50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Dieser Prozeß der Gleichgewichtsverteilung, der noch heute in vollem Gang ist, – denn der Brasilianer ist dank seiner dunklen Erbschaft besonders beweglich von Natur –, und der dauernd gefördert wurde durch eine ständige Zumischung von erst der afrikanischen, dann der europäischen Immigration, hat verhindert, daß der organische Ausbreitungsprozeß jemals völlig ins Stocken geraten ist. Er hat eine allzu stabile soziale Schichtung verhindert, und statt des partikulären Elements das nationale stärker herausgearbeitet. Man hört noch hie und da sagen, daß dieser von Bahia stammt und jener aus Porto Alegre, aber bei näherer Nachfrage erfährt man, daß Vater oder Mutter fast immer von anderer Herkunft sind; dank dieser ständigen Transfusion und Transplantation hat sich dieses Wunder der brasilianischen Einheitlichkeit bis auf den heutigen Tag gerettet, wo durch die gesteigerten Verbindungsmöglichkeiten die bindenden Kräfte des Radios und der Zeitung eine nationale Zusammenfassung viel selbstverständlicher machen. Während das spanisch-südamerikanische Reich, das weder räumlich noch an Menschenanzahl dem ehemaligen portugiesischen Kronland überlegen ist, schon im Grundplan durch die Aufteilung in einzelne Gouverneursbezirke die Sonderheiten Argentiniens, Chiles, Perus, Venezuelas in dialektischen Formen, in Sitte und Habitus schärfer herausarbeitet, bereitete die zentralistisch geführte Regierungsform Brasiliens schon von Anfang an eine völlig einheitlich ökonomische und nationale Form vor, die, weil früh und organisch in der Seele des Volkes verankert, auch im wirtschaftlichen Sinne nicht mehr zu zerstören war.

Versucht man für die Epoche zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Bilanz von Soll und Haben aufzustellen zwischen der Kolonie und dem Mutterland, zwischen Brasilien und Portugal, so findet man ein vollkommen verändertes Bild. Von 1500 bis 1600 ist Brasilien der nehmende, Portugal der gebende Teil: es muß Beamte und Schiffe, Waren und Soldaten, Kaufleute und Kolonisten hinüberschicken, und seine weiße Bevölkerungszahl übertrifft um das Zehnfache die junge Kolonie. Um 1700, also zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts, dürfte die Waage auf gleich schwanken und sich eher zu Gunsten Brasiliens überneigen. Um 1800 hat sich die Proportion schon in phantastischer Weise verändert. Portugal mit seinen 91 000 Quadratkilometern erscheint winzig neben dem Land, das achteinhalb Millionen desselben Maßes umfaßt. Allein an schwarzen Sklaven beherbergt es mehr als Portugal mit all seinen Untertanen; an wirtschaftlicher Kraft ist das amerikanische Reich nicht mehr zu vergleichen mit dem verarmten, in ökonomischen Marasmus immer tiefer verfallenden europäischen Heimatland. Mit viel Gold oder wenig Gold, mit seinen Diamanten, seinem Zucker, seiner Baumwolle, seinem Tabak, seinem Viehstand, seinen Erzen und nicht zuletzt seinen von Jahr zu Jahr gewaltig wachsenden Arbeitskräften hat es sich längst von jeder Hilfeleistung emanzipiert. Das Kind erhält jetzt die Mutter und nicht mehr die Mutter das Kind. Beim Erdbeben von Lissabon schickt Brasilien nicht weniger als drei Millionen Cruzados zum Aufbau als Geschenk hinüber, und vermögend ist in Portugal nurmehr, wer Besitz hat in Brasilien oder Handel treibt mit seinen Häfen und Städten. Wie eine Welt steht Brasilien neben der pequena casa Lusitana.

Aber je kräftiger, je männlicher, je aufrechter Brasilien sich entfaltet, um so sichtlicher verrät das Mutterland die Sorge, sein allzu kräftig geratenes Kind könnte eines Tages seiner Obhut entlaufen. Immer wieder versucht es, das schon selbständig handelnde, selbständig denkende, selbständig wirkende Wesen, als ob es noch unmündig wäre und am königlichen Gängelband geführt werden müßte, in die Gehschule einzuschließen. Mit Gewalt soll seine wirtschaftliche Selbständigkeit verhindert werden. Während Nordamerika längst frei sein Schicksal bestimmt, darf Brasilien noch keine Waren erzeugen außer seinen Fertigprodukten. Es darf keine Stoffe weben, sondern soll sie auf dem Umweg über das Mutterland beziehen, es darf keine eigenen Schiffe bauen, damit einzig die portugiesischen Reeder verdienen. Für geistige Menschen, für Techniker, für Industrielle soll dort kein Raum sein und kein Tätigkeitsfeld. Kein Buch darf dort gedruckt werden, keine Zeitung veröffentlicht, und mit den Jesuiten nimmt man ihnen noch die einzigen, die dort ein wenig Bildung verbreiten. Nur keinen selbständigen ökonomischen Aufstieg, nur keine freie Verbindung mit den Weltmärkten! Brasilien soll Sklavenland bleiben, Fronland, abhängige Kolonie, und je unselbständiger, je ungeistiger, je unnationaler, desto besser. Jede Regung der Unabhängigkeit wird gewaltsam niedergeschlagen. Und die portugiesischen Truppen, die innerhalb Brasiliens stehen, haben längst nicht mehr wie einst den Sinn, die Kolonie gegen äußere Feinde zu schützen, – denn dies vermöchte das Land längst aus eigener Kraft –, sondern einzig die königliche Wirtschaftskaserne gegen das eigene Land zu bewachen.

Aber immer wiederholt sich das gleiche Phänomen in der Geschichte; was in Jahren und Jahren an Vernunft und Gleichgültigkeit versäumt wird, erzwingt dann die brutale Gewalt in einer einzigen Stunde. Es ist groteskerweise Napoleon, der Welttyrann Europas, der dieses amerikanische Land befreit. Denn indem er den König von Portugal durch den blitzartigen Vormarsch seiner Truppen zwingt, seine Residenzstadt Lissabon in überstürzter Flucht zu verlassen, zwingt er ihn auch, zum erstenmal das Land in Augenschein zu nehmen, das ihm seine Paläste gebaut und seiner Krone, seinem Lande durch Jahrzehnte und Jahrhunderte der treueste Helfer gewesen. Statt der Zolleinnehmer und der Gendarmerie erscheint nun zum erstenmal mit seinem ganzen Hof, dem Adel und der Geistlichkeit ein Angehöriger des Hauses Bragança, der König João VI., in seiner Kolonie.

Aber das neunzehnte Jahrhundert wird keine Kolonie Brasilien mehr kennen; König João bleibt keine andere Wahl, als das Kind, das ihn, den Geflüchteten, den kläglich Geschlagenen, in seine Arme nimmt und aufrichtet, feierlich für mündig zu erklären. Unter dem Titel des Vereinigten Königreichs wird Brasilien Portugal gleichgestellt, und für zwölf Jahre liegt die Hauptstadt dieses Doppelkönigreichs nicht am Tajo mehr, sondern in der Bucht von Guanabara. Mit einem Schlage sind die Schranken gefallen, die Brasilien vom Welthandel bisher abgeschlossen haben, vorbei ist die Zeit der Erlaubnisse und Verbote und strengen Dekrete. Fremde Schiffe dürfen seit 1808 hier landen, Waren ausgetauscht werden, ohne daß der Tribut abgeliefert werden müßte an die Tesouraria jenseits des Meers. Brasilien darf arbeiten und produzieren, darf sprechen und schreiben und denken, und so kann mit der wirtschaftlichen endlich auch die lange gewaltsam zurückgehaltene kulturelle Entwicklung beginnen. Zum erstenmal seit der flüchtigen Episode der holländischen Besetzung werden Gelehrte, Künstler, Techniker von hohem Rang ins Land berufen, um hier den Aufbau einer eigenen Kultur zu fördern. Völlig unbekannte Dinge wie Bibliotheken, Museen, Universitäten, Kunstakademien, technische Schulen werden eingerichtet und dem Lande volle Freiheit gegeben, seine Sonderpersönlichkeit im Kulturkreis der Welt zu zeigen und zu bewähren.

Aber wer einmal das Gefühl der Freiheit kennen- und lieben gelernt hat, der hält dann nicht mehr ein, ehe er nicht die volle, die schrankenlose Freiheit erlangt. Selbst dies gelockerte Band, das das neue Königreich mit dem alten jenseits des Ozeans verbindet, empfindet es als Hemmung und Bedrückung. Und erst, wie es sich 1822 selber zum Königreich krönt, beginnt seine wahre Unabhängigkeit.

Oder vielmehr, sie könnte beginnen. Denn nur im politischen Sinne gelingt es Brasilien, sich seine Unabhängigkeit zu erkämpfen, nicht aber im wirtschaftlichen. Im Gegenteil, bis tief in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gerät Brasilien eigentlich in schwerere ökonomische Abhängigkeit von England und den anderen Industriestaaten, als es vordem von Portugal gewesen. Brasilien hat – in seiner Entwicklung gehemmt durch die Verbote Lissabons – die industrielle Revolution verschlafen, die zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts unsere Welt durchgreifend zu verändern begann. Bisher konnte es in der Lieferung seiner Kolonialprodukte jede Konkurrenz überwinden durch die Billigkeit seiner Arbeitskräfte, durch die Sklaverei, und im wirtschaftlichen Sinn den ersten Rang unter allen amerikanischen Kolonien behaupten. Noch zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung war es im Export gegenüber Nordamerika führend gewesen und hatte in seinen Absatzziffern in manchen Jahren sogar diejenigen Englands erreicht. Aber im neuen Jahrhundert ist ein neues Element in die Weltwirtschaft eingebrochen: die Maschine. Eine einzige Dampfmaschine in Liverpool oder Manchester leistet jetzt, von einem Dutzend Arbeiter bedient, mehr als hundert und bald tausend Sklaven in der gleichen Zeit, Handindustrie kann von nun an gegen organisierte Fabrikindustrie auf die Dauer ebensowenig ankämpfen, wie nackte Eingeborene mit ihren Pfeilen gegen Maschinengewehre und Kanonen. Dieses an sich schon verhängnisvolle Zurückbleiben gegen das Tempo der Zeit wird noch vermehrtdurch ein besonderes Mißgeschick. In dem gewaltigen und fast vollständigen Katalog seiner Erze und Gesteine fehlt gerade jener Kraftstoff, der für das neunzehnte Jahrhundert als motorische Substanz entscheidend ist: die Kohle.

Brasilien hat in diesem entscheidenden Augenblick der Transport- und Kraftumstellung auf diese neue dynamische Substanz in seinem unübersehbaren Territorium nicht eine einzige Kohlengrube. Jedes Kilogramm muß viele Wochen weither verfrachtet und mit dem in seinem Wert rapid absinkenden Zucker überteuert bezahlt werden. Dadurch wird jeder Transport unrentabel, und durch die gebirgige Struktur des Landes verzögert sich der Bau von Eisenbahnen überdies noch um unersetzbare Jahrzehnte und setzt auch dann noch nur unzulänglich ein. Während sich der Umschlagrhythmus von Ware und Verkehr in den europäischen und nordamerikanischen Staaten von Jahr zu Jahr verzehnfacht, verhundertfacht, vertausendfacht, wehrt sich in Brasilien die Erde, Kohle herzugeben, stemmen sich die Berge und krümmen sich die Flüsse, als wollten sie sich weigern gegen das neue Jahrhundert. Bald zeigt sich das Resultat: von Jahrfünft zu Jahrfünft bleibt Brasilien immer mehr zurück in der modernen Entwicklung, und besonders der Norden mit seinen schlechten Verkehrsmitteln gerät in einen später kaum mehr aufzuhaltenden Verfall. Zu einer Zeit, da Schienenstränge in dreifachem und vierfachem Gürtel schon die Vereinigten Staaten von Osten nach Westen, von Süden nach Norden verbinden, sind hier auf einem gleich großen Terrain neun Zehntel des Landes Meilen und Meilen weit von jeder Schienenspur, und während den Mississippi und den Hudson und den San Lorenzo ständig die neuen Dampfboote auf- und niederfahren, erblickt man nur selten am Amazonas und São Francisco den Rauch eines Schornsteins. So kommt es, daß zu einer Zeit, da in Europa und Nordamerika die Kohlenminen und Eisenwerke, die Fabriken und Verkaufszentren, die Städte und die Häfen mit immer geringerem Zeitverlust zusammenarbeiten und sich die Potenz und Schlagkraft der Massenproduktion von Jahr zu Jahr übersteigert, Brasilien bis tief ins neunzehnte Jahrhundert bei den Methoden des achtzehnten, des siebzehnten und sechzehnten ohnmächtig stehenbleibt, immer nur dieselben Rohstoffe liefernd und dadurch im Absatz seiner Fertigwaren der Willkür des Welthandels wehrlos ausgeliefert.

 

So fällt und verfällt die Handelsbilanz; Brasilien tritt als dominierender Faktor aus der vordersten Reihe Amerikas in die zweite oder dritte zurück, und sein Wirtschaftsbild entbehrt zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts nicht einer gewissen Perversität. Denn gerade das Land, das mehr Eisen besitzt als vielleicht irgendein anderes der Erde, muß jede Maschine, jedes Werkzeug vom Ausland importieren. Obwohl es Baumwolle auf seinem Boden in unbeschränkter Fülle erzeugt, muß es den gewebten, den bedruckten Stoff aus England einführen. Obwohl seine Waldbestände unermeßlich und ungefällt sich dehnen, muß es Papier von auswärts kaufen und so jedes Objekt, das nicht mit unorganisierter, altväterlicher Handarbeit erzeugt werden kann. Wie immer in Brasilien würden großzügige Investitionen, die den Betrieb umorganisierten, hier Rettung bringen. Aber Brasilien fehlt es seit der Stockung des Goldes an Kapital, und so werden seine Eisenbahnen, seine ersten Fabriken, seine wenigen großzügigen Unternehmungen ausschließlich von englischen und französischen und belgischen Compagnien eingerichtet und das neue Kaiserreich als Kolonie anonymer Gruppen aller Weltausbeutung ausgeliefert. In einer Zeit, wo der Rhythmus der Bewegung, die lebendige Durchpulsung des Raums mit schöpferischen Energien für die volkswirtschaftliche Entwicklung eines Landes entscheidend wird, ist Brasilien, das noch mit den alten Methoden und mit den alten Umsatzlangsamkeiten arbeitet, von einem vollkommenen Marasmus bedroht. Wieder einmal ist seine Wirtschaft bei einem Tiefpunkt angelangt.

Aber es gehört zur Besonderheit seiner Entwicklung, daß dieses Land der unbegrenzten Möglichkeiten jede seiner Krisen immer wieder durch eine plötzliche Umstellung überwindet, indem es, sobald sein Hauptexportartikel versagt, sich einen neuen und noch ergiebigeren findet. Wie das siebzehnte Jahrhundert durch den Zucker, das achtzehnte durch das Gold und die Diamanten, so zeitigt auch das neunzehnte ein solches Wunder des unvermuteten Aufstiegs durch den Kaffee. Nach dem Zyklus des Zuckers, des weißen Goldes, dem Zyklus des wirklichen Goldes setzt mit dem Kaffee der Zyklus des braunen Goldes ein, der dann noch für kurze Zeit durch den Zyklus des flüssigen Goldes, des Gummis, abgelöst wird, und es ist ein Triumphzug ohnegleichen. Denn mit dem Kaffee erschafft sich während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts und bis in das zwanzigste hinein Brasilien ein absolutes Weltmonopol: wieder sind es die alten und so typischen Faktoren, die Ergiebigkeit der Erde, die Leichtigkeit der Anpflanzung, die Primitivität des Produktionsprozesses, die diesen neuen Artikel gerade Brasilen besonders gemäß machen. Die Kaffeebohne kann nicht mit Maschinen gepflanzt, nicht von Maschinen geerntet werden. Hier allein leistet der Sklave noch mehr als das eiserne Schwungrad. Und abermals ist es wie beim Zucker, beim Kakao, beim Tabak ein Qualitätsartikel, der an die verfeinerten Geschmacksnerven appelliert – eigentlich das notwendige Komplementprodukt zu diesen beiden früheren, denn als köstlicher Nachtisch bilden diese drei, die Zigarre, der Zucker, der Kaffee das ideale Trifolium.

Immer ist es seine Sonne und der Saft, die Kraft seiner Erde, die Brasilien retten. Was in der alten Heimat schon köstlich war, wird noch köstlicher auf dieser neuen Erde; nirgends gedeiht der Kaffee so üppig und mit solchem Aroma wie in dieser subtropischen Zone. Schon die früheren Jahrhunderte hatten diese Bohnen und ihre stimulierende Kraft gekannt. Aber wie der Kaffee 1730 ins Gebiet des Amazonas und 1762 nach Rio de Janeiro hinübergepflanzt wird, gilt er noch als Luxusartikel, und sein Absatz kann demgemäß für die Wirtschaft nicht entscheidend sein; in den statistischen Tabellen erscheint er zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts noch in den Quanten und wertmäßig weit hinter der Baumwolle, dem Leder, dem Kakao, dem Zucker und dem Tabak. Genau wie bei seinen älteren Brüdern, dem Tabak und dem Zucker, hilft erst die steigende, in immer breitere Schichten Europas und Nordamerikas eindringende Gewöhnung an dieses wundervolle Stimulans zu regerer Anpflanzung. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beginnen Produktion und Absatz dann plötzlich in Fieberkurven anzusteigen, und Brasilien wird der Kaffeelieferant der ganzen Welt. Immer hastiger muß es seine Produktion erweitern, um dem Bedarf nachzukommen, Hunderttausende und schließlich Millionen Arbeiter strömen in die Provinz São Paulo ein, die großen Häfen und Magazine von Santos werden ausgebaut, wo manchmal an einem einzigen Tage dreißig Frachtdampfer gefüllt mit Kaffeesäcken vor Anker liegen. Mit dem Export von Kaffee reguliert Brasilien für Jahrzehnte seine Wirtschaft, und welchen Wert dieser Export darstellt, zeigen die gigantischen Zahlen. Zwischen 1821 und 1900, in achtzig Jahren, liefert das Land für 270 Millionen und 835 000 englische Pfund, im ganzen bis heute für über zwei Milliarden englischer Pfunde; damit allein ist ein Großteil seiner Investitionen und seiner Einfuhr schon gedeckt. Aber anderseits wird durch diese Monopolproduktion Brasilien immer mehr von den Börsenpreisen abhängig und seine Währung an die Notierung des Kaffees verhängnisvoll gebunden; jeder Sturz der Kaffeepreise muß den Milreis mit sich reißen.

Und dieser Sturz der Kaffeepreise erweist sich schließlich als unaufhaltsam. Die Pflanzer, von den leichten Absatzmöglichkeiten angelockt, erweitern ständig ihre Fazendas, und da keine organisierte Planwirtschaft rechtzeitig dieser wilden Überproduktion entgegentritt, folgt eine Krise der andern. Die Regierung muß mehrmals intervenieren, um eine Katastrophe zu verhindern, einmal indem sie einen Teil der Ernte aufkauft, ein andermal, indem sie Neuanpflanzungen mit so hohen Steuern belegt, daß sie einem Anpflanzungsverbot gleichkommen, ein drittes Mal, indem sie den aufgekauften Kaffee ins Meer werfen läßt, um den Sturz der Preise aufzuhalten. Aber die Krise bleibt latent. Immer wieder stürzt nach kurzen Erholungen der Preis und reißt mit jedem seiner Stürze den Milreis mit sich. Derselbe Sack Kaffee, der um 1925 noch fünf englische Pfund kostet, fällt 1936 bis auf eineinhalb englische Pfund, während gleichzeitig der Milreis noch heftiger absinkt. Aber im Sinne der Stabilität der Finanzen und des innern Gleichgewichts ist es eher ein Vorteil, daß die Königsherrschaft des Kaffees sich ihrem Ende nähert und nicht Wohlstand oder Krise eines ganzen Landes durch den zufälligen Kurs der braunen Körner an den internationalen Warenbörsen bestimmt wird. Wie immer wird auch hier eine wirtschaftliche Krise Brasilien zum nationalen Gewinn, weil sie zu gleichmäßiger Ausbreitung seiner Produktion drängt und rechtzeitig die Gefahr der Einstellung seines Volksvermögens auf eine einzige Karte erkennen läßt.

Eine Zeitlang hat es den Anschein, als wollte gegen den wirtschaftlichen König Brasiliens, den Kaffee, ein gewaltiger Kronprätendent sich erheben, um die Herrschaft an sich zu reißen: das Gummi. Es hätte eigentlich für seinen Anspruch ein gewisses moralisches Recht, denn es ist nicht wie der Kaffee ein ziemlich spät gekommener Immigrant, sondern ein heimischer Bürger. Der Gummibaum, die Hevea brasiliensis, war ursprünglich in den Wäldern des Amazonas zu finden. Dreihundert Millionen solcher Bäume wachsen dort seit Hunderten und Hunderten von Jahren, ohne daß je ihre besondere Form und ihr kostbarer Saft den Europäern bekannt geworden wäre. Die Eingeborenen benutzen ab und zu das ausfließende Harz, wie Le Condamine auf seiner Amazonasreise als erster 1736 feststellt, um ihre Segel und Gefäße gegen das Wasser zu verkitten. Aber das klebrige Harz, industriell nicht verwertbar, weil es weder hohen noch niederen Temperaturen Widerstand zu leisten vermag, wird nur ab und zu in kleinen Quantitäten und in primitiv angefertigen Artikeln zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nach Amerika geschickt. Die entscheidende Wendung kommt erst, als 1839 Charles Goodyear entdeckt, daß man durch eine Schwefellegierung die weiche Masse in eine neue, gegen Hitze und Kälte weniger empfindliche umwandeln könne. Mit einem Schlage wird der Kautschuk einer der »big five«, eine der großen Notwendigkeiten der modernen Welt, kaum minder wichtig als Kohle, Petroleum, Holz und Erz. Man benötigt ihn zu Schläuchen, zu Galoschen und zu tausend anderen Dingen, und mit der Einführung des Fahrrads und dann des Automobils nimmt sein Verbrauch gigantische Proportionen an.

Für den Grundstoff dieses neuen Produkts besitzt nun Brasilien bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts das ausschließliche Monopol. Im ganzen Weltall ist nur in seinen amazonischen Wäldern – ein ökonomischer Glücksfall ohnegleichen – die Hevea brasiliensis zu finden; es ist also an Brasilien, die Preise zu diktieren. Entschlossen, das kostbare Monopol für sich allein zu behalten, verbietet die Regierung die Ausfuhr auch nur eines einzigen Baumes, wohl sich erinnernd, wie sehr es selbst durch die Einführung von ein paar Dutzend Kaffeesträuchern aus dem nachbarlichen französischen Guayana seinerzeit den gefährlichsten Rivalen schachmatt gesetzt hat. Und nun beginnt in merkwürdiger Parallelität zu der Entdeckung des Goldes in Minas Gerais ein plötzlicher boom in den bisher nur von Moskitos und anderem Getier bewohnten Urwäldern des Amazonas. Abermals setzt mit diesem Zyklus des »flüssigen Goldes« eine gewaltige Binnenimmigration in eine bisher unbesiedelte Provinz ein. Siebzigtausend Menschen aus der Gegend von Ceará, die infolge einer plötzlichen Dürre ihre bisherigen Wohnstätten verlassen mußten, werden von den Compagnien angeworben und von Belém in Booten und Schiffen hinauf in diese Wildnis geschickt, oder wenn man es ehrlicher sagt: verkauft. Denn ein furchtbares System der Ausbeutung beginnt in diesen Gegenden, die so weit von Gesetz und Überwachung sind wie seinerzeit die Goldtäler von Minas Gerais; obwohl nicht Sklaven, werden diese seringueiros durch Arbeitskontrakte und dadurch, daß die Unternehmer, noch nicht zufrieden mit dem Gewinn an dem Gummi, diesen unseligen Arbeitern im »grünen Gefängnis« des Urwalds überdies noch die Waren und Lebensmittel, die sie benötigen, zum vier- und fünffachen Preise verkaufen, praktisch in Knechtschaft gehalten. Wer alle Einzelheiten des Horrors dieser Tage verstehen will, möge den wunderbaren Roman von Ferreira de Castro nachlesen, der mit großartigem Realismus diese schmachvolle Zeit schildert. Die Arbeit des seringueiro ist furchtbar; in elenden Hütten im Urwald kampierend, abseits von jeder gesitteten Menschheit, muß er mit Messer und Hacke durch das Gestrüpp erst den Weg zu diesen Bäumen sich bahnen, muß sie anzeichnen und abzapfen, mehrmals am Tag hin und zurück in der glühenden Hitze, muß zwischendurch die Gummimilch rechtzeitig verkochen und bleibt dabei, vom Fieber geschüttelt, in seinen Kräften zerstört, nach monatelanger Arbeit durch eine verbrecherische Kalkulation noch immer Schuldner des Unternehmers, der die Fracht der Beförderung von ihm zurückfordert, und der ihn bei der Lebensmittellieferung bewuchert. Versucht er aus seinem »Arbeitskontrakt«, wie man diesen Sklavendienst mit einem schöneren Worte nennt, zu entfliehen, so wird er genau wie früher ein Sklave von bewaffneten Wächtern gejagt und muß in Ketten weiterarbeiten.

 

Aber dank dieser schamlosen Ausbeutung der Arbeiter, dank des Handelsmonopols und des von Jahr zu Jahr steigenden Weltbedarfs schnellen die Gewinne ins Phantastische hinauf. Die Tage von Vila Rica und Vila Real im achtzehnten Jahrhundert, da die Goldstädte mit hastigem Prunk und sinnloser Pracht mitten in einer Einöde aufwuchsen, scheinen wiedergekehrt im neunzehnten Jahrhundert. Belém blüht auf, und eine völlig neue Stadt entsteht tausend Meilen weit von der Küste, Manaus, gewillt, Rio de Janeiro, São Paulo und Bahia durch Luxus und Pracht zu übertreffen. Asphaltierte Avenuen, Banken und Paläste mit elektrischem Licht, prächtige Häuser und Geschäfte, das größte und luxuriöseste Theater Brasiliens, das nicht weniger als zehn Millionen Dollar kostet, erstehen mitten im Urwald. Alles schwimmt in Geld. Ein Konto, damals zweihundert Dollar, wird ausgegeben wie ein Schilling, die raffiniertesten Luxuswaren kommen aus Paris und aus London in den großen Dampfern, die immer öfter und öfter den Amazonas befahren. Alles spekuliert, alles handelt mit Gummi, und während die Bäume bluten und im grünen Gefängnis des Urwalds die seringueiros zu Hunderten und Tausenden hinsterben, wird eine ganze Generation im Amazonasgebiet so reich an dem flüssigen Gold wie einstens ihre Urväter in den Minenfeldern von Minas Gerais. Auch der Staat profitiert freilich von diesem einträglichen Export, und in der Handelsbilanz kommt das Gummi in raschen und wilden Sprüngen dem Kaffee bedenklich nahe; die Einführung des Automobils eröffnet unbegrenzte Perspektiven. Ein Jahrzehnt noch, und Manaus wird nicht nur die reichste Stadt Brasiliens sondern eine der reichsten der Welt sein.

Aber ebenso rasch wie sie aufgestiegen war, platzt diese schillernde Blase. Ein einziger Mann hat sie heimtückisch aufgestochen. Ein junger Engländer holt, das staatliche Verbot der Ausfuhr der Hevea brasiliensis oder deren Samen durch Bestechung geschickt zunichte machend, nicht weniger als siebzigtausend dieser Samen nach England hinüber, wo in Kew Gardens die ersten Bäume gepflanzt und dann nach Ceylon, Singapore, Sumatra und Java übertragen werden. Damit ist das brasilianische Monopol gebrochen, und seine Produktion kommt rasch in die Hinterhand. Denn die systematisch angelegten Pflanzungen auf den malaiischen Inseln, wo in meilenweiten geraden Linien die Gummibäume wie Grenadiere aufgereiht stehen, ermöglichen eine viel raschere und leichtere Ausbeutung als inmitten des Urwalds, wo jeder einzelne Baum erst aus dem Dickicht freigelegt werden muß. Wie immer unterliegt die altmodische, improvisierte, brasilianische Produktion der überlegenen modernen Organisation.

Der Abstieg geschieht dann lawinenhaft schnell. 1900 produziert Brasilien noch 26 750 Tonnen gegen bloße vier jämmerliche Tonnen aus Asien. Noch 1910 hat es die Oberhand mit seinen 42 000 Tonnen gegen 8 200 asiatische. Aber 1914 ist es schon geschlagen mit 37 000 Tonnen gegen 71 000, und von dieser Stunde an geht er rascher und rascher abwärts; 1938 produziert es nur mehr 16 400 Tonnen gegen 365 000 aus den malaiischen Staaten allein und 300 000 der holländischen Kolonie, 58 000 von Indochina und 52 000 aus Ceylon. Und selbst diese ärmlichen 16 000 Tonnen erzielen nur einen Teil des ursprünglichen Preises. Das Theater von Manaus sieht nicht mehr wie einst die Truppen der ersten europäischen Theater, die Vermögen zerrinnen, der Traum des flüssigen Goldes ist ausgeträumt. Wieder ist ein Zyklus zu Ende, nachdem er seine geheimnisvolle Pflicht erfüllt, einer bisher schlafenden Provinz einen Einschuß von Leben und Vitalität zu geben und sie in Handel und Verkehr mit der Gesamtheit der Nation enger zu verbinden.

Noch einmal wird sich zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts das innerste Gesetz der brasilianischen Entwicklung erfüllen: daß es, leicht verführt von dem momentanen Gewinn eines Hauptartikels, immer eine Krise benötigt, um sich umzustellen, und daß somit alle diese zyklischen Krisen seiner vielfältigen Gesamtentwicklung eigentlich eher förderlich als schädlich gewesen sind. Die letzte große Umstellung, zu der Brasilien genötigt gewesen war, zwingt ihm nicht der Wille des äußeren Weltmarkts, sondern sein eigener Wille auf durch das Gesetz von 1888, das endgültig die Sklaverei abschafft.

Im ersten Augenblick ist es ein heftiger Schock für die Wirtschaft, ein so heftiger, daß er sogar den Thron des Kaisers umstürzt. Viele der Neger, von der neuen Freiheit berauscht, verlassen das innere Land und ziehen in die Städte. Betriebe, die nur dank der unbezahlten Arbeitskräfte ein Erträgnis abwarfen, werden stillgelegt, die Plantagenbesitzer verlieren mit den Sklaven einen Großteil ihres Kapitals, und, ohnehin schon kaum mehr konkurrenzfähig in der Produktion gegen die modernen maschinellen Methoden, droht schließlich auch die Landwirtschaft und Kaffeeanpflanzung zu versagen. Wieder erhebt sich der alte Ruf des Anfangs: Hände her nach Brasilien! Hände, Menschen her um jeden Preis! Das zwingt die Regierung, die Immigration, die bisher ein bloßes laissez-faire gewesen, eine passive, gleichgültige Einstellung, durch Anlockung europäischer und asiatischer Einwanderer systematisch in Schwung zu bringen. Vor der Ära des Kaffees hatte Brasilien nur eine landwirtschaftliche Immigration gekannt. Schon 1817 ließ König João durch europäische Agenten zweitausend Schweizer Kolonisten anwerben, die eine Siedlung Nova Friburgo begründeten, ihnen folgte 1825 eine deutsche Gruppe in Rio Grande do Sul, nach und nach entwickelten sich durch den Zuzug von etwa 120 000 Deutschen nach dem Süden Brasiliens in Santa Catarina und Paraná geschlossene deutsche Bezirke; aber alle diese Zuwanderung war mehr oder minder durch eigene Initiative der Auswanderer oder durch die vermittelnde Tätigkeit privater Agenturen erfolgt. Nun erst, da eine neue große und erträgnisreiche Produktion in Schwung kommt und die Sklavenarbeit wegfällt, entschließt sich der Staat und besonders die Provinz von São Paulo, die Einwanderung in größerem Maßstabe als bisher zu fördern, indem sie den Unbemittelten die Schiffsreise aus eigenen Mitteln finanziert und für alle diejenigen, welche sich der Landwirtschaft zuwenden wollen, Grund und Boden zur Verfügung stellt. Diese Zuschüsse erreichen in den entscheidenden Jahren bis zu zehntausend Konto im Jahr an barem Gelde; aber kaum Brasilien den Weg gebahnt und die Tore geöffnet hat, strömen schon die Massen herein. Im Jahr nach der Sklavenbefreiung, 1890, steigt die Immigration von 66 000 Köpfen auf 107 000, um 1891 die bisher erreichte Höchstzahl von 216 760 zu erreichen, und hält dann unentwegt auf einem schwankenden aber immer hohen Niveau an, das erst in den letzten Jahren der Erschwerungspolitik wieder auf ungefähr 20 000 im Jahr herabgesunken ist.

Diese Immigration von vier bis fünf Millionen Weißen in den letzten fünfzig Jahren hat einen ungeheuren Energieeinschuß für Brasilien bedeutet und gleichzeitig einen gewaltigen kulturellen und ethnologischen Gewinn gebracht. Die brasilianische Rasse, die durch einen dreihundertjährigen Negerimport in der Hautfarbe immer dunkler, immer afrikanischer zu werden drohte, hellt sich sichtbar wieder auf, und das europäische Element steigert im Gegensatz zu den primitiv herangewachsenen, analphabetischen Sklaven das allgemeine Zivilisationsniveau. Der Italiener, der Deutsche, der Slawe, der Japaner bringt aus seiner Heimat einerseits eine völlig ungebrochene Arbeitskraft und Arbeitswilligkeit, anderseits Forderung eines höheren Lebensstandards mit. Er kann lesen und schreiben, er ist technisch geschult, er arbeitet in rascherem Rhythmus als die Generation, die durch Sklavenarbeit verwöhnt und vielfach durch das Klima in ihrem Leistungsvermögen geschwächt ist. Instinktiv suchen die Einwanderer überall jene Gegenden, die sie dem heimischen Klima und den alten Lebensformen ähnlich finden, und so sind es vor allem die südlichen Provinzen von Rio Grande do Sul, Santa Catarina, die von diesem neuen Zyklus des »lebendigen Goldes« belebt werden. Der Zyklus der Immigration bedeutet für die Städte und das Gebiet von São Paulo, Porto Alegre und Santa Catarina, was einst der Zucker für Bahia, das Gold für Minas Gerais, der Kaffee für Santos gewesen: den entscheidenden Anschwung, der dann aus weiterwirkender Kraft Wohnstätten, Arbeitsmöglichkeiten, Industrien und Kulturwerte schafft. Und gerade weil dies neue Material aus den verschiedensten Zonen der Welt stammt – Italiener, Deutsche, Slaven, Japaner, Armenier – kann Brasilien seine alte Kunst der Mischung und gegenseitigen Anpassung auf das glücklichste bewähren. Mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit ordnen sich dank der besonderen assimilatorischen Kraft dieses Landes die neuen Elemente ein, und die nächste Generation wirkt schon selbstverständlich und gleichberechtigt mit an dem alten Ideal des Anfangs: einer in einer einzigen Sprache und Denkweise verbundenen Nation.