50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Kapitel Fünf­und­zwanzig

Blick auf die brasilianische Kultur

Seit vierhundert Jahren kocht und gärt in der ungeheuren Retorte dieses Landes, immer wieder umgeschüttelt und mit neuem Zusatz versehen, die menschliche Masse. Ist dieser Prozeß nun endgültig beendet, ist diese Millionenmasse schon Eigenform, Eigenstoff geworden, eine neue Substanz? Gibt es heute schon etwas, was man die brasilianische Rasse nennen kann, den brasilianischen Menschen, die brasilianische Seele? In Hinsicht auf die Rasse hat der genialste Kenner des brasilianischen Volkstums, Euclides da Cunha, längst die entscheidende Verneinung gegeben, indem er glatt erklärte: Não há um tipo antropológico brasileiro, »es gibt keine brasilianische Rasse«. Rasse, sofern man diesen dubiosen und heute überbewerteten Begriff, der doch mehr oder minder nur einen Übersichtsbehelf darstellt, überhaupt verwerten will, meint tausendjährige Gemeinsamkeit von Blut und Geschichte, während bei einem richtigen Brasilianer alle im Unbewußten aus Urzeiten schlummernden Erinnerungen gleichzeitig träumen müssen von den Ahnenwelten dreier Kontinente, von europäischen Küsten, afrikanischen Krals und amerikanischem Urwald. Der Prozeß des zum Brasilianer Werdens ist nicht nur ein Assimilationsprozeß an das Klima, an die Natur, an die geistigen und räumlichen Bedingtheiten des Landes, sondern vor allem ein Transfusionsproblem. Denn die Mehrzahl der brasilianischen Bevölkerung – abgesehen von den spät Eingewanderten – stellt ein Mischprodukt dar und zwar eines denkbar vielfältigster Art. Nicht genug an der dreifach verschiedenen Heimat, der europäischen, der afrikanischen, der amerikanischen, ist jede dieser drei Schichtungen in sich selbst wieder neuerdings geschichtet. Der europäische Erstling in diesem Lande, der Portugiese des sechzehnten Jahrhunderts, ist alles weniger als einrassig oder reinrassig; er stellt ein Gemenge dar aus iberischen, aus römischen, gotischen, phönizischen, jüdischen und maurischen Vorfahren. Die Urbevölkerung des Landes wiederum zerfällt in ganz artfremde Rassen, die Tupís und die Tapuyas. Und erst die Neger; aus wievielen Zonen des unübersehbaren Afrika waren sie zusammengetrieben! All das hat sich ständig gemischt, gekreuzt und außerdem noch erfrischt durch den ständigen Zustrom neuen Bluts durch die Jahrhunderte. Aus allen Ländern Europas und schließlich mit den Japanern noch aus Asien hier herübergekommen, vervielfältigen und variieren sich diese Blutgruppen in unübersehbaren Kreuzungen und Überkreuzungen ununterbrochen im brasilianischen Raum. Alle Schattierungen, alle physiologischen und charakterologischen Nuancen sind hier zu finden; wer in Rio über die Straße geht, sieht in einer Stunde mehr eigenartig gemischte und eigentlich schon unbestimmbare Typen als sonst in einer anderen Stadt in einem Jahr. Selbst das Schachspiel mit seinen Millionen Kombinationen, von denen keine einzige sich wiederholt, scheint arm gegen dieses Chaos der Varianten, Kreuzungen und Überkreuzungen, in denen sich die unerschöpfliche Natur in vier Jahrhunderten hier gefallen hat.

Aber wenn beim Schachspiel auch keine Partie der anderen gleicht, so bleibt dieses Spiel doch immer Schach, weil eingeschlossen in den Rahmen desselben Raums und bestimmten Gesetzen unterworfen. Ebenso hat die Gebundenheit im selben Raum und damit die Anpassung an das gleiche klimatische Gesetz sowie der einheitliche Rahmen der Religion und der Sprache unter den brasilianischen Menschen bestimmte unverkennbare Ähnlichkeiten jenseits der Eigenheiten erzeugt, die von Jahrhundert zu Jahrhundert immer sichtbarer werden. Wie Kiesel in einem strömenden Fluß sich mehr und immer mehr abschleifen, je mehr und je länger sie gemeinsam rollen, so ist durch das Zusammenleben und die ständige Durchmischung innerhalb dieser Millionen die scharfe Eigenlinie des Ursprungs immer unmerkbarer geworden und gleichzeitig das Ähnliche und Gemeinschaftliche immer größer. Noch ist dieser Prozeß der fortwährenden Verähnlichung durch fortwährende Vermischung im Gang, noch ist die endgültige Form innerhalb dieser Entwicklung nicht ganz starr und ausgebildet. Aber doch hat der Brasilianer aller Klassen und Stände schon den deutlichen und typischen Stempel einer Volkspersönlichkeit.

Wer das Charakteristische dieses Brasilianischen von irgendeinem landeigenen Ursprung abzuleiten versuchte, geriete ins Unwahre und Künstliche. Denn nichts ist so sehr typisch für den Brasilianer, als daß er ein geschichtsloser Mensch oder zum mindesten einer mit einer kurzen Geschichte ist. Seine Kultur fußt nicht wie die der europäischen Völker auf uralten, bis in mythische Zeiten zurückreichenden Traditionen, noch kann sie sich wie diejenige der Peruaner und Mexikaner auf eine prähistorische Vergangenheit auf eigener Scholle berufen. Soviel die Nation in den letzten Jahren durch neue Kombinationen und eigene Leistung zugetan, die Aufbauelemente ihrer Kultur sind doch zur Gänze aus Europa importierte. Sowohl die Religion, die Sitte als die äußere und innere Grundform des Lebensstils dieser Millionen und Millionen verdankt wenig oder eigentlich nichts der heimischen Erde. Alle Kulturwerte sind auf Schiffen verschiedenster Art, auf den alten portugiesischen Karavellen, auf den Segelbooten und den modernen Dampfern über das Meer gebracht worden, und auch die pietätvoll-ehrgeizigste Mühe hat bisher einen wesentlichen Beitrag der nackten und kannibalischen Ureinwohner zur brasilianischen Kultur nicht finden oder erfinden können. Es gibt keine prähistorische brasilianische Dichtung, keine urbrasilianische Religion, keine altbrasilianische Musik, keine durch Jahrhunderte bewahrten Volkslegenden und nicht einmal die bescheidensten Ansätze zu einem Kunsthandwerk; wo sonst in den Nationalmuseen der Völkerkunde stolz die tausend Jahre alten Erzeugnisse von autochthoner Schrift- und Werkkunst gezeigt werden, müßte in den brasilianischen Museen eine völlig leere Ecke stehen. Gegen die Tatsache hilft kein Suchen und Nachspüren, und versucht man heute manche Tänze wie Samba oder Macumba als national-brasilianische zu deklarieren, so verschattet und verschiebt man damit künstlich die wirkliche Situation, denn diese Tänze und Riten sind von den Negern gleichzeitig mit ihren Ketten und Brandmarkungen mitgebracht worden. Ebensowenig sind die einzigen Kunstobjekte, die man auf brasilianischem Boden gefunden, die bemalten Tongeräte auf der Insel Marajó, autochthonen Ursprungs; sie sind zweifellos von Angehörigen fremder Rassen, wahrscheinlich von Peruanern, die den Amazonenstrom bis zur Insel an seiner Mündung herunterkamen, mitgenommen oder hier angefertigt worden. Man muß sich also damit abfinden: nichts kulturell Charakteristisches in Architektur und jeder anderen Form der Gestaltung reicht hier weiter zurück als bis in die Kolonialzeit, in das sechzehnte oder siebzehnte Jahrhundert, und selbst deren schönste Produkte in den Kirchen von Bahia und Olinda mit ihren goldstrotzenden Altären und geschnitzten Möbeln sind unverkennbare Schößlinge des portugiesischen oder jesuitischen Stils und kaum unterscheidbar von jenen in Goa oder den eigenen des Mutterlands. Wo immer man im Historischen hier über den Tag zurückgreifen will, da die ersten Europäer landeten, greift man in ein Vakuum, in ein Nichts. Alles was wir heute brasilianisch nennen und als solches anerkennen, läßt sich nicht aus einer eigenen Tradition erklären, sondern aus einer schöpferischen Umwandlung des Europäischen durch das Land, das Klima und seine Menschen.

Dieses typisch Brasilianische ist allerdings heute schon augenfällig und persönlich genug, um nicht mehr verwechselt zu werden mit dem Portugiesischen, sosehr die Verwandtschaft, die Kindschaft noch fühlbar ist. Unsinnig, diese Abhängigkeit zu leugnen. Portugal hat Brasilien die drei Dinge gegeben, die für die Formung eines Volkes entscheidend sind, die Sprache, die Religion, die Sitte, und damit die Formen, innerhalb deren sich das neue Land, die neue Nation entwickeln konnte. Daß diese Urformen sich unter anderer Sonne und in anderen Dimensionen und bei immer stärker einströmendem fremdem Blut zu einem anderen Inhalt entwickelten, war ein unvermeidlicher, weil organischer Prozeß, den keine königliche Autorität und keine bewaffnete Organisation aufhalten konnte. Vor allem hat sich die Denkrichtung der beiden Nationen voneinander verschieden entwickelt; Portugal, als das historisch ältere Land, träumt zurück in eine große, wohl nie mehr zu erneuernde Vergangenheit, Brasiliens Blick ist in die Zukunft gerichtet. Das Mutterland hat seine Möglichkeiten – in großartigster Weise – schon einmal erschöpft, das neue die seinen noch nicht völlig erreicht. Es ist ein Unterschied nicht so sehr der volksmäßigen Struktur, als eine Verschiedenheit der Generation. Beide Völker, heute in enger Freundschaft verbunden, haben sich nicht einander entfremdet; sie haben sich gewissermaßen nur auseinandergelebt. Deutlichstes Symbol dafür vielleicht die Sprache. In Schrift und Vokabular, also in den Urformen, ist sie heute noch fast vollkommen identisch, und man muß schon das Ohr für die allerletzten Nuancen geschärft haben, um zu erkennen, ob man das Buch eines brasilianischen oder eines portugiesischen Dichters in Händen hält. Anderseits ist kaum ein einziges Wort der Ursprache der Tupís und Tapuyas, wie sie die ersten Missionare noch verzeichneten, in das Brasilianisch von heute übergegangen. Der Brasilianer spricht – dies der ganze Unterschied – das Portugiesische nur anders, eben brasilianischer aus als der Portugiese, und das Merkwürdigste ist, daß dieser brasilianische Akzent, dieser brasilianische Dialekt vom Norden bis zum Süden, vom Osten zum Westen über achteinhalb Millionen Quadratkilometer ein und derselbe geblieben ist, also eine vollkommene Nationalsprache. Noch verstehen sich der Portugiese und der Brasilianer vollkommen, da sie sich derselben Worte, derselben Syntax bedienen, aber in der Intonation und zum Teil auch schon im literarischen Ausdruck beginnen sich diese ursprünglich minimalen Varianten ungefähr in dem gleichen Verhältnis zu verstärken, wie sich Engländer und Amerikaner innerhalb derselben Sprachwelt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlicher als Individualitäten voneinander absondern. Tausend Meilen Distanz, ein anderes Klima, andere Lebensbedingungen, neue Bindungen und Gemeinsamkeiten mußten sich nach vierhundert Jahren allmählich fühlbar machen, und langsam, aber unaufhaltsam mußte hier ein neuer Typus, eine ganz spezifische Volkspersönlichkeit entstehen.

 

Was den Brasilianer physisch und seelisch charakterisiert, ist vor allem, daß er zarter geartet ist als der Europäer, der Nordamerikaner. Der wuchtige, der massige, der hochaufgeschossene, der starkknochige Typus fehlt beinahe vollkommen. Ebenso fehlt im Seelischen – und man empfindet es als Wohltat, dies vertausendfacht zu sehen innerhalb einer Nation – jede Brutalität, Heftigkeit, Vehemenz und Lautheit, alles Grobe, Auftrumpfende und Anmaßende. Der Brasilianer ist ein stiller Mensch, träumerisch gesinnt und sentimental, manchmal sogar mit einem leisen Anflug von Melancholie, die schon Anchieta 1585 und Padre Cardim in der Luft zu fühlen meinten, als sie dieses neue Land desleixada e remissa e algo melancólica nannten. Sogar im äußeren Umgang sind die Formen merkbar gedämpft. Selten hört man jemanden laut sprechen oder gar zornig einen andern anschreien, und gerade wo sich Massen sammeln, spürt man am deutlichsten diese für uns auffällige Sordinierung. Bei einem großen Volksfest wie dem bei Penha oder einer Überfahrt im Ferryboat zu einer Art Kirchweih nach der Insel Paquetá, wo in einem dichtgedrängten Raum tausende Menschen und darunter unzählige Kinder versammelt sind, hört man kein Toben und Juchzen, kein gegenseitig sich zu wilder Lustigkeit Anfeuern. Auch wenn sie sich in Massen vergnügen, bleiben hier die Menschen still und diskret, und diese Abwesenheit alles Robusten und Brutalen gibt ihrer leisen Freude einen rührenden Reiz. Lärm zu machen, zu schreien, zu toben, wild zu tanzen, ist hier der Sitte eine derart gegensätzliche Lust, daß sie gleichsam als Ventil aller zurückgestauten Triebe den vier Tagen des Karnevals aufgespart ist, aber selbst in diesen vier Tagen des anscheinend zügellosen Übermuts kommt es innerhalb einer Millionenmasse gleichsam von einer Tarantel gestochener Menschen nie zu Exzessen, Unanständigkeiten oder Gemeinheiten; jeder Fremde, ja sogar jede Frau kann sich beruhigt auf die quirlenden, von Lärm explodierenden Straßen wagen. Immer bewahrt der Brasilianer seine natürliche Weichheit und Gutartigkeit. Die allerverschiedensten Klassen begegnen sich untereinander mit einer Höflichkeit und Herzlichkeit, die uns Menschen des in den letzten Jahren arg verwilderten Europa immer wieder von neuem erstaunt. Man sieht auf der Straße zwei Männer sich begegnen; sie umarmen sich. Unwillkürlich denkt man, es seien Brüder oder Jugendfreunde, von denen einer gerade aus Europa oder von einer exotischen Reise zurückgekehrt sei. Aber an der nächsten Ecke sieht man wieder zwei Männer sich in dieser Art begrüßen und erkennt, daß die accolade zwischen Brasilianern eine durchaus selbstverständliche Sitte ist, ein Ausstrom natürlicher Herzlichkeit. Höflichkeit wiederum ist hier die selbstverständliche Grundform menschlicher Beziehung, und sie nimmt Formen an, die wir in Europa längst vergessen haben – bei jedem Gespräch auf der Straße behalten die Leute den Hut in der Hand, wo immer man eine Auskunft erbittet, wird einem mit begeistertem Eifer geholfen und in den höheren Kreisen das Ritual der Förmlichkeit mit Besuch und Gegenbesuch und Kartenabwerfen mit protokollarischer Genauigkeit erfüllt. Jeder Fremde wird auf das Zuvorkommendste empfangen und auf das Gefälligste ihm der Weg geebnet; mißtrauisch wie wir leider geworden sind gegen alles natürlich Humane, erkundigt man sich bei Freunden und neu Eingewanderten, ob diese offenbare Herzlichkeit nicht eine bloß formelle und formale sei, ob dieses gute, freundliche Zusammenleben ohne sichtbaren Haß und Neid zwischen Rassen und Klassen nicht eine Augentäuschung ersten oberflächlichen Eindrucks sei. Aber einstimmig hört man von allen als erste und wesentlichste Eigenschaft dieses Volkes rühmen, daß es von Natur aus gutartig sei. Jeder einzelne, den man befragt, wiederholt das Wort der ersten Ankömmlinge: É a mais gentil gente. Nie hat man hier von Grausamkeit gegen Tiere gehört, nie von Stierkämpfen oder Hahnenturnieren, nie hat selbst in den dunkelsten Tagen die Inquisition ihre Autodafés der Menge dargeboten; alles Brutale stößt den Brasilianer instinktiv ab, und es ist statistisch festgestellt, daß Mord und Totschlag fast niemals als geplante und vorausbedachte Tat geschehen, sondern immer spontan als crime passional, als ein plötzlicher Ausbruch von Eifersucht oder Gekränktheit. Verbrechen, die an List, Berechnung, Raubgier oder Raffiniertheit gebunden sind, gehören zu den größten Seltenheiten; es ist nur wie ein Nervenriß, ein Sonnenstich, wenn ein Brasilianer zum Messer greift, und mir selbst fiel es auf, als ich die große Penitenciária in São Paulo besuchte, daß der eigentliche in der Kriminologie genau verzeichnete Verbrechertypus völlig fehlte. Es waren durchaus sanfte Menschen mit stillen, weichen Augen, die irgendeinmal in einer überhitzten Minute etwas begangen haben mußten, von dem sie selber nicht wußten. Aber im allgemeinen – und dies bestätigte jeder Eingewanderte – liegt jede Gewalttätigkeit, alles Brutale und Sadistische auch in den unmerklichsten Spuren dem brasilianischen Menschen vollkommen fern. Er ist gutmütig, arglos, und das Volk hat jenen halb kindlich-herzlichen Zug, wie er dem Südländer oft zu eigen ist, aber doch selten in einem so ausgesprochenen und allgemeinen Maß wie hier. In all den Monaten bin ich hier keiner Unfreundlichkeit begegnet, nicht oben und nicht unten; überall konnte ich den gleichen – heute so seltenen – Mangel an Mißtrauen gegen den Fremden, gegen den Andersrassigen oder Andersklassigen feststellen. Manchmal, wenn ich in den favelas, diesen prachtvoll pittoresken Negerhütten, die auf den Felsen mitten in der Stadt wie schwanke Vogelhäuschen liegen, neugierig herumkletterte, hatte ich ein schlechtes Gewissen und schlimmes Vorgefühl. Denn schließlich war ich gekommen, mir als Neugieriger eine unterste Stufe der Lebenshaltung anzusehen und in diesen jedem Blick wehrlos offenstehenden Lehm- oder Bambushütten Menschen im primitivsten Urzustand zu beobachten und somit unbefugt in ihre Wohnungen und damit in ihr privatestes Leben hineinzuschauen; im Anfang war ich eigentlich ständig gewärtig, etwa wie in einer proletarischen Arbeitergegend in Europa, einen bösen Blick ins Auge oder ein Schimpfwort in den Rücken zu bekommen. Aber im Gegenteil, diesen Arglosen ist ein Fremder, der sich in diesen verlorenen Winkel bemüht, ein willkommener Gast und beinahe ein Freund; mit blinkenden Zahnreihen lacht der Neger, der einem wassertragend begegnet, einem zu und hilft einem noch die glitschigen Lehmstufen empor; die Frauen, die ihre Kinder säugen, sehen freundlich und unbefangen auf. Und ebenso begegnet man in jeder Straßenbahn, auf jedem Ausflugsschiff, gleichgültig ob man einem Neger, einem Weißen oder Mischling gegenübersitzt, der gleichen unbefangenen Herzlichkeit. Niemals ist innerhalb der Dutzende Rassen etwas von Absonderung gegeneinander zu entdecken, weder bei Erwachsenen noch bei Kindern. Das schwarze Kind spielt mit dem weißen, der Braune geht mit dem Neger selbstverständlich Arm in Arm, nirgends gibt es Einschränkung oder auch nur privaten Boykott. Beim Militär, in den Ämtern, auf den Märkten, in den Büros, in den Geschäften, in den Arbeitsstätten denken die einzelnen nicht daran, sich nach Farbe oder Herkunft zu schichten, sondern arbeiten friedlich und freundlich zusammen. Japaner heiraten Negerinnen und Weiße wiederum Braune: das Wort »Mischling« ist hier kein Schimpfwort, sondern eine Feststellung, die nichts Entwertendes in sich hat: der Klassenhaß und Rassenhaß, diese Giftpflanze Europas, hat hier noch nicht Wurzel und Boden gefaßt.

Diese ungemeine Zartheit des Seelischen, diese vorurteilslose und arglose Gutartigkeit, diese Unfähigkeit zur Brutalität büßt der Brasilianer mit einer sehr starken und vielleicht überstarken Empfindlichkeit. Nicht nur sentimental, sondern auch sensitiv veranlagt, besitzt jeder Brasilianer ein besonderes leicht verletzbares Ehrgefühl und zwar ein Ehrgefühl besonderer Art. Gerade weil er selbst so besonders höflich und persönlich bescheiden ist, empfindet er jede und auch die unbeabsichtigtste Unhöflichkeit sofort als Mißachtung. Nicht daß er heftig reagiert wie etwa ein Spanier oder Italiener oder ein Engländer; er schweigt die vermeintliche Kränkung gleichsam in sich hinein. Immer wieder wird einem dasselbe erzählt: in einem Hause ist eine Angestellte, schwarz oder weiß oder braun; sie ist sauber, freundlich und still und gibt nicht den geringsten Anlaß zu einer Beschwerde. Eines Morgens ist sie verschwunden, die Hausfrau weiß nicht warum und wird es nie erfahren. Sie hat ihr vielleicht gestern ein leises Wort des Tadels, der Unzufriedenheit gesagt und mit diesem einen kleinen oder vielleicht zu lauten Wort, ohne es zu ahnen, das Mädchen tief gekränkt. Das Mädchen revoltiert nicht, beschwert sich nicht, sucht keine Auseinandersetzung. Still packt sie ihre Sachen und geht lautlos fort. Es ist nicht in der Art des brasilianischen Menschen, sich zu rechtfertigen oder Rechtfertigung zu fordern, sich zu beschweren oder zornig auseinanderzusetzen. Er zieht sich nur in sich selbst zurück; es ist seine natürliche Gegenwehr, und diesem stillen, geheimnisvoll schweigsamen Trotz begegnet man hier überall. Niemand wird, wenn man einmal eine Einladung oder Aufforderung auch in allerhöflichster Form abgelehnt hat, sie wiederholen, kein Verkäufer in einem Geschäft, wenn man mit dem Ankauf zögert, mit einem weiteren Wort zureden, und dieser geheime Stolz, diese Empfindlichkeit des Ehrgefühls reicht hinab bis in die untersten und alleruntersten Schichten. Während man in den reichste Städten der Welt, in London und Paris und gar in den Südländern überall Bettler findet, fehlen sie in diesem Lande, wo die »nackte Armut« oft kaum mehr ein Wort der Übertreibung ist, fast vollkommen und dies nicht etwa infolge eines energischen Dekrets, sondern aus der dem ganzen Volke eigenen Hypertrophie der Empfindlichkeit, die auch die höflichste Zurückweisung noch als Kränkung empfindet.

Diese Zartheit des Gefühls, diese Abwesenheit jeder Vehemenz will mir vielleicht als die charakteristischste Eigenschaft des brasilianischen Volkes erscheinen. Die Menschen brauchen hier keine heftigen und gewaltigen Spannungen, keine sichtbaren und ausnutzbaren Erfolge, um zufrieden zu sein. Es ist kein Zufall, daß der Sport, der doch im letzten die Leidenschaft des sich gegenseitig Überholens und Übertreffens darstellt, die ein gut Teil der Verrohung und Entgeistigung unserer Jugend verschuldet, in diesem Klima, das mehr zur Ruhe und zu behaglichem Genießen lockt, nicht jene absurde Überwichtigkeit gewonnen hat, und daß jene wüsten Szenen und tollwütigen Erregungen völlig fehlen, wie sie in unseren sogenannten zivilisierten Ländern an der Tagesordnung sind. Was Goethe auf seiner ersten Italienreise bei den Südländern so sehr sympathisch erstaunte, daß sie nicht ununterbrochen materielle oder metaphysische Zwecke des Lebens suchten, sondern sich des Lebens an sich auf stille und oft lässige Weise freuen, ist hier immer wieder von neuem dankbar zu empfinden. Die Menschen wollen hier nicht zu viel, sie sind nicht ungeduldig. Nach der Arbeit oder zwischen der Arbeit ein bißchen plaudern, Kaffee trinken, frisch rasiert und mit gutgeputzten Schuhen zu flanieren, an seinem Haus, an seinen Kindern seine gute Freude zu haben, ist den meisten genug. Alle Zustände des Behagens, des Glücks sind mit dieser friedlichen Gelassenheit gemischt. Darum ist und war es von je verhältnismäßig so leicht, dieses Land zu regieren, darum brauchte Portugal so wenig Militär und benötigt die Regierung heute so wenig Druck und Nachdruck, um Frieden und Ordnung zu bewahren. Das Zusammenleben im Staat ergibt sich hier mit unendlich viel weniger Haß von Gruppe zu Gruppe und Klasse zu Klasse dank dieser ihnen immanent innewohnenden Friedlichkeit und Neidlosigkeit.

Im wirtschaftlichen, im erfolgstechnischen Sinne mag dieser Mangel an Impetus, dieses Nicht-gierigsein, Nicht-ungeduldigsein, das an sich individuell für mich eine der schönsten Tugenden des Brasilianers darstellt, ein gewisses Manko sein. Mit Europa oder mit Nordamerika verglichen, bleibt im Tempo die kollektive Arbeitsleistung des ganzen Landes stark zurück, und schon vor vierhundert Jahren hat Anchieta den hemmenden Einfluß verzeichnet, den die erschlaffende Wirkung des Klimas notwendigerweise ausüben muß. Aber man kann diese Minderleistung keineswegs Trägheit nennen. An sich ist der Brasilianer ein ausgezeichneter Arbeiter. Er ist anstellig, schafft und begreift rasch. Man kann ihn zu allem heranbilden, und die aus Deutschland herübergekommenen Emigranten, die neue und oft komplizierte Industrien ins Land übertragen, rühmen einstimmig, mit welcher Wendigkeit und welchem Interesse sich die einfachsten Arbeiter auf neue Formen der Produktion umzustellen wissen. Im Kunsthandwerk zeigen die Frauen viel Geschick und in den Wissenschaften die Studenten regstes Interesse, und es wäre ungerecht im höchsten Maße, den brasilianischen Handwerker oder Arbeiter minderwertig zu nennen. In São Paulo, in einem günstigeren Klima und eingepaßt in eine europäische Organisation, leistet er genau dasselbe, wie irgendein anderer Arbeiter der Welt, aber auch in Rio de Janeiro habe ich hunderte Male beobachtet, wie bis tief in die Nacht die kleinen Schuster und Schneider noch in ihren engen Werkstätten arbeiten, und redlich bewundert, wie auf den Baustellen bei einer infernalischen Sommerhitze, wo es für einen selbst schon eine Anstrengung bedeutet, einen Hut vom Boden aufzuheben, die schwere Arbeit des Lasttragens inmitten der prallen Sonne ohne Pause weitergeht. Es ist also keineswegs die Fähigkeit, die Willigkeit und das Tempo des einzelnen, das zurückbleibt, es fehlt nur im ganzen jene europäische oder nordamerikanische Ungeduld, mittels verdoppelten Einsatzes an Arbeit im Leben doppelt rasch vorwärtszukommen – oder »hochzukommen«, wie man im deutschen Jargon sagt – es ist also eher eine seelische Minderspannung, welche die Gesamtheitsdynamik vermindert. Ein großer Teil der caboclos, besonders in den tropischen Zonen, arbeitet nicht, um zu sparen und zurückzulegen, sondern einzig, um die nächsten paar Tage zu fristen; wie immer in den Ländern, wo die Welt schön ist, die Natur alles bietet, was man zum Leben braucht, die Früchte rings um das Haus einem gleichsam in die Hand wachsen und man für keinen schlimmen Winter vorzusorgen hat, stellt sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegen Gewinn und Sparsinn ein; man hat es nicht eilig mit dem Geld und auch nicht mit der Zeit. Warum durchaus heute dies liefern oder schaffen? Warum nicht morgen – amanhã, amanhã – warum in einer so paradiesischen Welt sich übereilen? Pünktlichkeit gilt hier höchstens insofern, als jede Vorlesung, jedes Konzert ziemlich pünktlich eine Viertel- oder halbe Stunde später anfängt als angesagt; stellt man seine Uhr richtig darauf ein, so versäumt man nichts und paßt sich selber an. Das Leben an sich ist hier wichtiger als die Zeit. Oft geschieht es – so berichtete man mir zu übereinstimmend, als daß ich es bezweifeln könnte – daß am Tage nach der Lohnauszahlung der Arbeiter einfach zwei, drei Tage ausbleibt. Er hat fleißig und flink die letzte Woche seine Pflicht getan und genug verdient, um in bescheidenster, allerbescheidenster Weise noch zwei Tage ohne Arbeit zu leben. Wozu dann diese zwei Tage noch arbeiten? Reich kann er von den paar Milreis ohnehin nicht werden, also lieber diese zwei oder drei Tage in stiller und behaglicher Weise genießen, und vielleicht muß man die Üppigkeit der Welt hier gesehen haben, um dies zu verstehen. Während in einem grauen und öden Flachland Arbeit die einzige Rettung des Menschen vor der Freudlosigkeit des Daseins ist, erweckt innerhalb einer so reichen, von Früchten überquellenden und durch Schönheit beglückenden Natur das Leben den Wunsch nicht so heftig und so wild wie bei uns, reich zu werden. Reichtum ist in der Vision des Brasilianers keineswegs mühsame Aufhäufung von gespartem Geld aus unzähligen Arbeitsstunden, nicht Resultat eines rasenden und nervenzerrüttenden Antriebs. Der Reichtum ist etwas, wovon man träumt; es soll vom Himmel kommen, und die Funktion dieses Himmels ersetzt in Brasilien die Lotterie. Das Lotto ist in Brasilien eine der wenigen sichtbaren Leidenschaften dieses äußerlich so stillen Volkes und die tagtägliche solidarische Hoffnung von Hunderttausenden und Millionen. Ununterbrochen dreht sich das Glücksrad, jeden Tag ist neue Ziehung. Wo man geht und wo man steht, in jedem Geschäft und auf der Straße, auf dem Schiff und in der Bahn werden einem Lose angeboten, und jeder Brasilianer kauft Lose mit dem, was er von seinem Wochenlohn gerade übrig hat, der Friseurgehilfe, der Schuhputzer, der Gepäckträger, der Angestellte und der Soldat. Um eine bestimmte Nachmittagsstunde sieht man dann wie eine schwarze Geschwulst dicke Ansammlungen von Menschen vor den Ziehungsstellen, in allen Häusern und Geschäften ist das Radio aufgedreht, die Erwartung einer ganzen Stadt oder vielmehr des ganzen Landes ist in diesem Augenblick auf eine einzige Ziffer und eine einzige Zahl gestellt. Die oberen Schichten wieder spielen in den Kasinos, und fast jeder Kurort, jedes vornehme Luxusetablissement hat das seine. Monte Carlo ist hier verdutzendfacht, und selten sieht man einen der Tische nicht umdrängt. Aber noch nicht genug an dem. Zu diesem aus Europa importierten Spiel, dem Lotto, dem Baccarat und dem Roulette, hat sich die Bevölkerung hier noch ein eigenes brasilianisches Nationalspiel erfunden, das bicho, das sogenannte Tierspiel, das zwar von der Regierung streng verboten ist, aber trotz aller Verbote auf das fleißigste gespielt wird.

 

Dieses Bicho, dieses Tierspiel, hat eine sonderbare Entstehungsgeschichte, die an sich schon deutlich zeigt, wie sehr diese Leidenschaft für das Hasard dem träumerischen und naiven Charakter dieses Volkes zutiefst entspricht. Der Direktor des Zoologischen Gartens in Rio de Janeiro hatte über schlechten Besuch zu klagen. So kam er, seine Landsleute genau kennend, auf die gloriose Idee, daß jeden Tag ein bestimmtes Tier seines zoologischen Gartens, einmal der Bär, einmal der Esel, einmal der Papagei, einmal der Elefant ausgelost wurde. Wessen Besucherkarte diesem Tier entsprach, dem wurde dann der zwanzig- oder fünfundzwanzigfache Eintrittspreis ausbezahlt. Sofort stellte sich der erwünschte Erfolg ein: der Tiergarten wurde durch Wochen von Menschen überfüllt, die eigentlich weniger kamen, um die Tiere sich anzusehen, als die Prämie zu gewinnen. Schließlich wurde es ihnen zu weit und zu mühsam, immer wieder in den Tiergarten zu gehen. So spielten sie privatim untereinander, welches Tier an diesem Tage ausgelost werden würde. Kleine Winkelbanken taten sich hinter Schanktischen und an den Straßenecken auf, welche den Einsatz aufnahmen und die Gewinne ausbezahlten. Als dann die Polizei das Spiel verbot, wurde es auf geheimnisvolle Weise dem jeweiligen Lottoresultat angegliedert, in dem jede Ziffer für einen Brasilianer ein bestimmtes Tier darstellte. Um der Polizei jeden Beweis zu entziehen, wird auf Treu und Glauben gespielt. Der Winkelbankier stellt keine Bescheinigung für seine Klienten aus, aber es ist kein einziger Fall bekannt, wo er seine Verpflichtung nicht verläßlich eingehalten hätte. Dieses Spiel hat, vielleicht gerade um des Verbotenen willen, alle Kreise erfaßt, jedes Kind in Rio weiß schon, kaum es in der Schule zählen gelernt hat, welche Zahl jedes Tier darstellt, und kann die ganze Liste besser heruntersagen als das Alphabet. Alle Autoritäten, alle Strafen haben sich als illusorisch erwiesen. Denn wozu träumt der Mensch des Nachts, wenn er dann nicht morgens seinen Traum in Ziffer und Zahl, in Tier- und Lottospiel umsetzen dürfte? Wie immer haben sich die Gesetze machtlos erwiesen gegen eine wirkliche Volksleidenschaft, und immer wieder wird der Brasilianer, was ihm an Raffgier fehlt, kompensieren durch diesen täglichen Traum von plötzlichem Reichwerden.