50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
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Das war der Traum! Er wollte rufen: »Thut Binia nichts! Ich habe Seppi Blatter nicht hinaufgeschickt.« Da erwachte er schweißtriefend in dem Augenblick, als der Postbote, der alle Woche dreimal in der Morgenfrühe mit den Postsachen nach Hospel ritt und sie am Abend von dort zurückbrachte, an die noch geschlossene Hausthür pochte.

Nur ein einfältiges, widerwärtiges Träumlein! Der Presi war nicht abergläubisch, als nun aber Binia in der zwingenden Anmut ihrer sechzehn Jahre, frisch, mit leuchtenden Kinderaugen unter dunklen Wimpern, einen warmen »Guten Tag, Vater!« auf den Lippen, in die Stube schwebte, da riß er sie stürmisch in seine Arme, und als er unter der knospenden Mädchenfülle das rasche Pochen ihres heißen Herzens fühlte, durchrieselte ihn die Angst.

»Binia, lieber, lieber Vogel, versprich es mir, daß du nie, nie mit Josi Blatter zusammenhältst, in deinem ganzen Leben nie!«

Sie brach an seiner Brust in Thränen aus: »O Vater, ich hab' es dir schon lange bekennen wollen, Josi Blatter ist ein ehrbarer Bub. Er hat das, was Ihr meint, gar nicht gesagt. Gewiß Gott im Himmel nicht!«

Er stutzte – er starrte sie an – er riß sie mit der ganzen Gewalt seines Armes von seiner Brust hinweg, daß die leichte Gestalt an die Wand taumelte.

Und entsetzt kreischte er: »Schon so weit bist du, Seppi Blatter, daß mein Kind für deinen Buben lügt?!«

Kapitel Acht

Das Haus des Garden, das gleich am Eingang des Dorfes, etwas abseits vom Thalweg, gegen den Glottergrat hinausschaut, ist nächst dem Bären das stattlichste von St. Peter. Außer einer Grundmauer aber, auf der die unterste Reihe kleiner heller Fenster ruht, ist kein Stein an dem Bau. Ein ländliches, sonnenverbranntes Holzhaus, auf einem Brett über den Fenstern ein halb Dutzend goldener Immenstöcke, dann wieder Fenster im braunen, von der Sonne zerrissenen Gebälk und gleich darüber das steinbeschwerte, an den Enden durch Sparren fest aufs Gebälk geklammerte Schindeldach. So steht es da. Das glühende Rot der Nelkenbüsche wächst aus Töpfchen und Kistchen vor seinen Fenstern, verblaßte Malereien schmücken seine Holzfelder, zwei gekreuzte Schwerter, das Hauszeichen der Zuensteinen, Winkel, Triangeln, Kreuze und Bundhaken, die den Aelplern in einer Art Geheimschrift die Gerechtsame des Hauses an Weide und Wasser verurkunden, auch ineinandergeschobene Dreiecke, Schlüssel und Feuerschlangen, die der Bauherr vor hundert Jahren mit schlichter Kunst hingemalt hat, damit keine bösen Geister den Eintritt in die Heimstätte finden.

Die Sorge, die nicht nach Schutzbildern fragt, ist aber unvermutet ins Haus getreten. Vor ein paar Wochen hat bei Ausbesserungsarbeiten an den heligen Wassern ein fallendes faules Holzstück den Garden am Kopf leicht verletzt, und vor wenigen Tagen ist aus der Wunde, die schon geheilt schien, die Gesichtsrose entstanden. Mit einem unförmlich verschwollenen Kopf, ein Tuch um die Stirne geschlagen, mit rot unterlaufenen Augen, wälzt sich der arme Mann und stöhnt: »Grad jetzt bei der vielen Arbeit – und grad jetzt, wo Fränzi gestorben ist! Wohl, wohl, die werden im Gemeinderat schön mit den Kindern wirtschaften. Nicht einmal die letzte Ehre habe ich ihr geben können.«

»Alter, fahre doch nicht so im Bett hin und her,« jammert die Gardin, die hochgewachsene Frau mit dem verschwiegenen herben Gesicht, und frischt das Tuch mit Wasser an. »Es sind ja noch vier Gemeinderäte. Die können die Geschäfte auch einmal besorgen.«

»Das macht alles der Presi – und der hat immer einen Zahn auf Fränzi und ihre Haushaltung gehabt.«

– – Einen Augenblick schlummert der Garde, dann fängt er wieder an: »Du, Frau, wie ist Fränzi eigentlich gestorben?«

»Wie Vroni erzählt hat, die fast nicht hat reden können vor Schluchzen, leicht und schön.«

»Die Frau – sie war ja erst ein bißchen über vierzig – ist leicht gestorben, sagst du – leicht von ihren Kindern weg?« stöhnt der Garde verwundert.

»Ich meine, wie einmal das Schlimmste überwunden gewesen ist. Am Morgen, bevor sie gestorben ist, hat sie zu den Kindern gesagt: ›Mich hat der Vater beim Namen gerufen, jetzt glaube ich auf meine Seligkeit, daß ich sterben muß.‹ Eine Predigt hat sie ihnen gehalten, da steht ihr die Sprache still, Josi holt den Pfarrer, sie nimmt die Sakramente, sie schaut ruhig vor sich hin und ist wie ein Licht erlöscht.«

Einen Augenblick herrscht Ruhe. Da schlägt die Uhr im Arvengehäuse mit langsamen hellen Tönen Fünf.

»Schlafe jetzt, Alter,« mahnt die Gardin, »denke, wie's Fränzi gegangen ist, sie hat sich im vorigen Winter bei der Armseelenwacht erkältet, hat nicht dazu gesehen, da ist der große Husten gekommen, der sie gelegt hat.«

Der Garde aber ächzt und stöhnt lauter. »Eben jetzt beginnt im Bären die Gemeinderatssitzung, die über das Los Josis und Vronis entscheidet. Du, Frau, Vroni wollen wir zu uns nehmen. Sie hat's um Eusebi verdient. – Die ganze Schule hat sie mit ihm nachgeholt. Und sie ist mein Patenkind.«

Die Gardin, die stolze Frau kämpft innerlich, sie will nicht Ja sagen, aber den schwerkranken Mann noch weniger mit einem Nein aufregen.

Zum Glück schlummert er, während er auf Antwort wartet, ein. – –

Nachdem Fränzi gestorben war, schickte der Presi den Schreiber als Stellvertreter des erkrankten Garden in die Wohnung der Waisen. Dieser verrichtete bei der toten Fränzi, die in den abgemagerten Händen einen Blumenstrauß hielt, ein Gebet, gab den Kindern ein paar kühle Trostworte und sagte ihnen, sie möchten am Tag nach dem Leichenbegängnis abends fünf Uhr im oberen Bärenstübchen erscheinen, damit der Gemeinderat mit ihnen über ihre Zukunft rede. Dann verständigte der Presi die Gemeinderäte, daß sie zu der anberaumten Sitzung erscheinen. Es kam aber, wie er ausgerechnet hatte. Die Gardin schickte Bericht, ihr Mann liege tief im Bett, man dürfe mit ihm kaum von der Angelegenheit sprechen. Der Armenpfleger war mit einem Trupp Vieh ins Welschland hinübergegangen und kam erst in vier oder fünf Tagen zurück. Der Gutsverwalter, der eben das Wasser in seinen Weinbergen zu Hospel besorgte, erklärte sich im vornherein mit den Beschlüssen, die gefaßt würden, einverstanden, und der Kirchenvogt meldete, die Stunde sei für ihn so ungeschickt, daß er vielleicht erst etwas später kommen könne. Die anderen sollen nur anfangen mit den Bauern zu verhandeln, die Lust hätten, Josi und Vroni in ihren Dienst zu nehmen.

Im Stübchen saßen um fünf Uhr abends nur der Presi und der Schreiber, ein kleiner, alter, kahlköpfiger Mann mit großer Hornbrille, ausgemergeltem knochigem Gesicht und spindeldürren langen Fingern.

»He, Schreiber, ist das wieder eine Sitzung. Kein Gemeinderat ist da!«

»Fränzi hätte aber auch nicht zu einer ungeschickteren Zeit sterben können,« erwiderte der Schreiber pfiffig, »jetzt, wo niemand weiß, wie der Arbeit wehren.«

»Ja, meint Ihr, die Geschichte komme mir gelegen, so grad, wo die ersten Gäste eintreffen!«

»Ihr nehmt's eben ernst mit dem Amt, Presi!«

Der Geschmeichelte murrte: »Ja, und des Teufels Dank habe ich auch. Ich mach's, und wenn die Sache gethan ist, geht das Schimpfen los und ganz Sankt Peter brüllt, ich sei ein gewaltthätiger und eigenmächtiger Sarras.« Beide lachten, dann fragte der Schreiber: »Hätte man über die Kinder nicht eine Steigerung abhalten sollen?«

»So, damit die Leute sagen, der Presi suche immer nur Gelegenheiten, daß im Bären fleißig getrunken werde. Ich weiß schon, was man über mich redet. Und dann? Wer käme zu dieser strengen Werkzeit an eine Gant? Die Kinder Fränzis sind, denk' ich, auch nicht so begehrt. Im übrigen, Schreiber, könnt Ihr wieder gehen, ins Protokoll setzt einfach, ich hätte Vroni aus Liebe und Barmherzigkeit zu mir ins Haus genommen und Josi habe der Gemeinderat als Knecht zu dem früheren Wildheuer und jetzigen Bergführer Bälzi gegeben.«

»Zu Bälzi!« Dem Schreiber fiel die Hornbrille von der Nase.

Der Presi lächelte überlegen.

»Ihr könnt eine Bemerkung in dem Sinn dazu setzen, Bälzi sei der einzige, der sich um Josi beworben habe, und da er in der letzten Zeit ein ordentlicher Mann geworden sei, so habe der Gemeinderat aus Mitleid für seine große Familie ein mildes Werk gethan und ihm den Buben auf Zusehen hin, wenigstens aber über den Sommer, als Knecht zum Wildheuen gegeben. So, jetzt könnt Ihr gehen, ich habe mit den Kindern besonders zu reden, schickt mir zuerst den Buben herein!«

Mit einem kaum merklichen Kopfschütteln packte der Schreiber seine Sachen zusammen.

Draußen im Flur saßen die Geschwister in ihren abgestorbenen Sonntagsgewändchen. Vor ihnen stand Bälzi und redete, die Hände lebhaft verwerfend, auf Josi ein, der mit zusammengezogenen Brauen verächtlich von ihm wegschaute und ihm kein Wort erwiderte. Vroni hatte verweinte Augen.

Jetzt stand Josi vor dem Presi, der überrascht war, was für eine finstere Festigkeit im Gesicht des Achtzehnjährigen lag. Neugierig glitt sein prüfender Blick über den Burschen und dann ließ er ihn, ohne ihn anzureden, noch eine Weile stehen, indem er gegen das Fenster blickte.

»Der Bursche,« dachte er, »ist in seiner Schlankheit und Kraft, mit dem braunen, gescheiten Gesicht, mit den Blitzaugen verdammt hübsch. Es giebt kein wirksameres Mittel, die Gedanken Binias, ohne daß sie eine Ahnung hat, von ihm abzubringen, als daß sie ihn recht niedrig und in schlechter Gesellschaft sieht – grad mit Bälzi. So viel guten Sinn hat das Kind.«

»Herr Presi,« unterbrach Josi, der wie auf feurigen Kohlen stand, die Ueberlegungen des Bärenwirtes, »Vroni und ich haben gemeint, wenn wir nur in dem Häuschen bleiben könnten, wir wollten schon –«

»Thorheiten,« schnitt ihm der Presi das Wort ab und maß ihn mit dem Ausdruck des höchsten Unwillens, »warte, bis ich dich etwas frage, und ein Bursch wie du, Josi, der über mich und andre die größten Gemeinheiten sagt, muß einen Meister haben.«

 

Mit glühendem Haß betrachtete er den sauberen Jungen.

Josi standen die Flammen der Entrüstung im Gesicht: »Herr Presi, ich weiß schon, was Ihr meint, die Mutter selig und der Garde haben mich darüber zur Rede gestellt, aber es ist, weiß Gott, nicht wahr! Ich habe es nicht gesagt.« »Soll ich dir jemand gegenüberstellen, der's gehört hat?« erwiderte der Presi mit kalter Verachtung. – »Binia hat's gehört, wie du es im Schmelzwerk draußen gesagt hast,« fügte er nach einem Augenblick der Ueberlegung bei.

»Bini. – Bini! – – Laßt Bini auf die Stube kommen!« Josi zitterte vor Zorn am ganzen Leib.

»Es nützt nichts mehr, es ist vom Gemeinderat schon entschieden, daß du zu Bälzi gehst.«

Der Presi rief im gleichen Augenblick Bälzi in die Stube und hielt nun beiden eine donnernde Rede, wie sie sich als Herr und Knecht miteinander zu vertragen haben. Mit einer Handbewegung entließ er sie. Vroni kam an die Reihe und freundlich gewährte der Presi dem verschüchterten Kind die Bitte, daß sie erst dem Garden Lebewohl sagen gehe, ehe sie als Magd in den Bären trete. »Ich lasse ihm gute Besserung wünschen und werde ihn in den nächsten Tagen besuchen.«

Josi, der starke Josi, hatte, als er mit Bälzi die Treppe hinunterging, vor Zorn und Schrecken die Thränen in den Augen, ihm war, als habe man ihm mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen. Bälzi aber sagte gutmütig: »Greine doch nicht, wir wollen lieber einen Schoppen zusammen trinken und auf gute Freundschaft anstoßen, ich will dir gewiß kein strenger Meister sein.« Josi trank nicht. Als er vom Wirtstisch aufschaute, stand Binia mit einem Ausdruck grenzenlosen Mitleides unter der Thüre, fast als wolle sie auf ihn zueilen, aber er sah vor eigenem Leid ihre tiefe Bewegung nicht. Dumpf und mit erstickter Stimme rief er: »Du Giftkröte, wie hast du so über mich lügen können!« »Josi!« Mit einem Schrei des Entsetzens rannte Binia davon.

Vor der Thüre nahmen die Geschwister herzbeklemmenden Abschied voneinander. »Rede mit dem Garden!« mahnte und tröstete Vroni, »er meint es gewiß gut mit dir.« Josi schüttelte aber traurig den Kopf; seit ihn der Garde wegen der Verleumdung des Presi scharf angefahren, hatte er auch zu ihm das Zutrauen verloren. Geheimnisvoll sagte er: »Sieh, Vroni, ich weiß schon, was ich thun werde.«

Bälzi drängte. Stolz wie ein Hahn führte er seinen Knecht, den ersten, den er hatte, durch das Dorf, Josi aber ließ den Kopf hängen, er schämte sich seines Meisters.

Vroni berichtete dem ungeduldigen Garden.

»Kind, du gehst nicht als Küchenhelferin in den Bären,« keuchte er, »tritt in die andere Stube, ich halt's nicht mehr aus im Bett.«

Sie hörte, wie er in einer Wut aus den Federn sprang.

Einige Augenblicke später stand er zum Ausgehen gerüstet vor ihr. Aber wie? Durch schmale Spalte nur schauten seine rotunterlaufenen Augen, das hochgeschwollene Gesicht glänzte, aus den Blasen auf den Wangen floß das Wasser in den Bart und die Lippen waren aufgerissen.

»Garde,« sagte Vroni bestürzt, »wollt Ihr nicht warten, bis die Gardin kommt?«

Jammernd eilte diese zu dem schwankenden Manne und mahnte, er wütete aber immer zu: »So geht's nicht in St. Peter, das leide ich nicht, bei meiner Seligkeit leide ich es nicht. Presi, ich glaube es selber, die Tatze muß dir aus dem Grab wachsen. – Du bleibst bei uns, Vroni, du gehst nicht in den Bären!« Liebkosend fuhr er ihr durchs blonde Haar.

»O Pate,« lächelte das Kind aus allem Elend und die blauen Träumeraugen ruhten voll innigen Vertrauens auf dem entstellten Gesicht, dann wandte sie sich fragend an die Gardin.

Allein die hatte für nichts Gedanken, als ihren Mann zurück ins Bett zu bringen, sie hielt ihm in ihrer Not den Spiegel vor das Gesicht. Er fuhr erschrocken zurück. »Teufel, so sehe ich aus – da kann ich allerdings nicht ins Dorf gehen. Nun, ein paar Tage mag es Josi schon bei Bälzi aushalten.«

Die Aufregung hatte dem Kranken geschadet, er verwirrte sich, er kommandierte im Bett unaufhörlich wie am Glottergrat, als Seppi Blatter an den Weißen Brettern stand: »Drei Fuß nachgeben!« – »Links anhalten!«

– »Zu viel!« – »Etwas rechts!« – »So ist's recht!«

– Zwischenhinein schimpfte er auf den Presi, dann fragte er wieder: »Ist Vroni wirklich da – bringe sie doch herein, wenn sie da ist.« Mit Seufzen schickte sich die Gardin in den Zuwachs, den ihr Haus erfuhr.

Als am anderen Tag der Presi durch Thöni eine Nachfrage wegen Vroni schickte, erwiderte der Garde: »Sagt dem Presi, der Teufel werde ihn holen, bevor Vroni in seine Küche kommt.«

Thöni machte ein langes Gesicht und der Presi fügte sich.

In seiner schweren und langwierigen Krankheit ließ sich der Garde die nötigen Dienste am willigsten von Vroni gefallen, die ihn mit ihrer sonnigen Heiterkeit am meisten beruhigte. Sie hatte ihr schönes Heim.

Ein Zug der Bedächtigkeit ging durch alles, was im Haus des Garden gesprochen und gethan wurde; es war, als sei auch in der Woche ein Abglanz vom Sonntag darin, und wenn die Sonne durch die Fenster schien, sich im blanken Kupfer- und Zinngeschirr spiegelte, war es Vroni feierlich zu Mut. Die Bäuerin, der Großknecht Meinrad, der Viehbub Bonzi und die Magd Resi, alle arbeiteten fleißig, doch ohne Hast; während der Garde krank lag, wurden Felder und Vieh grad so gut besorgt, wie wenn er mithelfend hätte beim Werk sein können.

Eusebi hatte zum Verdruß seiner Mutter eine stille närrische Freude, daß nun Vroni im Hause weilte, er ging dem Mädchen auf Schritt und Tritt nach, sah ihm bei seinen Hantierungen zu und half ihm dabei.

Und was sagte der Garde in einem der fieberfreien Augenblicke, die jetzt glücklicherweise wieder kamen, zu seiner Frau, die noch nicht recht wußte, wie sich zu dem hereingeschneiten Gast stellen?

»Ich finde, daß Vroni dem Haus wohl ansteht, es ist immer, als scheine die Sonne darein, wenn doch nur ihr helles Haar glänzt.«

An Vroni aber zehrte der heimliche Kummer um Josi. Sie wußte, was es hieß, bei Bälzi Knecht zu sein. Harte Arbeit an den Flühen, Aufbruch im Morgengrauen, Heimkehr in der Abenddämmerung und – was schlimmer war – wenig Brot, viel Schelte, dazu das Beispiel eines schlechten Haushaltes, in dem häufig gestritten wurde. Denn einen wetterwendischeren Menschen als Bälzi gab es nicht. Er konnte in einem Augenblick die Freundlichkeit selbst sein, im nächsten aber ein Teufel an Bosheit.Dann flogen nicht nur die Worte, sondern was ihm in die Hände geriet. Und Josi, der starke, trotzige, ließ sich gewiß keine Prügel gefallen. Entweder gab's Händel, oder Josi verdarb in guter Freundschaft mit Bälzi.

Ungefähr wie Vroni dachte Binia.

Der wilde, schmerzvolle Zuruf des unglücklichen Burschen hatte sie geschüttelt und gerüttelt.

Vor ihrem Bett kniete sie am Abend: »Mutter – Mutter – ich bin schuld, daß es Josi so schlecht geht – Mutter, sage mir, wie kann ich das große Unrecht wieder gut machen? – Mutter, muß ich dem Vater folgen und gar nicht mehr mit Josi reden?«

Wie sie aber auch das brennende Köpfchen quälte, kam doch kein kluger Gedanke darein.

Sie wußte nur eins. Seit Josi keine Mutter mehr hatte, stand er ihrem Herzen noch näher. Sie meinte immer, sie sollte ihm Fränzi ersetzen, und sie war voll Liebe und Barmherzigkeit für ihn.

Sie klammerte sich an den alten Glauben, daß es Kindern, deren Vater an den heligen Wassern gefallen ist, besonders gut gehe, und ließ ihre Augen leuchten: »Er wird schon einmal sehen, daß ich keine Giftkröte bin!«

Kapitel Neun

»So geht's zu in St. Peter. Man will nicht mehr für die Hinterlassenen derer einstehen, die im Gemeindewerk gefallen sind. Wie wohl wäre es einem wohlhabenden Bauern angestanden, wenn er Josi zu sich genommen hätte, nicht als Knechtlein, sondern als Sohn, wie der Garde Vroni als Tochter. Lest in den alten Protokollen, wie man für die Kinder derer, die an den heligen Wassern gestürzt sind, stets besonders gut gesorgt hat. Und sie wurden Leute, daß es eine Freude war. Jetzt aber kommt ein neuer Brauch. Auf einen bösen Handel legt man einen bösen Handel, man giebt den Buben rechtschaffener Eltern einem Lumpen. Was wird Josi bei Bälzi? Ein Halunke! Und was hat die Gemeinde davon? Die Schande!«

»Ich hätte ihn auch genommen, der Haushalt Blatter ist immer arbeitsam gewesen.«

»Einen Gotteslohn hätte man dabei verdient. Wahrhaftig, man schämt sich, wenn man denkt, daß der selige Seppi und die selige Fränzi vom Himmel herunter auf die von St. Peter schauen.«

So schwirrte das Gespräch.

Die Gemeinderäte, die ihre Pflicht versäumt hatten, ließen die Köpfe hängen und kratzten sich hinter den Ohren, der Presi aber hielt sich an das Haus voll Fremder und vermied den Verkehr mit den Dörflern.

Er hatte auch seinen Verdruß.

Bälzi, sein Schützling, war mit dem Bergführerberuf auf eine wenig ehrenvolle Art zu Ende gekommen. Ein Gast vermißte sein Taschenmesser, er sah es einige Tage später im Besitze Bälzis, der ihn auf einer kleinen Gletscherwanderung begleitet hatte; der Gast behauptete, sich deutlich zu erinnern, daß er es bei einem Imbiß am Rand des Eises habe liegen lassen. Bälzi hätte es ihm einfach zurückgeben können, aber er wurde frech und verlangte einen Finderlohn. Da kam's zum Bruch, und der Presi hatte die Vorwürfe seiner Gäste, die nichts mehr von Bälzi wissen wollten.

Bald aber war es am Presi, zu lachen.

Bälzi meldete ihm durch seine Aelteste, Josi Blatter sei aus dem Dienst gelaufen, sie hätten zusammen ein Unwort gehabt.

»Nun wird der Bursche kommen und man wird ihm einen neuen Dienst suchen müssen.«

Josi Blatter stellte sich aber weder dem Vormund noch den Behörden. Niemand wußte, wo er war, niemand wurde aus ihm klug.

Das Gerücht verbreitete sich, er treibe sich auf den Alpen umher. Aber wovon lebte er? Die Leute sagten: »Er zieht den Kühen und Ziegen heimlich die Milch aus dem Euter.«

Der Presi höhnte: »Da seht Ihr den Tagedieb, von dem Ihr mit so viel Erbarmen geredet habt. Ich habe den gekannt.«Niemand wagte mehr den Buben zu verteidigen.

Allein die Stimmung im Dorf war auch dem Presi nicht günstig. Manchmal schien es wohl, man würde sich an die Fremden gewöhnen, aber die Gäste, die wieder ins Thal gekommen waren, thaten und redeten so manches, was denen von St. Peter bis auf die Knochen ging.

Da war ein dicker Gast, der wie ein Fäßchen daherkugelte und stets mit den Leuten reden wollte, den sie aber in seiner fremden Mundart nur das dritte Wort verstanden. Als er auf den Feldern um das Dorf die Histen, die Holzgerüste sah, an denen die Bauern im Herbst ihren Roggen zum Ausreifen aufzuhängen pflegen, fragte er spöttisch: »Hat man denn in St. Peter so viel Diebe, Schelme und Mörder, daß man alle die Galgen braucht?«

Nun lief das Wort. Von Scherz und Humor wußten die Dörfler nicht viel, ihr Leben war Arbeit und Andacht. »Wir einen Galgen? – Mörder? – Seit Matthys Jul hat im Glotterthal kein Mensch einen anderen getötet. Und Diebe? – Wer schließt des Nachts die Thüre? kein Haus als der Bären hat ein Schloß mit Schlüssel. Seit Menschengedenken ist kein Diebstahl vorgekommen; die Briefe, die Päcklein und Wertsachen, die es zu besorgen giebt, legt man einfach an den Weg. Hat jemand schon daran gerührt als der Postbote, der sie aufnimmt und nach Hospel trägt? Aber die Fremden wollen uns andere Sitten bringen! Merkt ihr, was für ein neues Leben anfängt? Bälzi hat ein Messer gestohlen, und Josi Blatter ist Aufrührer geworden, es kann schon so kommen, daß wir einen Galgen brauchen.«

»O, der Fremde hat gewiß nur gescherzt.«

»Dann hat er das heilige Brot beleidigt! Wer darf über die Histen, die es reifen, spaßen?«

Bald beleidigte irgend einer die heligen Wasser.

»Man kann nicht schlafen, wenn der Wind thalherauf weht. Das tattert die ganze Nacht. Geben Sie doch der verfluchten Klapperschlange etwas zu fressen, daß das arme Vieh nicht weiter so hungerleidig schättert,« sagte ein anderer.

Die heligen Wasser, an denen so viele wackere Männer zu Tod gefallen sind, die einen Flecken und fünf Dörfer erhalten und ernähren, eine hungerleidige Schlange!

Die von St. Peter bekreuzten sich. »Sünde über Sünde.«

»Und die heilige Religion beleidigen sie!«

Denn durch die Mägde war es bekannt geworden, daß manche Gäste im Bären auch am Freitag Fleisch essen. Der Presi und die Frau Presi gaben es also zu.

 

»Merkt ihr, wenn wir solche Dinge dulden, so kommt Gottes Züchtigung über uns. Unsere Buben können nicht mehr recht thun – seht Josi Blatter! Und er hat doch so rechtschaffene Eltern gehabt. Hudlig müssen wir durch die neue Zeit zuletzt alle werden.«

Vom Gemeinderat ging die Weisung, jedermann, der Josi Blatter antreffe, möge ihn auffordern, daß er sich der Behörde stelle.

»Josi Blatter, der Rebell,« dann kurzweg »der Rebell«. So sprach man in St. Peter. Sein Umhertreiben erregte Aufsehen und Aergernis. Man war es nicht gewöhnt, daß die jungen Leute sich dem Gehorsam der Behörden, der Kirche und der Dorfschaft entzogen. Dazu gesellte sich die Furcht vor Diebstahl. Aber weder die Sennen, die von den Alpen kamen, noch die Dörfler wußten die Spur einer Entwendung zu melden. Es konnte den Rebellen auch niemand auffordern, zurückzukehren, denn man sah ihn immer nur von ferne, meist an den hohen Felsen über den Alpen, ja viele glaubten, es sei überhaupt ein müßiges Gerede, daß er sich noch in der Gegend aufhalte. Aber heute war es ein Dörfler, morgen einer der kühneren Fremden, die hoch an den Flühen, wo Grünland und Weißland sich scheiden, einen verdächtigen Jungen gesehen haben wollten.

»Wir gehen nicht aus, man weiß nicht, was einem der geheimnisvolle Vagant anthäte!« meinten die Furchtsameren, und unter den ängstlichen Gästen kam St. Peter zum großen Aerger des Presi in den Ruf der Unsicherheit.

Ein Diebstahl – eine Verurteilung – dann wäre Josi Blatter für sein Lebtag im Thal gerichtet und alles zu Ende. Gefängnis nahmen die zu St. Peter furchtbar ernst, es genügten die roten Epauletten eines Landjägers, der alle paar Jahre einmal ins Thal kam, um die Bewohnerschaft in Aufregung zu versetzen.

Gegen Ende des Sommers erwartete der Presi den Rebellen des Diebstahls überführen zu können. Die Sonne schien noch warm, die Glotter aber, deren Wasser stark zurückgegangen war, floß klarer als sonst. Nun glaubte er Anzeichen dafür zu haben, daß aus seiner Fischenz nächtlicherweile Forellen gestohlen würden. Thöni und ein paar Mann legten sich in den Hinterhalt. Um Mitternacht watschelte es in dem Glotterbach, eine Gestalt bückte sich und langte mit den Händen in die Forellenverstecke, man faßte den Dieb – Bälzi!

Ganz St. Peter lachte, daß der Presi seinen ehemaligen Schützling gefangen hatte, sogar mehr, als wenn der Rebell verhaftet worden wäre, denn die Mißgunst gegen den Presi war größer als der Aerger über den unbotmäßigen Jungen.

Am meisten litt Vroni. Ihre letzte Hoffnung, daß Josi wieder auf gute Wege komme, war wie Aprilschnee geschmolzen, der Garde wollte nichts mehr von ihm hören, er war wütend auf sein Mündel. Nicht, weil Josi seinem Meister entlaufen war, das fand er fast selbstverständlich, aber weil er sich seinem Vormund nicht gestellt hatte. Von Zeit zu Zeit fragte er Vroni im Ton des Verhörs, ob ihr Josi noch nie ein Zeichen seiner Anwesenheit gegeben.

Das war's ja eben, was sie am tiefsten kränkte – er hatte sie vergessen.

Sie horchte fleißig in die Nacht, ob sie ihn nicht ums Haus streichen höre, aber was sie erlauschte, war immer nur das Klagen des Windes in den Felsen.

Hatte er wohl das Thal verlassen und war ohne Abschied über Hospel hinaus in die weite Welt gegangen, wie jener Bursche im Kirchhoflied? Hinweg vom Grab des Vaters und der Mutter.

»Gebräunter Bursch ist fortgezogen,

Den Mund so frisch, den Blick so hell,

Dahin mit Wellen und mit Wogen

Gewandert ist der Frohgesell.«

Oder war er einsam irgendwo auf den Bergen verunglückt? – Sie hoffte es fast, denn ein toter Bruder wäre ihr lieber gewesen als einer, der in Unehren lebt. O, was mochten die Mutter und der brave Vater in ihrer Abgeschiedenheit von Josi denken.

Oft fielen die Thränen um ihn auf das Armseelenmahl, das sie für die Toten rüstete. Und doch ging es ihr gut. Die stolze Gardin sprach zwar von oben herab zu ihr, behandelte sie, wenn es der Garde nicht sah, wie eine Magd und predigte ihr Bescheidenheit.

»Ich bin ja gewiß bescheiden,« dachte sie dann, »wenn ich nur im Haus bleiben darf.«

Wenn sie aber besonders niedrige Dienste verrichtete, wenn sie die Jauchetanse an den Rücken hängte oder den Mist der Schweine aus dem Stall zog, dann knurrte der breite Garde: »Du darfst das nicht thun, Vroni; laß das den anderen!«

Eusebi freute sich darüber unbändig und begann den Vater nachzuahmen, indem er sie von den rauhesten Arbeiten zurückhielt, die Gardin aber schmollte: »Herrgott, ist Vroni, weil sie blondes Haar und ein sauberes Gesichtchen hat, denn eine Prinzeß?«

»Die ist mehr als eine Prinzeß, Gardin; merkst du nicht, daß uns Gott das Mädchen eigens zum Trost ins Haus geschickt hat? Sieh dein Schmerzenskind, den Eusebi, an. Denke, wie er noch vor zwei Jahren war und wie er jetzt ist. Stottert er noch? Läßt er die Glieder noch so elend hängen? – Nein, es ist eine Freude, wie der Bursche alles nachholt, was er in sechzehn Jahren versäumt hat.« So mahnte der Garde voll Vaterglück.

»Meinst du, es freue mich nicht auch?« fragte seine Frau, »meinst du, es freue das Mutterherz nicht am meisten – warum bin ich denn so viel gewallfahrtet für Eusebi!«

»Deine Wallfahrten in Ehren, dem Burschen aber haben nichts als Geschwister gefehlt; doch hätten ihn sechs Brüder und sechs Schwestern nicht so geweckt wie die einzige stille Vroni.«

»Nun – nun – ich lasse ja sie gelten, wenn sie nur nicht einen so geringen Bruder hätte.«

»Daran ist der Presi schuld!«

So tauschten Garde und Gardin ihre Meinungen.

Nicht so bald, wie er es zu Vroni gesagt hatte, sondern erst gegen den Herbst hin kam der Presi zu dem langsam genesenden Freunde auf Besuch. Binia begleitete ihn. Aber zwischen den beiden Männern war nichts als Streit und Zank.

»Wenn der Bursche hinter die genagelte Thür in der Stadt kommt, wenn St. Peter diese Schande hat oder wenn er, wie's den Anschein hat, verhungert an den Bergen modert, so liegt's auf Eurem Gewissen, Presi. Ich hätte mit dem Peitschenstiel auf Euch losgehen mögen, als Ihr den Waisenbuben zu Bälzi gabt.«

Da fuhr der Presi auf: »Gott's Donnerhagel! So ist mir noch niemand gekommen! Garde – Garde! – Wißt Ihr noch, was der Lumpenhund gesagt hat?«

»Ihr seid der Presi, seid doch erhaben über ödes Geschwätz. Und nun wollen wir Binia fragen, ob er's wirklich gesagt hat!«

Binia, die sich in der Küche bei Vroni leise nach dem verschwundenen Josi erkundigte, kam auf den Ruf des Presi hochrot vor die entzweiten Männer, und auf ihre Frage funkelte der Mut der Verzweiflung in ihren Sammetaugen, ihre Nasenflügel und Lippen bebten.

»Vater! – Vater! – er hat's nicht gesagt – ich schwör's Euch noch einmal wie am Tag nach Fränzis Tod – er hat's nicht gesagt – sondern der Kaplan Johannes.«

Ihre Stimme klang wie ein zersprungenes Glöckchen, sie stand da wie eine kleine Märtyrerin.

»Wie am Tag nach Fränzis Tod,« wiederholte der Garde und sah den Presi mit zusammengezogenen Brauen scharf an.

Da wurde der Presi bleich vor Scham und Zorn. »Hast du auch nicht gesagt, du wolltest Josi heiraten?« Er stammelte es mehr, als daß er es sprach.

»Wohl, in meiner Verwirrung habe ich so viel geschwatzt, was ich nicht hätte sagen sollen.« Angstvoll und entschlossen zugleich sprach Binia, der Presi aber warf ihr einen Blick zu, als wolle er sie zu Boden schmettern.

»Hinaus mit dir und heute nicht mehr unter meine Augen!«

»Was für einen Mut hat das Kind,« knurrte der Garde beruhigend, als sich Binia geflüchtet hatte, »Presi, tragt dem Mädchen Sorge.«

»Dem Kaplan will ich zünden!« schnob der Presi.

Das kurze Gespräch hatte dem Garden ein Licht aufgesteckt. Darum also haßte der Presi Josi so grimmig, weil Binia ein Auge auf den hübschen Burschen geworfen hatte. Er wiegte, als der Presi gegangen war, den Kopf.