreiben hätte?), und nun schreibe ich: »Liebe, teuerste Eltern! Unser Institut in Onderkuhle ist am dritten Juli einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen. Wir sind alle, Professoren und Personal und Schüler, gerettet, ebenso die Pferde. Ich bin am nächsten Morgen über V. abgereist und bin um fünf Uhr siebzehn nachmittags hier angekommen. Ich habe gleich die große Freude gehabt, Euch beide zu sehen. Dies beruhigt mich sehr. Das lange Ausbleiben Eurer Briefe hat mir Sorge gemacht. Nun ist alles gut. Ich muß nun trachten, einen Beruf zu ergreifen, und hoffe, daß mir dies bald gelingen wird. Ich habe eine Bitte an Euch. Sucht nicht nach mir! Ich muß erst alles ordnen, dann werde ich mich sofort melden. Und noch etwas, eine wirkliche Bitte, an der mir viel mehr liegt als an der ersten: Ich möchte gern, daß Ihr … « Diesen Satz streiche ich aus. Ich überlege, was ich habe, was mir fehlt, was ich wünsche, was ich fürchte. Mir geht, ich kann es nicht anders sagen, das Herz bei dem Gedanken an die erste Freiheit meines Lebens auf. In Onderkuhle habe ich schön gelebt, aber nicht frei. Die Luft hier, die mir beim Betreten der Stadt chlorartig giftig erschienen ist, kommt mir jetzt wunderbar leicht vor, lebenspendend und berauschend. So kommt es, daß ich etwas schreibe, das nicht im Sinne meiner Erziehung ist, nicht der Lehre des Meisters von der Distanz entspricht.

Aber ich fühle es so: »Ich weiß, geliebte Eltern, daß Ihr noch kostbaren Schmuck und ähnliches besitzt, wovon Ihr Euch vielleicht nur aus Sorge für meine Zukunft nicht trennen könnt. Diese Sorge fällt jetzt fort. Verkauft, wenn es so ist, diese Gegenstände, die mir heute wie später nur zur Last wären, und wenn meine Bitte Euch etwas bedeutet, spart nicht, um mir einmal etwas zu hinterlassen. Ich habe gute Pläne und hoffe, daß ich mich nicht nur selbst erhalten, sondern auch etwas für meine weitere Fortbildung zurücklegen kann. Ich hoffe, daß ich Euch bald wiedersehe. Sorgt Euch nicht! Ich will den Versuch machen, allein zu leben. Ob er nun gelingt oder nicht, auf jeden Fall seht Ihr mich bald wieder. Laßt mir Zeit und sorgt Euch nicht! Meine Bitte vergeßt nicht!

Ich küsse meiner teuren Mutter die Hand, ich grüße in tiefer Verehrung meinen geliebten Vater!

Euer treuer Sohn

Boëtius.«

Ich schiebe die Blätter unter die Türschwelle, wo sie die heimkehrenden Eltern sofort finden müssen. Dann kehre ich durch die breiten Straßen in mein Hospiz zurück. Die meisten Läden sind schon geschlossen, einige Läden in der Nähe des Bahnhofes aber noch offen. Ich kaufe vor allem Knöpfe, die ich an meiner Jacke an Stelle der silbernen annähen will, dann Toilettengegenstände, einen billigen Hut und einen praktischen Mantel. In dem Wartesaale des Bahnhofes esse ich eine Kleinigkeit, die aber dennoch teurer kommt, als wenn ich mir Brot und Käse oder Speck gekauft hätte. Alle Ausgaben trage ich ins Notizbuch ein.

Inzwischen ist es dämmerig geworden. Ich bin in dem Hospiz angelangt. Nun ist es von Leben erfüllt in der sehr stillen Gasse, in welche der Straßenlärm von den Boulevards nur undeutlich herüberdröhnt. Mein Zimmerchen ist sauber aufgeräumt, aber nicht sehr wohnlich. Eine fahl beleuchtete Feuermauer vor dem weit geöffneten Fenster. Ein Stück violetten Himmels ist zu sehen, noch etwas umdunstet. Aber während ich im Bette liege und auf den Schlaf warte, löst sich dieser Dunst in der beginnenden Nachtkühle, und die Sterne treten hervor, umgeben von leichten schwebenden Wolken von unbestimmbarer Farbe und unverkennbarem Umriß. Diesen Anblick ertrage ich heute ohne Bedrückung, ohne panisches Entsetzen, ohne Furcht. Von den milchig beleuchteten, die Nähe des noch unsichtbaren Mondes verkündenden Nachtwolken geht mein Gedanke auf Cyrus über, der in der letzten Nacht am See von Onderkuhle verschwunden ist. Hat er sich, während ich im ersten Schlummer lag, frei gemacht und hat die andern Pferde wieder aufgesucht? Oder weidet er jetzt, sich einer ungewohnten Freiheit freuend, auf den weiten prachtvollen Wiesen längs des Bahndammes zwischen Onderkuhle und V.? In einem der auf den Innenhof hinausgehenden Säle des christlichen Hospizes beginnen Männer und Frauen einen langgezogenen eintönigen Choral, der von Predigtworten unterbrochen wird. Ich versuche vergebens, den Worten zu folgen. Darüber schlafe ich ein, traumlos, tief, gesättigt.