50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Kapitel Ein­und­dreißig

So vergehen die ersten Tage. Da der Zustand meines Vaters sich nicht verschlechtert, bin ich von großem Glücksgefühl erfüllt und wünsche nur, es möge immer so bleiben, so bescheiden bin ich geworden.

Meine Mutter hat gegen mein Ausgehen an jedem Abend nichts einzuwenden. Glaubt sie wirklich, ich verbringe die Nächte, statt am Bette meines Vaters zu wachen, in leichtsinniger Gesellschaft? Fast sieht es so aus. Sie stellt an mich immer wieder mit denselben Worten die gleiche Frage: Ob ich mich gut amüsiert hätte? Und als ich ihr einen Beitrag zu dem Wirtschaftsgelde übergebe, will sie wissen, ob ich das Geld im Bac gewonnen hätte. Ich kläre sie nicht auf. Meine wirkliche Existenz ist ein bloß meinem Vater und mir gemeinsames Geheimnis, das auch er nie mit einem Worte berührt. Meiner Mutter beginnt die viele Arbeit in dem immer noch zu umfangreichen Haushalt Mühe zu machen. Täglich treten Dienerkandidaten an, die aber, jeder aus einem andern Grunde, nicht ihren Beifall finden, es sind auch Dienstpersonen aus dem Hause Onderkuhle dabei, von denen ich manches über das Schicksal des Meisters, des Obersten und des Rendanten erfahre. Aber meine Fürsprache für einen von ihnen, einen jungen, sehr ehrlichen, wenn auch nicht übermäßig geschickten Mann (Fredy) fruchtet nichts, meine Mutter sucht weiter, nicht bedenkend, daß das lange Warten meinem Vater nichts nützt, daß er nicht auf zahllose Monate und Jahre zählen darf. Inzwischen muß er mit meiner Pflege vorliebnehmen. Das Essen läßt meine Mutter aus einem nahen Restaurant durch die Portierfrau holen. Sie ist geradezu kindisch vor Freude darüber, daß sie sich aus der sehr umfangreichen Speisekarte das Leckerste aussuchen kann. Der besorgniserregende Zustand meines Vaters stört sie bei ihrer Freude ebensowenig wie mein Bedürfnis nach Ruhe in den Vormittagsstunden. Ich komme meist gegen sechs Uhr heim, warte das erste Erwachen meines Vaters ab, begrüße ihn, fühle seinen Puls, höre, wie er geschlafen hat, bette ihn um, dann begebe ich mich zur Ruhe und liege bald in sehr festem Schlaf. Meine Arbeit in der Turbinenfabrik übersteigt zwar auch jetzt, wo ich selbständiger hantieren darf, nicht die Kräfte eines einzelnen. Aber es ist doch kein Vergleich mit der Arbeit in Onderkuhle. Wohl mußte ich manchmal dort meine Kräfte fast bis zum Zerreißen anspannen, aber das geschah nur an vereinzelten Tagen. Der Antrieb war Ehrgeiz und Wunsch nach sportlicher Höchstleistung.

Aber etwas anderes, in ganz anderm Grade Zermürbendes ist es, durch Wochen ohne eigentliche Unterbrechung eine gleiche, wenn auch nur mäßig schwere Arbeit durch mindestens neun Stunden zu vollbringen. Man kann zwar solche Arbeit sicherlich sein ganzes Leben lang ohne besonderen Kräfteaufwand leisten, aber man muß seine Ruhe haben, ohne Ruhe ist es Ruin. Weckt man mich also um die Mittagszeit, ist meine Arbeitsfähigkeit in Frage gestellt. Was aber dann? Ich bin jetzt körperlich und seelisch so an diese mechanische Arbeit gebunden, daß ich es meiner Mutter nicht verzeihen kann, wenn sie mich Tag für Tag zu ungeeigneter Zeit weckt. Ich gebe es zu, sie meint es gut. Einmal soll ich mir einen Diener ansehen, der sich meldet, ein andermal eine besonders schöne Stelle in einem ihrer Romane bewundern, ein andermal mir etwas frische Luft gönnen, einen kleinen Ausflug machen, meist ist es nur, weil sie mit der Auswahl aus der Speisenkarte ohne mich nicht fertig werden kann. Sie hat ihr reizendstes Lächeln um die festen, runzellosen Lippen, sie fächelt mir mit ausgebreiteter Speisenkarte die Schweißtropfen aus dem Gesicht, will mir die »bösen Falten« fortwischen. Dabei klirrt die Perlenkette leise um ihren schönen glatten Hals. Ich unterdrücke meinen Zorn, ich werfe ihr bloß einen Blick zu, der ihr alles sagen könnte. Aber sie nimmt mich weiter nicht ernst, sagt: »Großer Brummbär!« Fragt nicht nach der Ursache meiner Müdigkeit, die ich ihr in diesem Augenblick vielleicht doch verriete. Dann aber besinne ich mich. Das Gefühl, mit achtzehn Jahren sich sein Brot zu verdienen, und sei es auch nur durch Handarbeit, ist so belebend, so ermutigend, daß ich viel ertragen kann. Es gibt gewiß Stunden, wo ich auch die Bitternisse dieser Arbeit empfinde, denn unter meinesgleichen darf ich mich in der Fabrik nicht fühlen. Ich weiß wohl, ein standesgemäßes Leben, ein sorgenloses, hoffnungsfreudiges Leben unter Menschen, die mir nach Geburt und Erziehung nahestehen, ist etwas anderes. Aber das Schicksal könnte noch bitterer sein. Vor allem bleibe ich an der Seite meines alten Vaters, ja ich sehe mit nicht auszuschöpfender Freude an ihm eine Art Erholung, ein neues Aufleben, ein Nachlassen der Schmerzen, ein Erwachen aus der Lethargie, in der er bis zu meinem Kommen gelegen. Ich halte mich an die »Monate« des Professors, von denen bis jetzt nur einer verstrichen ist. Ich teile meine Zeit zwischen der notwendigsten Ruhe und seiner Pflege. Er hat begonnen, sich zusammenzunehmen, sich mit Energie gegen seine Krankheit zu wehren, er, der nie seinen Willen entwickelt hat, setzt sich jetzt gegen die Krankheit durch, und er überwindet sie in einer Art, die bewundernswert ist. Es gibt vielleicht Menschen, todesmutige Forscher, Leute wie Amundsen, Helden oder Priester, die ihr Leben opfern für ihre große Sache. Er aber, der dem Tode schon seit langem anheimgegeben war, rafft sich noch einmal mit seiner ganzen Männlichkeit auf, nur um mir länger das Glück seiner Nähe zu gönnen. Eines Morgens treffe ich an der unserm Hause nächsten Straßenecke einen alten, gebeugten, in schlotternde graue Gewänder gehüllten Greis, der auf mich zuwankt, auf seinen hellen Stock gestützt. Diesen Stock, den ich schon an meinem Vater seit meiner Jugend kannte, erkenne ich früher als ihn. Mein Vater hat sich unter Aufgebot aller Kräfte morgens, als meine Mutter noch schlief, angekleidet, ist mir entgegengegangen, hat lange, da sich meine Heimkehr verzögert hat, halb ohnmächtig unter starken Schmerzen an der Ecke auf mich gewartet. Zu meinem tiefen Schmerz muß ich sehen, daß diese Anstrengung seine Kräfte überstieg, das Glück, noch einmal neben ihm durch die Straßen zu gehen, ist heute ein sehr bitteres, fast würgendes. Bei der ersten Stufe, die vom Hochparterre unseres Hauses nach dem ersten Stockwerk führt, verlassen ihn die Kräfte ganz, sein Kopf gleitet auf die Brust, und ich muß ihn stützen, muß ihn, die leichte Gestalt mit den wie Vogelknochen gewichtlosen Knochen, auf meine Arme nehmen und ihn nach oben tragen. Von diesem Tage an beginnt sein neuer, diesmal nicht durch Energie zu unterdrückender Verfall. Der Hausarzt findet alles natürlich, den Aufschwung ebenso wie den Niedergang. Sein Lächeln bringt mich mehr zur Verzweiflung als das Todesurteil damals durch den Professor. Meine Mutter hat wieder ihre unmotivierten Schmerzausbrüche, die sie dann zwischen den Seiten ihrer Romane oder zwischen den flitterbestickten Röcken ihrer Puppen erstickt, der Abbé betritt wieder fast täglich unser Haus und gibt eines Vormittags auf Bitten meiner Mutter meinem Vater die Letzte Ölung.

Meiner Mutter bin ich fremd, und sie ist mir fremd. Ich liebe sie nicht, ich kann sie nicht lieben und werde sie nicht lieben. Ich tue für sie, was ich kann, ich zwinge mich manchmal und bringe ihr kleine Geschenke mit, für die sie sehr empfänglich ist. Aber mehr kann ich nicht tun. Mehr ist unmöglich. Aber verlange ich nicht auch das Unmögliche vom Schicksal? Verlange ich, der an Wunder nicht glaubt, nicht vom Schicksal das »kleine« Wunder, einem alten Manne, der niemand je geschadet hat, ein paar Jahre Gesundheit wiederzugeben? Und wer verdient dies mehr als er? Wenn ich ihn jetzt anblicke und mir denke, daß er bald nicht mehr ist, dann weiß ich nicht, wie ich das ertragen soll. Wenn einer sterben soll, warum nicht lieber ich? Ich kann ihn nicht mit demselben Maße messen wie andere Menschen. Die ganze Menschheit besteht für mich aus zwei Teilen, er ist der eine, alles andere ist Rest. Er ist der liebevollste Gatte, der treueste, wenn auch schwächste Vater. Auch jetzt kein Wort für oder gegen meinen Plan und nichts mehr von standesgemäßen, nichts mehr von gottgewollten Entbehrungen.

Er ist ein Freund der Armen, selbst arm. Er hat, mit seinem Adel wie mit einer schweren Rüstung beladen, als fast willenloser Sproß eines einst machtvollen Hauses, sein Pfund nicht auf den öffentlichen Markt tragen wollen, um damit zu wuchern. Er hat mit seinen mehr als sechzig Jahren nichts erworben und nichts verloren. Was nach seinem Ende zurückbleibt, wird dank der kleinen Lebensrente aus Irland gerade ausreichen, meiner Mutter die Fortdauer ihrer jetzigen Existenz zu sichern. Ich erbe nichts davon. Ich bin mein eigener Herr und daher auch mein eigener Erbe, das weiß er ohne Worte. Er trägt mir auf, seine Ordensauszeichnungen »nachher« zurückzusenden. Sie gehören nicht ihm, werden stets nur verliehen, nie geschenkt. Eine, die wichtigste, kommt an die Kaiserliche Regierung in Wien zurück, andere an das Königliche Haus hier. Von den verschiedenen reichdotierten Ehrenstellen des Hofes, von den vergoldeten Kongonegergeschäften des merkantilen Königs hat er sich stets zurückgehalten. Dafür halten sich die meisten seiner Standesgenossen von uns zurück, nur selten betritt einer von ihnen unser Haus. Der Herzog von Ondermark hat uns seinen Sekretär geschickt, um Nachrichten über meinen Vater (und mich?) einzuholen. Er hat mich nicht angetroffen. Das war mir auch erwünschter. Ich habe während dieses kurzen Besuches geschlafen nach einer besonders schweren Nachtarbeit. Mein Vater hat mich nicht wecken lassen und hat gut so getan.

Das einzige, was er zu vererben hat, jetzt, da er sein Ende nahe fühlt, ist sein Siegelring, der von Geschlecht zu Geschlecht geht. Er trägt sonst keinen Schmuck, auch kein Atom Gold an sich, weder Ehering noch eine Uhr. Denn was bedeuten diesem Manne Schmuck und Zeit? Den Ring nimmt er nun, am 28. August 1913, um zwei Uhr, zum ersten und zum letzten Male seit der Sterbestunde meines Großvaters vom linken Zeigefinger und gibt ihn mir. Ich will ihn zurückweisen, will ihn dann, als dieses Zurückweisen unmöglich ist, in meiner Tasche verstecken, aber er sagt in einem ruhigen und gesammelten Tone, als setze er ein schon längst begonnenes Gespräch fort: »Trage du ihn. Du bist jetzt an der Reihe.« Dann schweigt er. Der Nachmittag vergeht wie immer. Der Geistliche kommt, ich gehe aus dem Zimmer. Meine Mutter hat einen Weinkrampf, sie erstickt ihn, indem sie ihr Gesicht an das hellblaue Seidenfutteral ihres Elfenbeinchristus mit aller Gewalt preßt, so daß dann auf ihren vollen Wangen die Falten der Seide abgedruckt erscheinen. Sie glättet dann lange die gerötete Haut vor dem Spiegel. Ich trete schweigend bei meinem Vater ein. Von der nahen Kirche her hört man die Glocken, später aus einer etwas entfernten Fabrik (nicht der unsern) eine schrille Sirene. Meine Mutter, die ich aufsuche, schläft erschöpft, von allen ihren Puppen umgeben. Ich kehre zu meinem Vater zurück. »Weine nicht!« sagt er nach einer Stunde zu mir. »Wie willst du denn deine Mutter trösten? Ich vertraue dir. Unser Herr und Heiland halte weiter seine Hand über dich!« Seine Blicke und seine linke Hand, die er von meinem Gesichte gelöst hat, schweben in einer sanften Kreisbewegung durch das große ärmliche Zimmer. Ich errate nicht, und ich frage nicht, ob er mein ganzes Dasein kennt und billigt, ob es ihm weh tut, daß er seinen Sohn und seine Gattin in offenkundiger Dürftigkeit zurückläßt. Er ist sehr müde, die Bewegung seiner Hand endet mit einem flüchtig und doch ernst geschlagenen Kreuz über mir, über meinen hellen roten Haaren, die seine leichte Hand nur streift. Er fährt mit seinen starken weißen Zähnen, die lebhaft aus dem lehmfarbenen Gesichte hervorleuchten und die weit auseinanderstehen, über seine herabhängende verwelkte Unterlippe – da übermannt ihn die Müdigkeit. »Ich bin etwas matt jetzt«, sagt er besonders laut, als zwinge er sich zu dieser letzten Kraftanstrengung, um dann das Recht zur Ruhe zu haben. »Gott und ich sind in Frieden. Bleibe du immer mein Sohn. Gott segne dich! Nimm die Kissen mir vom Kopfe weg, lege sie an die Füße. Du tatest es an dem Morgen, als du aus Onderkuhle kamst. Es war gut. Gut war es … « sagt er und setzt damit das Siegel unter sein Leben, seine Krankheit, seine Liebe, seinen Tod. Er nimmt, ohne mehr zu sprechen, meine rechte Hand mit ihren Brandnarben von Onderkuhle und den Schwielen von der Turbinenfabrik in seine Linke, hält sie mit sanftem Drucke fest, er legt sich dann mit dem ganzen leichten Körper über meine Hände. Er schläft unmerklich ein.

 

Es wird Abend, es wird Nacht. Meine Mutter ruft leise, ich antworte nicht. Sie wird still. Ich kann mich nicht erheben, mich nicht regen.

Ich kann meine Hand von der des Sterbenden nicht lösen. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, schauerlich und herzergreifend, wenn ich spüre, wie meine rechte Hand leblos wird, dann wie aufsteigend mein rechter Arm und meine Schulter das Empfinden verlieren und endlich mein ganzer Körper auf der rechten Seite eingeschlafen ist, frosterstarrt trotz dem schwülen Sommerhauche, des Lebens entwöhnt und ein Stück Tod geworden mit dem toten Vater.

Am nächsten Tage kann ich mich frei machen. Es ist ein heißer Augusttag. Mein Körper lebt und ist stark und gesund wie zuvor. Nur bin ich allein und werde es bleiben. Angst vor dem Tode werde ich nie mehr haben. Es wird mir kein Vater mehr sterben. Seinen eigenen Tod erlebt kein Mensch.

Am Abend dieses Tages gehe ich wieder in die Fabrik, da ich nicht neben meiner Mutter wachen will. Sie ist gefaßter als ich. Aber auch in ihrer größten Erregung küßt sie mich nicht. Sie wird noch in diesem Herbst zu ihrer Kusine, der unverheirateten alten Gräfin P., übersiedeln. Ich werde allein zurückbleiben. Aber der Abschied wird mir nicht schwerfallen, denn ich werde noch inniger mit meinem Vater leben, werde noch mehr in meiner Arbeit aufgehen.

4. Brasilien: Ein Land der Zukunft (Stefan Zweig)

Inhalt

Vorwort

Einleitung

23. Geschichte

24. Wirtschaft

25. Blick auf die brasilianische Kultur

26. Rio de Janeiro

27. Einfahrt

28. Das alte Rio

29. Spazieren durch die Stadt

30. Die kleinen Straßen

31. Kunst der Kontraste

32. Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind

33. Gärten, Berge und Inseln

34. Sommer in Rio

35. Blick auf São Paulo

36. Besuch beim Kaffee

37. Besuch hei den versunkenen Goldstädten

38. Flug über den Norden

39. Bahia: Kirchen und Feste

40. Besuch bei Zucker, Tabak und Kakao

41. Recife

42. Flug zum Amazonas

43. Daten zur Geschichte Brasiliens

Vorwort

Un pays nouveau, un port magnifique,

l'éloignement de la mesquine Europe, un nouvel

horizon politique, une terre d'avenir et un passé

presque inconnu qui invite l'homme d'étude à des recherches,

une nature splendide et le contact avec

des idées exotiques nouvelles.

Der österreichische Diplomat

Graf Prokesch-Osten 1868 an Gobineau,

als dieser zögerte, den Gesandtschaftsposten

in Brasilien anzunehmen.

Einleitung

In früheren Zeiten pflegten die Schriftsteller, ehe sie ein Buch an die Öffentlichkeit gaben, eine kleine Vorrede vorauszuschicken, in der sie redlich mitteilten, aus welchen Gründen, von welchen Gesichtspunkten aus und in welcher Absicht sie ihr Buch geschrieben. Es war eine gute Gewohnheit. Denn sie schuf durch den Freimut und die direkte Ansprache von vornherein ein richtiges Einverständnis zwischen dem Schreibenden und denen, für die es geschrieben war. Und so möchte auch ich in möglichster Redlichkeit sagen, was mich bewog, ein von meinem sonstigen Arbeitskreis scheinbar weitabgelegenes Thema mir vorzunehmen.

Als ich im Jahre 1936 zum Penklubkongreß in Buenos Aires nach Argentinien fahren sollte, fügte sich dem die Einladung bei, gleichzeitig Brasilien zu besuchen. Meine Erwartungen waren nicht sonderlich groß. Ich hatte die durchschnittliche hochmütige Vorstellung des Europäers oder Nordamerikaners von Brasilien und bemühe mich jetzt, sie zurückzukonstruieren: irgend eine der südamerikanischen Republiken, die man nicht genau voneinander unterscheidet, mit heißem, ungesundem Klima, mit unruhigen politischen Verhältnissen und desolaten Finanzen, unordentlich verwaltet und nur in den Küstenstädten halbwegs zivilisiert, aber landschaftlich schön und mit vielen ungenützten Möglichkeiten – ein Land also für verzweifelte Auswanderer oder Siedler und keinesfalls eines, von dem man geistige Anregung erwarten konnte. Zehn Tage daran zu wagen, schien mir genug für jemanden, der seinem Beruf nach weder fachmäßiger Geograph, Schmetterlingssammler, Jäger, Sportsmann oder Kaufmann war. Acht Tage, zehn Tage und dann rasch wieder zurück, so dachte ich, und ich schäme mich nicht, diese meine törichte Einstellung zu verzeichnen. Ich halte es sogar für wichtig, denn sie ist ungefähr dieselbe, die noch heute in unseren europäischen und nordamerikanischen Kreisen im Umlauf ist. Brasilien ist heute im kulturellen Sinne noch ebenso eine terra incognita, wie sie es den ersten Seefahrern im geographischen gewesen. Immer wieder bin ich von neuem überrascht, welche verworrenen und unzulänglichen Vorstellungen selbst gebildete und politisch interessierte Menschen von diesem Lande haben, das doch unzweifelhaft bestimmt ist, einer der bedeutsamsten Faktoren in der künftigen Entwicklung unserer Welt zu werden. Als zum Beispiel auf dem Schiff ein Bostoner Kaufmann ziemlich abfällig von den kleinen südamerikanischen Staaten sprach und ich ihn zu erinnern versuchte, daß Brasilien für sich allein größeres Territorium umfaßt, als die Vereinigten Staaten, glaubte er, daß ich spaße, und ließ sich erst durch einen Blick auf die Landkarte überzeugen. Oder ich fand in dem Roman eines sehr bekannten englischen Autors das amüsante Detail, daß er seinen Helden nach Rio de Janeiro gehen läßt, um dort spanisch zu erlernen. Aber er ist nur einer von Unzähligen, die nicht wissen, daß man in Brasilien portugiesisch spricht. Jedoch es steht mir, wie gesagt, nicht zu, anderen hochmütige Vorhaltungen wegen ihrer geringen Kenntnis zu machen; ich habe selbst, als ich das erstemal von Europa abfuhr, nichts oder wenigstens nichts Zuverlässiges von Brasilien gewußt.

Dann kam die Landung in Rio, einer der mächtigsten Eindrücke, den ich zeitlebens empfangen. Ich war fasziniert und gleichzeitig erschüttert. Denn hier trat mir nicht nur eine der herrlichsten Landschaften der Erde entgegen, diese einzigartige Kombination von Meer und Gebirge, Stadt und tropischer Natur, sondern auch eine ganz neue Art der Zivilisation. Da war ganz gegen meine Erwartung mit Ordnung und Sauberkeit in Architektur und städtischer Anlage ein durchaus persönliches Bild, da war Kühnheit und Großartigkeit in allen neuen Dingen und gleichzeitig eine alte, durch die Distanz noch besonders glücklich bewahrte geistige Kultur. Da war Farbe und Bewegung, das erregte Auge wurde nicht müde zu schauen, und wohin es blickte, war es beglückt. Ein Rausch von Schönheit und Glück überkam mich, der die Sinne erregte, die Nerven spannte, das Herz erweiterte, den Geist beschäftigte, und soviel ich sah, es war nie genug. In den letzten Tagen fuhr ich ins Innere oder vielmehr – ich glaubte ins Innere zu fahren. Ich fuhr zwölf Stunden, vierzehn Stunden weit nach São Paulo, nach Campinas, in der Meinung, dem Herzen dieses Landes damit näherzukommen. Aber als ich zurückgekehrt dann auf die Karte blickte, entdeckte ich, daß ich mit diesen zwölf oder vierzehn Stunden Eisenbahnfahrt nur knapp unter die Haut gekommen; zum erstenmal begann ich die unfaßbare Größe dieses Landes zu ahnen, das man eigentlich kaum mehr ein Land nennen sollte, sondern eher einen Erdteil, eine Welt mit Raum für dreihundert, vierhundert, fünfhundert Millionen und einem unermeßlichen, noch kaum zum tausendsten Teile ausgenützten Reichtum unter dieser üppigen und unberührten Erde. Ein Land in rapider und trotz aller werkenden, bauenden, schaffenden, organisierenden Tätigkeit erst beginnender Entwicklung. Ein Land, dessen Wichtigkeit für die kommenden Generationen auch mit den kühnsten Kombinationen nicht auszudenken ist. Und mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit schmolz der europäische Hochmut dahin, den ich höchst überflüssigerweise als Gepäck auf diese Reise mitgenommen. Ich wußte, ich hatte einen Blick in die Zukunft unserer Welt getan.

Als dann das Schiff abfuhr – es war eine Sternennacht, und doch glänzte diese einzige Stadt mit ihren Perlenschnüren elektrischen Lichts schöner und geheimnisvoller als die Funken des Firmaments – war ich gewiß, daß ich diese Stadt, dieses Land nicht zum letztenmal gesehen, und völlig im klaren auch, daß ich eigentlich nichts gesehen oder keinesfalls genug. Ich nahm mir vor, gleich im nächsten Jahr wiederzukommen, besser vorbereitet und um länger zu bleiben, um noch einmal und noch stärker dieses Gefühl zu empfinden, im Werdenden, Kommenden, Zukünftigen zu leben und die Sicherheit des Friedens, die gute gastliche Atmosphäre nun noch bewußter zu genießen. Aber ich konnte mein Versprechen nicht halten. Im nächsten Jahr war der Krieg in Spanien, und man sagte sich: warte ab bis zu einer ruhigeren Zeit. 1938 fiel Österreich, und wieder harrte man auf einen ruhigeren Augenblick. Dann, 1939, war es die Tschechoslowakei und dann der Krieg in Polen und dann der Krieg aller gegen alle in unserem selbstmörderischen Europa. Immer leidenschaftlicher wurde mein Wunsch, mich aus einer Welt, die sich zerstört, für einige Zeit in eine zu retten, die friedlich und schöpferisch aufbaut; endlich kam ich wieder in dieses Land, besser und gründlicher vorbereitet als zuvor, um zu versuchen, davon ein kleines Bild zu geben.

 

Ich weiß, daß dieses Bild nicht vollständig ist und nicht vollständig sein kann. Es ist unmöglich, Brasilien, eine so weiträumige Welt, vollkommen zu kennen. Ich habe ungefähr ein halbes Jahr in diesem Lande verbracht und weiß gerade jetzt erst, wieviel trotz allen Lerneifers und Reisens mir zu einem wirklich vollständigen Überblick dieses gewaltigen Reiches noch fehlt, und daß ein ganzes Leben kaum ausreichte, um sagen zu dürfen: ich kenne Brasilien. Ich habe vor allem eine Reihe Provinzen überhaupt nicht gesehen, deren jede so groß oder größer ist als Frankreich oder Deutschland, ich habe die selbst von wissenschaftlichen Expeditionen nicht ganz durchdrungenen Gebiete von Mato Grosso, Goiaz und die Wildnisse des Amazonenstroms nicht durchstreift. Ich bin also nicht vertraut mit dem primitiven Leben dieser in riesigen Räumen verstreuten Siedlungen und kann nicht die Existenz all dieser von der Kultur kaum berührten Berufsklassen anschaulich machen: nicht das Leben der barqueiros, die auf den Strömen schiffen, nicht das der caboclos im Amazonengebiet, nicht das der Diamantensucher, der garimpeiros, nicht das der Viehzüchter, der vaqueiros und gaúchos, nicht das der Gummiplantagenarbeiter im Urwald, der seringueiros oder das der sertanejos von Minas Gerais. Ich habe die deutschen Kolonien von Santa Catarina nicht besucht, wo in den alten Häusern noch das Bild Kaiser Wilhelms und in den neueren das Bild Adolf Hitlers hängen soll, nicht die japanischen Kolonien im Innern von São Paulo und kann niemandem verläßlich sagen, ob wirklich noch manche der indianischen Stämme in den undurchdringlichen Wäldern kannibalisch sind.

Auch von den landschaftlichen Sehenswürdigkeiten kenne ich manche der wesentlichen nur von Bildern und Büchern. Ich bin nicht zwanzig Tage lang die grüne, in ihrer Monotonie großartige Wildnis des Amazonas hinaufgefahren, nicht bis an die Grenzen Perus und Boliviens gelangt, ich habe es durch die Schwierigkeiten der Schiffahrt innerhalb der ungünstigen Jahreszeit versäumen müssen, die zwölftägige Fahrt auf dem Rio São Francisco zu unternehmen, Brasiliens mächtigem und historisch so bedeutsamem Binnenfluß. Ich habe den Itatiaia nicht bestiegen, den dreitausend Meter hohen Berg, von dem man das brasilianische Hochplateau mit seinen Gipfeln bis weit nach Minas Gerais und Rio de Janeiro überschaut. Ich habe nicht das Weltwunder des Iguassú gesehen, der in schäumendem Katarakt die gewaltigsten Wassermassen niederschmettert, und dessen Grandiosität nach den Aussagen der Besucher den Niagara weit übertrifft. Ich bin nicht mit Hacke und Messer in das dumpfe und schillernde Dickicht des Urwalds eingedrungen. Trotz allen Reisens, Schauens, Lernens, Lesens und Suchens bin ich nicht weit über den Rand der Zivilisation in Brasilien hinausgekommen und muß mich trösten mit dem Gedanken, daß ich kaum zwei oder drei Brasilianer traf, die behaupten konnten, die innere und fast undurchdringliche Tiefe ihres eigenen Landes zu kennen, und daß auch Eisenbahn, Dampfboot und Auto mich nicht viel weiter geführt hätten, auch sie machtlos gegen die phantastische Ausdehnung dieses Reiches. Auch endgültige Schlüsse, Voraussagen und Prophezeiungen über die wirtschaftliche, finanzielle und politische Zukunft Brasiliens zu geben, muß ich mir redlicherweise versagen. Wirtschaftlich, soziologisch, kulturell sind Brasiliens Probleme so neu, so eigenartig und vor allem infolge seiner Weiträumigkeit so unübersichtlich geschichtet, daß jedes einzelne einen ganzen Stab von Spezialisten zu gründlicher Erklärung forderte. Ein vollständiger Überblick ist unmöglich in einem Lande, das sich selber noch nicht vollständig überblickt und außerdem sich in einem so stürmischen Wachstum befindet, daß jeder Bericht und jede Statistik schon überholt ist, ehe die Information zur Schrift und diese Schrift zum gedruckten Wort wird. Aus der Fülle der Aspekte sei darum vor allem ein Problem in den Mittelpunkt gestellt, das mir das aktuellste scheint und im Geistigen und Moralischen heute Brasilien einen besonderen Rang unter allen Nationen der Erde gibt.

Dieses Zentralproblem, das sich jeder Generation und somit auch der unseren aufzwingt, ist die Beantwortung der allereinfachsten und doch notwendigsten Frage: wie ist auf unserer Erde ein friedliches Zusammenleben der Menschen trotz aller disparaten Rassen, Klassen, Farben, Religionen und Überzeugungen zu erreichen? Es ist das Problem, das an jede Gemeinschaft, jeden Staat immer wieder von neuem gebieterisch herantritt. Keinem Lande hat es sich durch eine besonders komplizierte Konstellation gefährlicher gestellt als Brasilien, und keines hat es – und dies dankbar zu bezeugen, schreibe ich dieses Buch – in so glücklicher und vorbildlicher Weise gelöst wie Brasilien. In einer Weise, die nach meiner persönlichen Meinung nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern auch die Bewunderung der Welt für sich fordert.

Denn seiner ethnologischen Struktur gemäß müßte, sofern es den europäischen Nationalitäten- und Rassenwahn übernommen hätte, Brasilien das zerspaltenste, das unfriedlichste und unruhigste Land der Welt sein. Noch sind mit freiem Blick schon auf Straße und Markt die verschiedenen Rassen deutlich erkennbar, aus denen die Bevölkerung geformt ist. Da sind die Abkömmlinge der Portugiesen, die das Land erobert und kolonisiert haben, da ist die indianische Urbevölkerung, die das Hinterland seit unvordenklichen Zeiten bewohnt, da sind die Millionen Neger, die man in der Sklavenzeit aus Afrika herüberholte, und seitdem die Millionen Italiener, Deutsche und sogar Japaner, die als Kolonisten herüberkamen. Nach europäischer Einstellung wäre zu erwarten, daß jede dieser Gruppen sich feindlich gegen die andere stellte, die früher Gekommenen gegen die später Gekommenen, Weiße gegen Schwarze, Amerikaner gegen Europäer, Braune gegen Gelbe, daß Mehrheiten und Minderheiten in ständigem Kampf um ihre Rechte und Vorrechte einander befeindeten. Zum größten Erstaunen wird man nun gewahr, daß alle diese schon durch die Farbe sichtbar voneinander abgezeichneten Rassen in vollster Eintracht miteinander leben und trotz ihrer individuellen Herkunft einzig in der Ambition wetteifern, die einstigen Sonderheiten abzutun, um möglichst rasch und möglichst vollkommen Brasilianer, eine neue und einheitliche Nation zu werden. Brasilien hat – und die Bedeutung dieses großartigen Experiments scheint mir vorbildlich – das Rassenproblem, das unsere europäische Welt verstört, auf die einfachste Weise ad absurdum geführt: indem es seine angebliche Gültigkeit einfach ignorierte. Während in unserer alten Welt mehr als je der Irrwitz vorherrscht, Menschen »rassisch rein« aufzüchten zu wollen wie Rennpferde oder Hunde, beruht die brasilianische Nation seit Jahrhunderten einzig auf dem Prinzip der freien und ungehemmten Durchmischung, der völligen Gleichstellung von Schwarz und Weiß und Braun und Gelb. Was in anderen Ländern nur auf Papier und Pergament theoretisch festgelegt ist, die absolute staatsbürgerliche Gleichheit im öffentlichen wie im privaten Leben, wirkt sich hier sichtbar im realen Raume aus, in der Schule, in den Ämtern, in den Kirchen, in den Berufen und beim Militär, an den Universitäten, an den Lehrkanzeln: es ist rührend, schon die Kinder, die alle Schattierungen der menschlichen Hautfarbe abwandeln – Schokolade, Milch und Kaffee – Arm in Arm von der Schule kommen zu sehen, und dieses körperliche wie seelische Verbundensein reicht empor bis in die höchsten Stufen, in die Akademien und Staatsämter. Es gibt keine Farbgrenzen, keine Abgrenzungen, keine hochmütigen Schichtungen, und nichts ist für die Selbstverständlichkeit dieses Nebeneinanders charakteristischer, als das Fehlen jedes herabsetzenden Worts in der Sprache. Während bei uns von Nation zu Nation die eine für die andere ein Haßwort oder ein Hohnwort erfand, den Katzelmacher oder den Boche, fehlt hier im Vokabular völlig das entsprechende deprezierende Wort für den nigger oder den Kreolen, denn wer könnte, wer wollte sich hier absoluter Rassenreinheit berühmen? Mag Gobineaus verärgertes Wort, er habe nur einen einzigen Reinrassigen in ganz Brasilien gefunden, den Kaiser Dom Pedro II., Übertreibung sein, so ist doch außer den letzten Neueingewanderten gerade der echte, der rechte Brasilianer gewiß, einige Tropfen heimatlichen Bluts in dem seinen zu haben. Aber Zeichen und Wunder: er schämt sich dessen nicht. Das angeblich destruktive Prinzip der Mischung, dieser Horror, diese »Sünde gegen das Blut« unserer besessenen Rassentheoretiker ist hier bewußt verwertetes Bindemittel einer nationalen Kultur. Auf diesem Fundament hat sich seit vierhundert Jahren sicher und stetig eine Nation erhoben und – Mirakel! – die ständige Durchströmung und gegenseitige Anpassung unter gleichem Klima und gleichen Lebensbedingungen hat einen durchaus individuellen Typus herausgearbeitet, dem alle die von den Rassenreinheitsfanatikern großmäulig angekündigten »zersetzenden« Eigenschaften völlig fehlen. Selten kann man irgendwo in der Welt schönere Frauen und schönere Kinder sehen als bei den Mischlingen, zart im Wuchs, sanft im Gehaben; mit Freude sieht man in dem halbdunklen Gesicht der Studenten Intelligenz gepaart mit einer stillen Bescheidenheit und Höflichkeit. Eine gewisse Weichheit, eine linde Melancholie formt hier einen neuartigen und sehr persönlichen Gegensatz heraus zu dem schärferen und aktiveren Typus des Nordamerikaners. Was sich in dieser Mischung »zersetzt«, sind einzig die vehementen und darum gefährlichen Gegensätze. Diese systematische Auflösung der geschlossenen und vor allem zum Kampf geschlossenen nationalen oder rassischen Gruppen hat die Schaffung eines einheitlichen Nationalbewußtseins unendlich erleichtert, und es ist erstaunlich, wie vollkommen schon die zweite Generation sich nurmehr als Brasilianer empfindet. Immer sind es die Tatsachen in ihrer unableugbaren sichtbaren Kraft, welche die papiernen Theorien der Dogmatiker widerlegen. Darum bedeutet das Experiment Brasilien mit seiner völligen und bewußten Negierung aller Farb- und Rassenunterschiede durch seinen sichtbaren Erfolg den vielleicht wichtigsten Beitrag zur Erledigung eines Wahns, der mehr Unfrieden und Unheil über unsere Welt gebracht hat als jeder andere.