50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Es ist also keine Frage: wie aus der Erde selbst noch lange nicht alle potentiellen Werte, so hat auch die große Masse Brasiliens aus sich noch nicht hundertprozentig herausgeholt, was in ihr an Begabung, an Arbeitskraft, an aktiven Möglichkeiten steckt. Aber im ganzen gesehen ist in Anrechnung der klimatischen Hemmungen, der körperlichen Feinorganisiertheit die Leistung eine äußerst respektable, und man zögert nach den Erfahrungen der letzten Jahre, ein allfälliges Manko an Ungeduld und Impetus, ein Es-nicht-allzu-eilig-Haben mit dem Vorwärtskommen, einen Fehler zu nennen. Denn es ist eine Frage weit über das brasilianische Problem hinaus, ob das friedliche, sich selbst bescheidende Leben von Nationen und Individuen nicht wichtiger ist als der übersteigerte, überhitzte Dynamismus, der eine Nation gegen die andere zum Wettkampf und schließlich zum Kriege treibt, und ob bei dem hundertprozentigen Herausholen aller seiner dynamischen Kräfte nicht etwas im seelischen Erdreich des Menschen durch dieses ständige doping, diese fiebrige Überhitzung eintrocknet und verdorrt. Der kommerziellen Statistik, den trockenen Zahlen der Handelsbilanz steht hier etwas Unsichtbares als der wahre Gewinn gegenüber: eine unverstörte, unverstümmelte Humanität und ein friedliches Zufriedensein.

Diese erstaunliche Genügsamkeit der Existenzform charakterisiert die ganze untere Schicht dieses Landes, und es ist eine ungeheure Schicht, eine dunkle und unabsehbare Masse, die bisher statistisch in ihrer Zahl oder in ihren Lebensbedingungen nie vollkommen erfaßt werden konnte. Wer in großen Städten lebt, begegnet ihr kaum. Sie ist nicht gesammelt wie etwa die amerikanische, die europäische Masse der Besitzlosen in Fabriken oder Arbeitsstätten, und man kann sie eigentlich nicht Proletariat nennen, weil diesen versteckten und über das Land hin verstreuten Millionen jede Bindung untereinander fehlt. Die caboclos des Amazonas, dieseringueiros in den Wäldern, die vaqueiros auf den großen Weideflächen, die Indios in ihrem oft unzugänglichen Dickicht sind nirgends zu großen übersichtlichen Siedlungen vereinigt, und der Fremde (und auch der einheimische Großstädter) weiß eigentlich wenig von ihrer Existenz. Er weiß nur dunkel, daß irgendwo diese Millionen sind, und daß sowohl der Bedarf als auch das Einkommen dieser untersten, fast durchweg farbigen Masse sich an der untersten Grenze des Lebensniveaus knapp an dem Nullpunkt bewegt. Seit hunderten Jahren hat sich die Lebenshaltung dieser vielfach gemischten Abkömmlinge der Indios und Sklaven weder verändert noch verbessert, und wenig von den Leistungen und Fortschritten der Technik ihr Leben überhaupt erreicht. Die Wohnung schaffen sich die meisten selbst, eine Hütte oder ein kleines Haus aus Bambusrohr, mit Lehm beworfen und mit Schilf gedeckt, das sie sich mit eigener Hand irgendwo erbauen. Gläserne Fenster sind schon ein Luxus, ein Spiegel oder sonst ein Einrichtungsgegenstand außer Bett und Tisch in diesen Wohnhütten des inneren Landes eine Seltenheit. Für diese selbstgebaute Hütte bezahlt man allerdings keine Miete; außer in den Städten stellt Grund und Boden einen solchen non-valeur dar, daß niemand sich die Mühe nehmen würde, für ein paar Quadratmeter Entgelt zu verlangen. An Kleidung erfordert das Klima nicht mehr als eine Leinenhose, ein Hemd und einen Rock. Die Banane, der Mandioca, die Ananas, die Kokosnuß geben sich von Baum und Strauch umsonst, ein paar Hühner finden sich leicht dazu und allenfalls noch ein Schwein. Damit sind die Hauptbedürfnisse des Lebens gedeckt, und welche geregelte oder gelegentliche Tätigkeit dieser Arbeiter denn verrichtet, immer bleibt ihm noch etwas für die Zigarette und die anderen kleinen – allerdings winzig kleinen – Notwendigkeiten seiner Existenz. Daß die Lebensverhältnisse dieser Unterklasse, besonders im Norden, unserer Zeit nicht mehr entsprechen, daß bei der geradezu endemischen Armut ganzer Landstriche die Bevölkerung durch Unterernährung geschwächt und zu einer normalen Leistung nicht fähig ist, wissen die oberen Stellen längst selbst, und ununterbrochen werden Maßnahmen erwogen und angeordnet, dieser im wahrsten Sinne nackten Armut zu steuern. Aber in dieses von Bahnen und Straßen gleich abgelegene Hinterland, in die Wälder von Mato Grosso und Acre können die von der Regierung Getúlio Vargas festgelegten Minimallohnsätze als Norm noch nicht vordringen, Millionen Menschen sind weder im Sinne einer regulierten, organisierten, kontrollierten Arbeit, noch in dem der Zivilisation überhaupt erfaßt, und es wird Jahre und Jahrzehnte dauern, ehe sie dem nationalen Leben tätig eingeordnet werden können. Wie alle Kräfte seiner Natur, so hat Brasilien auch diese weite und dunkle Masse weder als Produzent noch als Konsument von Gütern bisher ausgewertet. Auch sie stellt eine der ungeheuren Reserven der Zukunft, eine der vielen noch nicht in Leistung umgesetzten potentiellen Energien dieses erstaunlichen Landes dar.

Über dieser im Dunkel verstreuten und amorphen Masse, die – großenteils analphabetisch und in ihrem Lebensstandard nahe dem absoluten Tiefpunkt – bisher wenig oder eigentlich gar nichts zur Kultur beitragen konnte, erhebt sich, stark aufstrebend und ständig in ihrem Einfluß wachsend, die kleinbürgerliche, die ländliche Mittelklasse: die Angestellten, die kleinen Unternehmer, die Geschäftsleute, die Handwerker, die vielfältigen Berufe der Städte und der Fazendas. In dieser durchaus rationalen Schicht prägt sich am deutlichsten die bestimmte und bewußte brasilianische Eigenheit in einem unverkennbar persönlichen Lebensstile aus – einem Lebensstil, der viel der alten kolonialen Tradition nicht nur bewußt aufrechterhält, sondern auch schon schöpferisch weiterbildet. Es ist nicht leicht, in ihre Existenz hineinzublicken, denn in der äußeren Haltung fehlt jede Ostentation, diese Klasse lebt völlig einfach und unauffällig und fast möchte ich sagen, lautlos, weil drei Viertel der Existenz sich ganz in unserem alten europäischen Stil im Familienkreis erfüllt. Ein eigenes Haus bildet – außer in Rio de Janeiro und São Paulo, wo in unseren Tagen die vielstöckigen Häuser eigentlich zum erstenmal den Typus der Mietswohnung eingeführt haben – die unauffällige Schale, die den eigentlichen Kern des Daseins, den Familienkreis umschließt. Es ist fast immer ein kleines Haus mit ein oder höchstens zwei Stockwerken und drei bis sechs Zimmern, das nach außen ohne Prätention und ohne Zierrat sich in die Gasse einordnet und innen mit so einfachem Mobiliar eingerichtet ist, daß für Feste und Gäste kein Raum bleibt. Außer bei drei- oder vierhundert »oberen« Familien wird man im ganzen Lande kein wertvolles Bild, kein Kunstwerk auch nur von mittlerem Rang, keine wertvollen Bücher finden, nichts von der breiten Bequemlichkeit des europäischen Kleinbürgers – immer wieder ist es in Brasilien die Genügsamkeit, die einem von neuem auffällt. Da das Haus ausschließlich für die Familie bestimmt ist, versucht es nicht mit falschem Prunk und kleinen Üppigkeiten zu blenden. Mit Ausnahme des Radios und des elektrischen Lichts und allenfalls eines Badezimmers ist heute seine Einteilung nicht anders als in der Kolonialzeit der Vizekönige und auch die Lebensform in diesem Hause; in der Sitte hat manches Patriarchalische aus dem anderen Jahrhundert, das bei uns längst – man bedauert es fast – historisch geworden ist, sich noch in voller Geltung erhalten: vor allem widerstrebt hier bewußt ein traditioneller Wille der Auflockerung des Familienlebens und des väterlichen Autoritätsprinzips. Wie in den alten Provinzen Nordamerikas wirkt auch hier die strengere Auffassung der Kolonialzeit unbewußt nach; man begegnet hier noch in voller Geltung, was unsere eigenen Väter in Europa uns von der Welt ihrer Väter erzählten. Die Familie ist hier noch der Sinn des Lebens und das eigentliche Kraftzentrum, von dem alles ausgeht und zu dem alles zurückführt. Man lebt und man hält zusammen; wochentags im engeren Kreise, versammelt man sonntags den weiteren Kreis der Verwandten; gemeinsam wird der Beruf, das Studium des einzelnen bestimmt. In der Familie wiederum ist der Vater, der Mann noch unbeschränkter Herr über die Seinen. Er hat alle Rechte und Vorrechte, kann Gehorsam als selbstverständlich voraussetzen, und es ist besonders in den ländlichen Kreisen noch wie einst bei uns in früheren Jahrhunderten der Brauch, daß die Kinder dem Vater die Hand küssen als Zeichen des Respekts. Die männliche Superiorität und Autorität sind noch unbestritten und dem Manne vieles verstattet, was der Frau versagt ist, die, wenn auch nicht mehr so streng gehalten wie noch vor wenigen Jahrzehnten, im wesentlichen auf den inneren Wirkungskreis im Haus beschränkt ist. Die bürgerliche Frau betritt hier fast nie allein die Straße, und selbst von einer Freundin begleitet wäre es unzulässig, wenn sie nach Einbruch der Dämmerung ohne ihren Gatten außer dem Hause gesehen würde. Darum sind abends, ähnlich wie in Spanien oder Italien, die Städte eigentlich nurmehr Männerstädte; die Männer sind es, die die Cafés überfüllen, auf den Boulevards promenieren, und es wäre selbst in den Großstädten kaum denkbar, daß Frauen oder Mädchen abends ohne Begleitung des Vaters oder Bruders in ein Kino gingen. Emanzipationsbestrebungen oder Frauenrechtlerei haben hier noch keinen Boden gefunden, selbst die berufstätigen Frauen, die hier noch in verschwindender Minorität gegen die an Haus und Familie gebundenen stehen, bewahren die traditionelle Zurückhaltung. Noch eingeschränkter ist selbstverständlich die Stellung der jungen Mädchen. Freundschaftlicher Verkehr mit jungen Leuten auch naivster Art, sofern er nicht deutlich von Anfang an sich mit Heiratsabsichten verbindet, ist selbst heute noch nicht üblich, und das Wort flirt läßt sich nicht ins Brasilianische übersetzen. Im allgemeinen heiratet man, um alle Komplikationen zu vermeiden, außerordentlich früh, die Mädchen aus den bürgerlichen Kreisen meist mit siebzehn, mit achtzehn Jahren, wenn nicht schon vordem. Baldiger sowie reichlicher Kindersegen ist hier noch erwünscht und nicht gefürchtet. Frau, Haus, Familie sind hier noch innig verbunden, außer bei wohltätigen Veranstaltungen treten die Frauen selbst bei festlichen oder repräsentativen Anlässen niemals in den Vordergrund und – mit Ausnahme der Geliebten Dom Pedros I., der Marquise von Santos – haben sie im politischen Leben niemals eine Rolle gespielt. Amerikaner und Europäer mögen dies hochmütig als rückständig empfinden, aber diese unzähligen Familien, die still und ohne jede Vordringlichkeit in ihren kleinen Häusern zufrieden leben, bilden durch ihre gesunde, normale Existenzform das eigentliche Kraftreservoir der Nation. Aus dieser mittleren Schicht, die trotz ihrer konservativen Lebenshaltung bildungseifrig und fortschrittsfreundlich gesinnt ist; aus diesem festen und gesunden Humus stammt heute jene Generation, die die Führung des Landes mit den alten und aristokratischen Familien zu teilen beginnt, und in gewissem Sinne ist Vargas, der selbst vom Lande und aus dem Mittelstand stammt, der sinnfälligste Ausdruck dieser neuen, stark und energisch aufstrebenden und doch gleichzeitig bewußt traditionellen Generation.

 

Über dieser, das ganze Land schon durchdringenden und sich ständig in ihrem Einfluß steigernden Klasse, die das neue Brasilien repräsentiert, steht – oder besser gesagt, besteht unentwegt die alte und bedeutend kleinere, die man die aristokratische nennen möchte, wenn in diesem neuen und durchaus demokratischen Lande dieses Wort nicht irreführend wirken würde. Denn, teilweise noch aus der Kolonialzeit stammend, teilweise erst mit König João aus Portugal herübergekommen, hatten diese vielfach untereinander verschwägerten – manchmal geadelten, manchmal ungeadelten – Familien nicht eigentlich Zeit, zu einer aristokratischen Kaste zu erstarren; ihre Gemeinsamkeit bestand einzig in der Lebenshaltung und der schon seit Generationen hochentwickelten geistigen Kultur. Vielgereist in Europa oder von europäischen Lehrern und Gouvernanten herangebildet, zum großen Teil reich begütert oder in hohen Regierungsfunktionen, haben sie seit dem Beginn des ersten Kaiserreichs den geistigen Zusammenhang mit Europa ständig bewahrt und ihren Ehrgeiz daran gesetzt, Brasilien vor der Welt im Sinne kultivierter und fortschrittlicher Wesensart zu repräsentieren. Aus diesen Kreisen stammt die Generation jener großen Staatsmänner wie Rio Branco, Rui Barbosa, Joaquim Nabuco, die auf das glücklichste verstanden, innerhalb der einzigen Monarchie Amerikas den nordamerikanisch-demokratischen Idealismus mit dem europäischen Liberalismus zu verbinden und jene Methode der Konzilianz, der Schiedsgerichte und Verträge, die für die brasilianische Politik so ehrenvoll ist, auf eine stille und beharrliche Weise durchzusetzen.

Noch heute ist die Diplomatie fast ausschließlich diesen Kreisen vorbehalten, während der Verwaltungsdienst und das Militär schon mehr in die Hände der jungen, aufsteigenden Bürgerklasse überzugehen beginnen. Aber ihr kultureller Einfluß auf das allgemeine Repräsentationsniveau ist noch immer wohltätig fühlbar. Auch in ihrer Lebenshaltung fehlt jede Ostentation. In schönen Häusern mit alten, wundervollen Gärten wohnend, die sich aber keineswegs als Paläste markieren, meist in den früher exklusiven Teilen der Stadt, in Tijuca und Laranjeiras oder der Rua Paissandú halten sie in der Wohnkultur am Traditionellen fest, Sammler von allen historischen Kunstwerten ihres Landes, und stellen in ihrer gleichzeitigen nationalen Gebundenheit und geistigen Universalität einen Typus höchster Zivilisation vor, wie er in den anderen südamerikanischen Ländern fast völlig fehlt, und der stark an den österreichischen erinnert in seiner Kunstfreundlichkeit und geistigen Liberalität. Noch sind diese alten Familien – alt meint hier schon hundert Jahre – in ihrer kulturellen Vorherrschaft nicht verdrängt durch eine neue Aristokratie des Reichtums, weil sie großenteils selbst vermögend sind und hier die Unterschiede viel unmerklicher als bei uns ineinanderfließen. Das Brasilianische kennt nicht das Exklusive – dies seine eigentliche Kraft – und wie in der rassenmäßigen, so ist auch in der sozialen Schichtung der Assimilationsprozeß ein ständiger. Alle Tradition, alle Vergangenheit ist hier zu kurzfristig, als daß sie sich nicht willig und leicht in die neuen und erst werdenden Formen des Brasilianischen auflöste.

Auf diesen beiden Gruppen ruht, da die unterste Masse durch Analphabetismus und räumliche Isolierung an der Herausformung einer typisch brasilianischen Kultur noch nicht teilnimmt, sowohl im produktiven als auch im aufnehmenden Sinne der ganze individuelle Anteil Brasiliens an der Weltkultur. Um diese spezifische Leistung gerecht einzuschätzen, darf nicht vergessen werden, daß das ganze geistige Leben dieser Nation kaum viel mehr als hundert Jahre umfaßt und daß in den dreihundert kolonialen Jahren vordem jede Form des kulturellen Auftriebs systematisch unterdrückt worden war. Bis 1800 ist in diesem Land, das keine Zeitung und kein literarisches Werk drucken darf, das Buch eine Kostbarkeit, eine Rarität und außerdem meist eine Überflüssigkeit, denn man schätzt eher zu hoch als zu tief, wenn man annimmt, daß um 1800 unter hundert Menschen neunundneunzig Analphabeten einem einzigen gegenüberstanden, der lesen und schreiben konnte. Zuerst waren es noch die Jesuiten, die in ihren Colégios den Unterricht besorgten, bei dem sie selbstverständlich die Unterweisung in der Religion jeder Form der universellen und zeitgenössischen Bildung voranstellten. Mit ihrer Austreibung 1765 entsteht ein völliges Vakuum im öffentlichen Unterricht. Weder Staat noch Stadt denken daran, Schulen einzurichten. Eine besondere Steuer auf Lebensmittel und Getränke, die 1772 der Marquis de Pombal anordnet, um von diesem Ertrage Elementarschulen zu eröffnen, bleibt bloßes papiernes Dekret. Mit dem flüchtenden portugiesischen Hofe kommt 1808 die erste wirkliche Bibliothek ins Land, und um nach außen hin seiner Residenzstadt einen gewissen kulturellen Glanz zu geben, läßt der König Gelehrte herüberkommen und gründet Akademien und eine Kunstschule. Aber damit ist nicht viel mehr als eine dünngestrichene Fassade geschaffen; noch immer geschieht nichts Großzügiges, um systematisch die großen Massen in das doch recht bescheidene Geheimnis des Lesens, Schreibens und Rechnens einzuführen. Erst unter dem Kaiserreich beginnt man 1823 herumzuprojektieren, daß cada villa ou cidade tenha uma escola pública, cada província um liceu, e que se estabeleçam universidades nos mais apropriados locais. Aber es dauert noch vier Jahre, bis 1827 gesetzlich wenigstens die Minimalforderung festgelegt wird, in jeder größeren Ortschaft müsse eine Elementarschule vorhanden sein. Damit ist endlich der prinzipielle Ansatz zu einem Fortschritt gemacht, der jedoch nur im Schneckentempo fortschreitet. 1872 errechnet man, daß bei einer Bevölkerung von über zehn Millionen im ganzen nur 139 000 Kinder die Schule besuchen, und selbst in unseren Tagen, 1938, sah sich die Regierung noch vor die Notwendigkeit gestellt, ein eigenes Initiativkommittee zu gründen zwecks der endgültigen Ausrottung des Analphabetismus.

Der ersehnten Blüte einer eigenen Dichtung und Literatur fehlte also jahrhundertelang der richtige Humus, in dem sie zu wirklichem Wachstum gelangen konnte: das einheimische Publikum. Verse zu schreiben, Bücher zu verfassen bedeutete für einen Brasilianer bis knapp in unsere Zeit einen materiell aussichtslosen und wirklich heroischen Opferdienst an das dichterische Ideal, denn sie alle schufen und sprachen, sofern sie nicht dem Journalismus oder der Politik sich dienstbar machten, völlig ins Leere. Die großen Massen vermochten ihre Bücher nicht zu lesen, weil sie überhaupt nicht lesen konnten, und die obere dünne intellektuelle Schicht, die aristokratische, hielt es für wenig wichtig, ein brasilianisches Buch zu bestellen, und bezog ihre Lektüre an Romanen und Versen fast ausschließlich aus Paris. Erst in den letzten Jahrzehnten ist durch den Zustrom kulturgewohnter und darum kulturbedürftiger Elemente, durch die enorme Ausweitung der Bildung in der aufsteigenden Mittelklasse hier Wandel geschaffen worden, und mit der ganzen Ungeduld, wie sie nur lang zurückgehaltene Nationen haben, dringt die brasilianische Literatur in die Weltliteratur vor. Das Interesse an geistiger Produktion ist hier erstaunlich. Buchladen entsteht neben Buchladen, in Druck und Ausstattung verbessert sich die Herstellung ständig, belletristische und auch wissenschaftliche Werke können schon Auflageziffern erreichen, die vor einem Jahrzehnt noch als traumhaft gegolten, und schon beginnt die brasilianische Produktion die portugiesische zu überflügeln. Mehr als bei uns, wo der Sport und die Politik in gleich verhängnisvoller Weise die Aufmerksamkeit der Jugend ablenkt, steht die geistige und künstlerische Produktion im Mittelpunkt des Interesses der ganzen Nation.

Denn der Brasilianer ist an sich durchaus geistig interessiert. Beweglichen Intellekts, rasch in der Auffassung und von Natur aus gesprächig, hat er als Portugiesenenkel die natürliche Freude an schönen sprachlichen Formen, die sich hier in Brief und Umgang in besonderen Höflichkeiten bewegen und im Rednerischen gern zum Überschwang neigen. Er liebt zu lesen; selten sieht man den Arbeiter, den Straßenbahnschaffner in einer freien Minute ohne eine Zeitung in der Hand, selten einen jungen Studenten ohne ein Buch. Dieser ganzen neuen Generation ist Schrift und Literatur nicht wie dem Europäer schon eine jahrhundertealte Selbstverständlichkeit, ein überliefertes Erbe, sondern etwas selbst Errungenes, und sie finden noch einen Stolz und eine Freude darin, sich selbst und die ganze Weltliteratur zu entdecken. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, daß in diesen südamerikanischen Ländern mehr als in allen andern noch eine gewisse Ehrfurcht vor der geistigen Leistung besteht, und daß das zeitgenössische – auch dank der Billigkeit der Ausgaben – rascher und weiter sich in das Volk verbreitet wie bei den traditionsgebundenen Nationen. Durch die eingeborene Neigung des Brasilianers zu zarteren Formen hat die Poesie lange den Vorrang in der nationalen Literatur gehabt; mit den epischen Gedichten »Uruguai« und »Marília« beginnt die brasilianische Kultur des Verses, die wirklich hervorragende Persönlichkeiten zeitigt. Ein Lyriker kann hier noch wirklich populär werden. In allen Parks findet man wie im Parc Monceau und Luxembourg in Paris die Statuen der nationalen Dichter aufgestellt, und sogar einem lebenden, Catulo da Paixão Cearense, hat die Bevölkerung – oder vielmehr das wirkliche Volk durch gemeinsame Sammlung von kleinen Silbermünzen – diese rührende Huldigung erwiesen. Noch ehrt, als eines der letzten, dieses Land das Gedicht, und die brasilianische Akademie versammelt heute eine stattliche Anzahl von Poeten, die der Sprache neue und persönliche Nuancen gegeben.

Länger dauert die Emanzipation von den europäischen Vorbildern in der Prosa, im Roman und in der Novelle. Selbst die Entdeckung des »guten Indios« in dem »Guarani« von José de Alencar war eigentlich nur ein Rückimport ausländischer Vorbilder wie Chateaubriands »Atala« oder Fenimore Coopers »Lederstrumpf«; bloß die äußere Thematik in seinen Romanen, nur ihr historisches Kolorit ist brasilianisch, nicht aber die seelische Einstellung; die künstlerische Atmosphäre.

Erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts tritt mit zwei wahrhaft repräsentativen Gestalten, mit Machado de Assis und Euclides da Cunha Brasilien in die Aula der Weltliteratur ein. Machado de Assis bedeutet für Brasilien, was Dickens für England und Alphonse Daudet für Frankreich. Er hat die Fähigkeit, lebendige Typen, die sein Land, sein Volk charakterisieren, lebendig zu erfassen, ist ein geborener Erzähler, und die Mischung von leisem Humor und überlegener Skepsis gibt jedem seiner Romane einen besonderen Reiz. Mit seinem »Dom Casmurro«, dem populärsten seiner Meisterwerke, hat er eine Figur geschaffen, die für sein Land so unsterblich ist wie David Copperfield für England und Tartarin de Tarascon für Frankreich; dank der durchsichtigen Sauberkeit seiner Prosa, seinem klaren und menschlichen Blick stellt er sich den besten europäischen Erzählern seiner Zeit zur Seite.

Im Gegensatz zu Machado de Assis war Euclides da Cunha kein Schriftsteller von Profession; sein großes nationales Epos, die »Sertões«, ist gleichsam durch einen Zufall entstanden. Euclides da Cunha, seinem Beruf nach Ingenieur, hatte als Vertreter der Zeitung »Estado de São Paulo« eine der militärischen Expeditionen gegen die Canudos, eine aufständische Sekte in dem wilden und düsteren Gebiet des Nordens begleitet. Der Bericht über die Expedition, mit prachtvoller dramatischer Kraft gestaltet, wuchs sich in Buchform zu einer umfassenden psychologischen Darstellung der brasilianischen Erde, des Volkes, des Landes aus, wie sie seitdem mit ähnlichem Tiefblick und soziologischer Weitsicht nie mehr versucht und nie mehr erreicht worden ist. Vergleichbar in der Weltliteratur noch am ehesten den »Sieben Säulen der Weisheit«, in denen Lawrence den Kampf in der Wüste schildert, ist dieses im Ausland wenig bekannte großartige Epos bestimmt, unzählige heute berühmte Bücher zu überdauern durch die dramatische Großartigkeit seiner Darstellung, seinen Reichtum an geistigen Erkenntnissen und die wunderbare Humanität, die das Werk erfüllt. Wenn die brasilianische Literatur heute in ihren Romanschriftstellern und Dichtern an Subtilität, an sprachlicher Nuancierung im einzelnen ungeheure Fortschritte gemacht hat, so hat sie doch mit keinem Werke mehr diesen überragenden Gipfel erreicht.

 

Schwach dagegen ist vorläufig noch die dramatische Kunst entwickelt. Hier ist kein Name eines Dramas mir als wirklich bemerkenswert genannt worden, und auch im öffentlichen und geselligen Leben spielt die theatralische Kunst kaum eine wesentliche Rolle. An sich ist diese Tatsache nicht verwunderlich, denn das Theater als typisches Produkt einer einheitlich organisierten Gesellschaft ist eine Kunstform, die ausschließlich innerhalb einer bestimmten Schicht der Gesellschaft in Erscheinung treten kann, und diese Form der Gesellschaft hat in Brasilien nicht Zeit gehabt, sich zu entwickeln. Brasilien hat kein elisabethanisches Zeitalter durchlebt, keinen Hof Ludwig XIV., keine breite bürgerliche theaterfanatische Masse gehabt wie Spanien oder Österreich. Alle theatralische Produktion beruhte bis tief in das Kaiserreich ausschließlich auf Import – und zwar infolge der Riesendistanz auf dem Import minderer Truppen und minderer Ware. Ein richtiges nationales Theater war selbst unter Dom Pedro nicht richtig versucht und gefördert worden; die ersten Truppen, die von Europa ins Land kamen, spielten sogar in spanischer und nicht in portugiesischer Sprache. Heute, da in den Millionenstädten schon ein aufnahmefähiges Publikum bestünde, ist es durch den alles überflutenden Einfluß des Kinos vielleicht schon zu spät, hier einen Anfang zu machen.

Ähnlich liegen die Verhältnisse in der Musik. Auch hier macht sich das Fehlen einer jahrhundertealten, tief in alle Schichten eingedrungenen Tradition fühlbar. Es fehlen die großen herangebildeten Chöre, so daß gerade die monumentalen Werke der Musik wie die Matthäuspassion, die großen Requiems, die neunte Symphonie von Beethoven, die Händelschen Oratorien dem großen Publikum soviel wie unbekannt sind. Die Oper in Rio de Janeiro und São Paulo baut ihr Repertoire noch wie vor fünfzig Jahren auf die italienische Oper Verdis und bestenfalls Puccinis auf. Ein Werk wie der »Tristan«, den Kaiser Dom Pedro vor fast hundert Jahren für Rio de Janeiro zur Uraufführung haben wollte, ist vielleicht zwei- oder dreimal seitdem gespielt worden und die wirklich neuzeitliche Musik soviel wie unbekannt. Erst jetzt hat man damit begonnen, symphonische Orchester aufzubauen, aber noch immer ist es die leichte, die gefällige Musik, die hier im Publikum vorwaltet.

Um so erstaunlicher deshalb, daß dieses Land schon zu einer Zeit, wo es wirklichen Heroismus und einen geradezu verzweifelten Lernwillen erforderte, sich heranzubilden, einen Musiker hervorgebracht hat, dem ein rauschender Welterfolg beschieden war, Carlos Gomes. In einem kleinen Städtchen im Staate von São Paulo 1836 geboren, tritt er schon mit zehn Jahren in eine Musikkapelle ein und bildet sich nun ohne jeden richtigen Lehrer in einem Lande, wo Partitur und wirkliche Opernvorstellungen kaum für ihn erreichbar sind, so willenskräftig aus, daß er bereits mit vierundzwanzig Jahren eine Oper, »A Noite do Castelo«, vorlegen kann. 1861 in Rio de Janeiro aufgeführt, wird sie ebenso wie seine nächste ein großer nationaler Erfolg. Nun nimmt sich der Kaiser Dom Pedro seiner an und sendet ihn zur weiteren Ausbildung nach Europa. In Italien fällt ihm der Roman seines Landsmanns, die »Guarani« von José de Alencar, in italienischer Übersetzung in die Hand, und sofort stürzt er damit zum Librettisten, dies sei das Werk, mit dem er als Brasilianer Brasilien vor der Welt darstellen wolle. 1870 wird die Oper in der Scala aufgeführt und ein sensationeller Erfolg. Der Altmeister Verdi erklärt, einen würdigen Nachfolger gefunden zu haben, und noch heute gelangen die »Guarani« – die beste Oper Meyerbeers, wie sie ein Musikhistoriker genannt hat – ab und zu auf italienischen Bühnen zur Aufführung. Ein typisches Musterexemplar jener großen Oper, die dem Auge, dem Ohr alles reichlich und überreichlich gibt, nur der Seele nicht genug, melodiös in ihrem lyrischen Teil, macht das Werk heute noch den Erfolg und die großen Hoffnungen, die man an den weiteren Aufstieg Carlos Gomes' knüpfte, verständlich, aber gerade weil sie so trefflich in diese romantische und pompöse Meyerbeer-Zeit paßten, sind die »Guarani« heute schon mehr ein musikhistorisches Dokument als lebendige Musik. Den typisch brasilianischen Beitrag zur Weltmusik hat bedeutend mehr als der italianisierende Carlos Gomes uns Villa Lobos gegeben. Ein starker, eigenwilliger Rhythmiker, der jedem seiner Werke eine bei anderen Komponisten nicht zu findende Farbe gibt, die in ihrer Grelle und dann wieder in ihrer geheimnisvollen Schwermut geheimnisvoll die Landschaft und die brasilianische Seele spiegeln.

Einen ähnlich typisch brasilianischen Ausdruck des Volkshaften erwartet man sich in der Malerei von Portinari, dem es als erstem brasilianischen Maler gelungen ist, sich eine internationale Stellung in wenigen Jahren zu erobern. Aber wieviel Farbe, wieviel Vielfalt, welche ungeheuren glücklichen Aufgaben erwarten in dieser großartigen Landschaft noch den Mann, der ähnlich wie Gauguin für die Südsee, Segantini für die Schweiz die grandiose Natur dieses Landes der Welt vertraut machen wollte. Welche Möglichkeiten eröffnen sich hier der Architektur in diesen mit fiebriger Geschwindigkeit wachsenden Städten, die immer stärker den Willen offenbaren, nicht mehr nach europäischem Schema und nicht auch nach dem nordamerikanischen, sondern in einer persönlichen Form zu gestalten! Viel wird in diesem Sinne hier versucht und einiges Wesentliche ist schon erreicht worden.

In der Wissenschaft – einer Materie, wo mir persönlich Überblick und Wertung durch mangelnde Fachkenntnis versagt ist – haben die letzten Jahre einen erstaunlichen Fortschritt in der historischen und ökonomischen Selbstdarstellung des Landes gebracht. Fast alle früheren Dokumente und Darstellungen Brasiliens waren von Ausländern geschrieben worden. Im sechzehnten Jahrhundert ist es der Franzose Thévet, der Deutsche Hans Staden, im siebzehnten der Holländer Berleus, im achtzehnten Jahrhundert der Italiener Antonil und im neunzehnten Jahrhundert der Engländer Southey, der Deutsche Humboldt, der Franzose Debret und der von Deutschen abstammende Varnhagen, denen man die eigentlich klassischen Darstellungen des Landes dankt. Aber in den letzten Jahrzehnten sind es die Brasilianer, die sich der Aufgabe angenommen haben, ihr Land und seine Geschichte auf Grund sorgfältigster Quellenstudien verständlich zu machen, und zusammen mit den sehr gründlichen Publikationen der Regierung und der einzelnen Staaten umfaßt diese Literatur schon allein eine ganze Bibliothek. In der Philosophie ist als merkwürdigstes Phänomen zu verzeichnen, daß der Positivismus Auguste Comtes hier eine Schule und sogar eine Kirche gegründet hat; ein gut Teil der brasilianischen Staatsverfassung ist von den Formeln und Anschauungen des französischen Philosophen durchsetzt, der hier ungleich mehr als in seinem Heimatland Einfluß auf das reale Leben genommen hat. Auf dem Gebiet der Technik wiederum hat vor allem der Aeronaut Santos Dumont unsterblichen Ruhm gewonnen durch seinen ersten Flug um den Eiffelturm und seine Konstruktionen von Aeroplanen, die in ihrer Kühnheit und Tatkraft den entscheidenden Anstoß zum Erfolg gaben. Ist der Prioritätsstreit heute auch noch immer im Gang, ob er es war oder die Brüder Wright, die zum erstenmal den Flug des Menschen in einem Flugzeug verwirklichten, das schwerer war als die Luft, so meint diese Frage eigentlich nur, ob Santos Dumont an zweifellos erster oder schlimmstenfalls bloß an zweiterster Stelle in dieser hervorragendsten undheroischsten Tat unserer neuen Welt steht, und dies ist genug, um seinen Namen für alle Zeiten in die Ehrentafel der Geschichte einzugraben. Sein Leben ist in sich selbst ein großartiges episches Gedicht des Wagemuts und der Selbstverleugnung, und unvergeßlich wie seine technische Tat werden die Taten seiner Menschlichkeit sein, jene beiden Briefe, die er verzweifelt an den Völkerbund richtete, damit dieser ein für allemal die Verwendung des Flugzeugs zu Bombenabwurf und anderen kriegerischen Grausamkeiten verbiete. Mit diesen beiden Briefen allein, welche die humanitäre Gesinnung seines Vaterlands vor der ganzen Welt proklamierten und verteidigten, hat sich seine Gestalt für alle Zeiten gegen jedes undankbare Vergessen geschützt.