50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
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Der Mann, der ihren Vater einen Dieb genannt, hatte übrigens nur wiederholt, was er seit Jahren erzählen hörte. Die grollende Haltung des Kindes stimmte die Arbeiter zu spöttischer Heiterkeit.

Silvère ballte noch immer die Fäuste und die Sache drohte eine schlimme Wendung zu nehmen, als ein Jäger aus dem Seillegebirge, der einstweilen, bis man weiter marschieren würde, sich auf einen Randstein niedergesetzt hatte, dem Mädchen zu Hilfe kam.

Die Kleine hat recht, sagte er. Chantegreil war einer der Unseren. Ich habe ihn gekannt. Seine Sache ist nicht völlig aufgeklärt worden. Ich habe seine vor Gericht gemachten Aussagen immer für wahr gehalten. Der Gendarm, den er auf der Jagd mit einem Flintenschuß niedergestreckt hat, hatte ihn selbst schon aufs Korn genommen. Man muß sich doch wehren, nicht? Aber Chantegreil war ein ehrlicher Mann; er hat nicht gestohlen.

Wie es in solchen Fällen ist, genügte das Zeugnis des Wilderers, um Miette noch mehr Verteidiger finden zu lassen. Auch andere Arbeiter wollten jetzt Chantegreil gekannt haben.

Ja, ja, es ist wahr, sagten sie. Er war kein Dieb. Es gibt in Plassans Halunken, die man statt seiner auf die Galeeren schicken müßte. Chantegreil war unser Bruder. Laß gut sein, Kind!

Noch niemals hatte Miette über ihren Vater Gutes reden gehört. Gewöhnlich wurde er vor ihr als Landstreicher, als Missetäter behandelt; jetzt fand sie mutige Herzen, die Worte der Verzeihung für ihn hatten und ihn für einen ehrlichen Mann erklärten. Da zerfloß sie in Tränen, da fand sie die süße Rührung wieder, in die vorhin die Klänge der Marseillaise sie versetzt hatten. Sie sann nach, wie sie sich diesen für die Unglücklichen eintretenden Männern dankbar erweisen könnte. Einen Augenblick dachte sie daran, allen diesen Männern die Hand zu drücken, nach Art der Burschen. Allein ihr Herz fand besseres als dies. Neben ihr stand der Fahnenträger. Sie berührte den Schaft der Fahne und sagte in einem flehenden Tone, in dem ihre ganze Dankbarkeit sich ausdrückte:

Gebt mir die Fahne, ich werde sie tragen.

Die Arbeiter begriffen mit ihrem einfachen Sinn das Kindlich-Erhabene dieses Dankes.

Ja, ja, riefen sie. Die Chantegreil soll die Fahne tragen.

Ein Holzschläger bemerkte, daß sie bald ermüden, nicht weit kommen werde.

Oh, ich bin stark! rief sie, indem sie die Ärmel ihrer Jacke zurückstreifte und ihre Arme zeigte, die schon so stark waren wie die eines erwachsenen Weibes.

Als man ihr die Fahne reichte, sagte sie:

Wartet einen Augenblick!

Sie zog rasch den Mantel aus, wandte die Innenseite nach außen und warf ihn so wieder um ihre Schultern. Sie erschien jetzt im bleichen Lichte des Mondes eingehüllt in einen weiten Purpurmantel, der ihr bis zu den Füßen herabfiel. Die Kapuze, durch den Rand ihres Haarwulstes festgehalten, saß wie eine Art phrygischer Mütze auf ihrem Haupte. Sie ergriff die Fahne, drückte den Schaft an ihre Brust und stand aufrecht da, umwallt von dem roten Banner, das hinter ihr flatterte. In dem halb gen Himmel gerichteten Haupt eines begeisterten Kindes mit dem krausen Haar, mit den großen, feuchten Augen, mit den in einem Lächeln erschlossenen Lippen sprach sich stolze Energie aus. In diesem Augenblicke verkörperte sie die jungfräuliche Wahrheit.

Die Aufständischen jubelten ihr zu. Diese mit einer lebhaften Einbildungskraft begabten Südländer wurden ergriffen und begeistert durch die plötzliche Erscheinung dieses großen, vom Scheitel bis zur Sohle roten Mädchens, das die Fahne krampfhaft an seine Brust drückte. Einzelne Rufe wurden in der Gruppe laut:

Bravo, Chantegreil! Es lebe die Chantegreil! Sie bleibe bei uns! Sie wird uns Glück bringen!

Noch lange hätte man ihr zugejubelt, wenn nicht der Befehl zum Weitermarsch erteilt worden wäre. Und während die Kolonne sich in Bewegung setzte, drückte Miette Silvère, der sich neben sie gestellt hatte, die Hand und flüsterte ihm ins Ohr:

Ich bleibe bei dir, hörst du?

Statt aller Antwort erwiderte Silvère ihren Händedruck. Er nahm ihr Anerbieten an. Er war tief bewegt und überließ sich der nämlichen Begeisterung wie seine Gefährten. Miette war ihm so schön, so groß, so heilig erschienen! Während des ganzen Abstieges sah er sie vor sich, strahlend, in purpurner Herrlichkeit. Jetzt verwechselte er sie mit einer anderen angebeteten Geliebten, mit der Republik. Gern wäre er schon in Plassans angekommen, um seine Flinte schultern zu können. Allein die Aufständischen erstiegen nur langsam den Abhang. Es war der Befehl erteilt worden, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Die Kolonne rückte zwischen den Ulmen vor gleich einer Riesenschlange, an der jeder Ring ein eigentümliches Zittern zeigt. Die eisige Dezembernacht war wieder still geworden; die Viorne allein schien etwas lauter zu murmeln.

Sobald die ersten Häuser der Vorstadt erreicht waren, lief Silvère voraus, um seine Flinte vom Saint-Mittre-Feld zu holen, das noch im stillen Mondlichte dalag. Als er wieder zu den Aufständischen stieß, waren sie eben bei dem Römertor angekommen. Miette neigte sich zu ihm und sagte mit einem kindlichen Lächeln:

Mir ist, als wäre ich in der Fronleichnamsprozession und als trüge ich die Fahne der heiligen Muttergottes.

Kapitel Neun­und­achtzig

Plassans ist der Sitz einer Unterpräfektur und zählt beiläufig zehntausend Seelen. Auf der Hochebene erbaut, die die Viorne beherrscht, im Norden an die Hügel von Garrigues, eine der letzten Abzweigungen der Alpen sich lehnend, liegt die Stadt gleichsam in einer Sackgasse. Im Jahre 1851 verkehrte sie mit der Umgegend nur durch zwei Straßen: die Nizzaer Straße, die gen Osten absteigt, und die Straße von Lyon, die gen Westen aufsteigt, die eine die andere fortsetzend in zwei fast parallelen Linien. Seither ist eine Eisenbahn gebaut worden, deren Linie die Stadt im Süden berührt, am Fuße des Abhanges, der von den alten Stadtwällen steil zum Flüßchen abfällt. Wenn man heute aus dem Bahnhofe tritt, der am rechten Ufer der Viorne liegt, sieht man aufblickend die ersten Häuser von Plassans, deren Gärten Terrassen bilden. Man muß eine gute Viertelstunde bergauf klettern, bis man diese Häuser erreicht.

Noch vor zwanzig Jahren hatte – ohne Zweifel infolge des Mangels an Verkehrswegen – keine zweite Stadt so sehr wie Plassans den frommen und aristokratischen Charakter der alten provençalischen Städte bewahrt. Die Stadt besaß und besitzt heute noch ein ganzes Viertel von Herrenhäusern, die unter Ludwig XIV. und Ludwig XV. erbaut wurden, ein Dutzend Kirchen, ein Jesuiten- und ein Kapuziner-Ordenshaus und eine ansehnliche Anzahl von Klöstern. Die Verschiedenheit der Klassen wurde hier lange Zeit durch die Sonderung der Stadtviertel gekennzeichnet. Plassans zählt deren drei, deren jedes für sich gleichsam einen besonderen, vollständigen Stadtteil bildet, der seine eigene Kirche, seinen eigenen Spazierweg, seine besonderen Sitten und Gebräuche, seinen besonderen Gesichtskreis hat.

Das Adelsviertel – auch das St.-Markus-Viertel genannt nach einer der Pfarren, die hier die Seelsorge versehen – ein Klein-Versailles mit engen, grasüberwucherten Gäßchen, deren breite, viereckige Häuser große Gärten verbergen, dehnt sich im Süden, am Rande der Hochebene aus. Manche Herrenhäuser, knapp am Abhange gebaut, haben ein Doppelstockwerk von Terrassen, von denen aus man das ganze Viornetal überschauen kann, – ein herrlicher, in der Gegend vielgerühmter Aussichtspunkt. Das alte Viertel, die »Altstadt«, erhebt sich im Nordwesten mit ihren engen, krummen Gäßchen, die von baufälligen Hütten eingesäumt waren. Hier befinden sich: das Bürgermeisteramt, das Zivilgericht, der Markt, die Gendarmerie. Dieser Teil von Plassans – der volkreichste – ist von Arbeitern, Geschäftsleuten, all dem kleinen Volk der Not und Plage bewohnt. Die Neustadt endlich bildet eine Art Längenviereck im Nordosten; die Bürgerklasse, d. h. die Leute, die Heller für Heller ein Vermögen gesammelt haben, und die einen sogenannten freien Beruf ausüben, wohnen hier in säuberlich aneinander gereihten, hellgelb getünchten Häusern. Dieses Stadtviertel mit der Unterpräfektur – einem häßlichen Bau mit Gipsanwurf und Rosettenschmuck – zählte im Jahre 1851 kaum fünf oder sechs Straßen. Es ist der neueste Stadtteil und der einzige, der seit dem Bau der Eisenbahn einige Entwicklungsfähigkeit zeigt.

Was die Stadt Plassans bis auf den heutigen Tag noch in drei unabhängige, bestimmt abgegrenzte Teile sondert, das ist der Umstand, daß die Stadtviertel durch breite Straßen begrenzt sind. Die Promenade Sauvaire und die Romstraße, welch letztere gleichsam eine engere Fortsetzung der ersteren ist, laufen von West nach Ost, vom großen Tor bis zum Römertor und schneiden so die Stadt in zwei Teile, das Adelsviertel von den zwei anderen Stadtvierteln absondernd. Diese wieder sind durch die Banne-Straße voneinander geschieden; diese Straße, die schönste der Gegend, beginnt am Ende der Promenade Sauvaire, steigt gen Norden hinan und läßt die schwarzen Häusermassen des alten Stadtviertels links, die hellgelben Häuser der Neustadt rechts liegen. Hier, ungefähr in der Mitte der Straße, auf einem kleinen, mit zwerghaften Bäumen bepflanzten Platze, erhebt sich die Unterpräfektur, ein Bau, auf den die Bürger von Plassans sehr stolz sind.

Wie um sich noch mehr zu vereinsamen und zu verschließen, ist die Stadt mit einem Gürtel alter Wälle umgeben, die heute nur mehr dazu dienen, die Stadt noch schwärzer und noch enger erscheinen zu lassen. Mit Gewehrkolbenschlägen könnte man diese lächerlichen Mauern niederwerfen, die von Unkraut zerfressen, von wilden Nelken gekrönt, kaum höher und dicker sind als die Mauern eines Klosters. Sie sind an mehreren Stellen von Toren durchbrochen; die zwei größten sind das Römertor und das große Tor, das erstere geht auf die Nizzaer Straße, das letztere am andern Ende der Stadt auf die Lyoner Straße aus. Bis zum Jahre 1853 waren diese Maueröffnungen mit zweiflügeligen, oben gewölbten Toren von starkem, eisenbeschlagenem Holze versehen. Im Sommer um elf Uhr, im Winter um zehn Uhr abends wurden diese Tore fest verschlossen. Wenn die Stadt einmal die Riegel vorgeschoben hatte wie ein furchtsames Mädchen, dann überließ sie sich ruhig dem Schlafe. Ein Wächter, der eine im innern Winkel des Tores stehende Hütte bewohnte, öffnete den Stadtbewohnern, die sich draußen verspätet hatten. Aber das ging nicht ohne längere Unterhandlungen. Der Torwart ließ die Leute erst ein, wenn er durch eine im Tor angebrachte Klappe mit seiner Laterne ihnen längere Zeit ins Gesicht geleuchtet hatte. Wer ihm nicht gefiel, konnte draußen schlafen. Der ganze Geist dieser Stadt, zusammengesetzt aus Feigheit, Eigennutz, Festhalten am Althergebrachten, aus Haß gegen alles Fremde und aus einem fanatischen Hang zum einsamen, klösterlichen Leben, drückte sich in diesem sorgfältigen, jeden Abend sich wiederholenden Torschluß aus. Wenn Plassans sich gut verriegelt hatte, sagte es: »Ich bin zu Hause« – mit der Zufriedenheit des frommgläubigen Spießbürgers, der ohne Furcht um seinen Säckel, und sicher, daß er durch keinerlei Geräusch geweckt wird, sein Abendgebet verrichtet und froh zu Bett geht. Es gibt, wie mich dünkt, keine zweite Stadt, die so lange eigensinnig an dem Brauche festgehalten hätte, sich einzuschließen wie eine Nonne.

 

Die Bevölkerung von Plassans kann in drei Gruppen eingeteilt werden; so viele Stadtviertel, ebenso viele kleine, abgesonderte Welten. Ausnahmen bilden die Beamten: der Unterpräfekt, der Steuereinnehmer, der Grundbuchführer, der Posthalter, lauter Leute, die aus der Fremde gekommen sind, hier wenig geliebt und sehr beneidet werden und sich daher ihr Leben nach ihrer Behaglichkeit einrichten. Die wirklichen Einwohner von Plassans, die hier geboren und hier zu sterben entschlossen sind, achten zu sehr die überkommenen Gebräuche und die von alters her aufgerichteten Scheidegrenzen, um sich nicht von selbst in einer der gesellschaftlichen Klassen der Stadt einzupferchen.

Die Adligen schließen sich vollständig ab. Seit dem Sturze Karls X. gehen sie kaum mehr aus; und wenn sie ausgehen, schleichen sie furchtsam dahin wie in Feindesland und beeilen sich, in ihre großen, stillen Paläste zurückzukehren. Sie gehen zu niemandem und besuchen sich selbst gegenseitig nicht. In ihren Salons erscheinen höchstens einige Geistliche. Im Sommer bewohnen sie die Schlösser, die sie in der Umgegend besitzen; im Winter bleiben sie am warmen Kamin sitzen. Es sind Tote, die sich durch das Leben hindurch langweilen. In ihrem Stadtviertel herrscht denn auch die dumpfe Stille eines Kirchhofes. Türen und Fenster sind sorgfältig verrammelt. Man glaubt eine Reihe von Klöstern vor sich zu haben, die allem Geräusch der Außenwelt verschlossen sind. Von Zeit zu Zeit sieht man einen Abbé vorbeikommen, dessen leiser Auftritt längs der geschlossenen Häuser die Stille noch zu vertiefen scheint und der dann wie ein Schatten unter einer halb geöffneten Haustür verschwindet.

Der Bürgerstand, d. h. die Kaufleute, die sich von den Geschäften zurückgezogen haben, die Advokaten, die Notare, alle die kleinen Leute, die wohlhabend und voll Ehrgeiz sind, kurz: die Bevölkerung der Neustadt, ist bemüht, Plassans einiges Leben zu verleihen. Sie werden zu den Abendunterhaltungen des Herrn Unterpräfekten eingeladen, und es ist ihr sehnlichster Wunsch, ähnliche Feste zu geben. Sie streben gern nach Volkstümlichkeit, nennen einen Arbeiter: »mein Lieber«, reden mit den Bauern von der Ernte, lesen die Zeitungen und gehen am Sonntag mit ihren Frauen und Töchtern spazieren. Es sind die fortgeschrittenen Geister des Ortes, die einzigen, die einen Witz über die Stadtmauern wagen; sie haben sogar schon wiederholt von der Stadtvertretung die Entfernung dieser »alten Wälle« gefordert, dieser »Überreste einer anderen Zeit«. Das hindert aber nicht, daß die zweifelsüchtigsten unter ihnen von tiefer Freude erfüllt werden, sooft ein Marquis oder ein Graf sie eines leichten Grußes würdigt. Der Traum eines jeden Bürgers der Neustadt geht dahin, in einen Salon der St. Markus-Vorstadt eingeladen zu werden. Sie wissen wohl, daß dieser Traum sich nicht verwirklichen kann, und darum schreien sie nur um so lauter, daß sie Freidenker sind, und sind bereit, bei dem mindesten Grollen des Volkes sich dem erstbesten Retter in die Arme zu werfen.

Die Gruppe, die im alten Stadtviertel arbeitet und ihr Leben fristet, ist nicht so genau zu bestimmen. Das gemeine Volk, die Arbeiter sind da in der Mehrheit; aber es gibt da auch Krämer und sogar einige Großkaufleute. In Wahrheit ist Plassans weit entfernt, ein Handelszentrum zu sein; es wird nur so viel gehandelt, wie nötig ist, um sich der Erzeugnisse der Gegend zu entledigen, die in Öl, Wein, Mandeln bestehen. Was das Gewerbe betrifft, so ist es durch einige Gerbereien vertreten, die mit ihrem Mißdufte eine Straße des alten Quartiers verpesten, dann durch einige Filzhutereien und eine Seifensiederei, welch letztere in einen Winkel der Vorstadt verbannt ist. Diese kleinen Handels- und Gewerbsleute besuchen zwar an hohen Festtagen die Bürger der Neustadt, leben aber zumeist unter den Arbeitern der Altstadt. Kaufleute, Krämer und Arbeiter haben gemeinschaftliche Interessen, die sie zu einer Familie vereinigen. Nur am Sonntag waschen sich die Arbeitgeber die Hände und bleiben dann hübsch unter sich. Die Arbeiter, kaum ein Fünftel der gesamten Bevölkerung, verlieren sich übrigens unter den Müßiggängern der Stadt und ihrer Umgebung.

Solange die schöne Jahreszeit andauert, treffen sich die Bewohner der drei Stadtviertel von Plassans einmal in der Woche. Die ganze Stadt begibt sich am Sonntag nach der Vesper auf die Promenade Sauvaire; selbst die Adeligen wagen sich da einzufinden. Allein in dieser mit zwei Platanenreihen bepflanzten Allee gibt es drei bestimmte Ströme von Spaziergängern. Die Bürger der Neustadt durchschreiten sie nur; sie gehen durch das große Tor hinaus und wenden sich rechts nach der Poststraße, wo sie bis zur sinkenden Nacht auf- und abspazieren. Während dieser Zeit teilen sich der Adel und das Volk in die Promenade Sauvaire. Seit mehr denn hundert Jahren hat der Adel die Südallee gewählt, an der eine Reihe von großen Palästen steht und die zuerst Schatten bekommt; das Volk mußte sich mit der Nordallee begnügen, wo die Kaffeehäuser, die Gastwirtschaften und die Tabakläden stehen. Den ganzen Nachmittag wandeln Volk und Adel auf und nieder, ohne daß es jemals einem einfiele, aus der einen Allee in die andere hinüberzugehen. Eine Entfernung von sechs bis acht Metern bloß trennt sie; aber sie bleiben tausend Meilen weit voneinander, indem sie genau zwei parallel laufenden Linien folgen, als sollten sie in diesem irdischen Jammertal einander gar nie begegnen. Selbst in den aufrührerischen Zeiten ist jede Klasse in ihrer Allee geblieben. Dieser regelmäßige Sonntagsspaziergang und das Schließen der Stadttore am Abend sind zwei Dinge, die derselben Art zu denken entspringen und zur Beurteilung der zehntausend Seelen dieser Stadt genügen.

In dieser eigenartigen Umgebung lebte bis zum Jahre 1848 eine unbedeutende und wenig geachtete Familie, deren Oberhaupt, Pierre Rougon, infolge gewisser Umstände später eine bedeutsame Rolle spielen sollte.

Pierre Rougon war ein Bauernsohn. Die Sippschaft seiner Mutter – die »Fouque«, wie man sie nannte – besaß zu Ende des vorigen Jahrhunderts ein ausgedehntes Grundstück in der Vorstadt hinter dem alten Saint-Mittre-Kirchhofe; dieses Grundstück war später mit dem Jas-Meiffren vereinigt worden. Die Fouque waren die reichsten Gemüsegärtner der Gegend; sie lieferten das Gemüse einem ganzen Stadtviertel von Plassans. Einige Jahre vor der Revolution erlosch der Name dieser Familie. Nur eine Tochter war übrig geblieben, Adelaide mit Namen, geboren im Jahre 1768, die mit achtzehn Jahren verwaist war. Dieses Mädchen, dessen Vater im Irrsinn starb, war ein großes, schmächtiges, bleiches Geschöpf mit scheuen Blicken und einem seltsamen Benehmen, das man für wilde Scheu halten konnte, solange sie klein war. Aber als sie größer ward, betrug sie sich noch seltsamer. Sie beging gewisse Handlungen, die die gescheitesten Köpfe der Vorstadt sich nicht recht erklären konnten. So entstand allmählich das Gerücht, daß sie verrückt sei wie ihr Vater. Seit sechs Monaten kaum stand sie allein im Leben als Besitzerin eines Vermögens, das eine sehr begehrenswerte Erbin aus ihr machte, als man erfuhr, daß sie sich mit einem Gärtnergehilfen namens Rougon verheiratet habe, einem ziemlich plumpen Bauer, der aus dem Lande der Niederalpen eingewandert war. Nach dem Tode des letzten Fouque, der ihn auf einen Sommer gedungen hatte, war dieser Rougon im Dienst der Tochter des Verstorbenen geblieben. Aus einem Lohndiener ward er plötzlich der beneidete Gatte. Diese Heirat war die erste Tatsache, die die öffentliche Meinung in Staunen versetzte; niemand konnte begreifen, weshalb Adelaide diesen armen Teufel, diesen ungeleckten, schwerfälligen Bauer, der kaum der Landessprache kundig war, sovielen jungen Burschen vorzog, Söhnen von wohlhabenden Landwirten, die sich lange Zeit um sie beworben hatten. Und da in der Provinz nichts unaufgeklärt bleiben darf, wollte man hinter dieser Geschichte durchaus irgendein Geheimnis wittern; man behauptete sogar, diese Heirat sei zwischen den beiden jungen Leuten eine unabweisliche Notwendigkeit geworden. Allein die Tatsachen widerlegten all diesen Klatsch. Adelaide gebar erst nach einem Jahre einen Sohn. Darüber war nun die Vorstadt empört; sie konnte nicht zugeben, daß sie sich geirrt habe; sie verlegte sich darauf, das angebliche Geheimnis zu ergründen. Darum machten sich alle Klatschbasen auf, um die Rougons auszuspähen. Sie sollten denn auch bald reichlichen Stoff zu schwatzen finden. Eines Tages nach fünfzehnmonatiger Ehe starb Rougon plötzlich. Ein Sonnenstich, den er sich bei der Arbeit auf einem Möhrenfelde holte, hatte seinem Leben ein jähes Ende gemacht. Seither war kaum ein Jahr verflossen, als die junge Witwe ein unerhörtes Ärgernis hervorrief. An gewissen Anzeichen merkte man, daß sie einen Geliebten habe. Sie schien daraus kein Hehl zu machen; mehrere Leute behaupteten gehört zu haben, wie sie den Nachfolger des armen Rougon öffentlich duzte. Kaum ein Jahr Witwe und schon einen Geliebten! Eine solche Mißachtung aller Rücksichten der Schicklichkeit schien ungeheuer, wider alle gesunde Vernunft.

Was den Skandal noch ärger machte, war die seltsame Wahl, die Adelaide getroffen. In der Saint-Mittre-Sackgasse, in einer Hütte, deren Rückseite sich an das Grundstück der Fouque lehnte, hauste damals ein übel beleumundeter Mensch, den man gemeinhin den » Lumpen Macquart« nannte. Dieser Mensch blieb manchmal wochenlang verschwunden; dann sah man ihn wieder eines Abends plötzlich auftauchen und mit den Händen in den Hosentaschen müßig herumschlendern. Er pfiff sich ein Liedchen und tat, als komme er gerade von einem kleinen Spaziergang heim. Die Weiber, die vor ihren Haustüren saßen, sagten dann wohl: »Da geht der Lump Macquart vorüber! Er wird seine Schmugglerwaren und seine Flinte irgendwo in einer Schlucht des Viornetales versteckt haben.« Soviel war sicher, daß Macquart, ohne Renten zu besitzen, während seines Aufenthaltes in der Stadt aß und trank und nichts arbeitete. Hauptsächlich aber trank er mit wilder Ausdauer. Er saß Abend für Abend allein an einem Tische, im Hintergrunde der Schenkstube, die Augen starr auf sein Glas gerichtet, sah nichts und hörte nichts und vergaß die ganze Welt. Wenn die Kneipe endlich geschlossen ward, ging er seines Weges, festen Schrittes, hoch erhobenen Hauptes, als ob die Trunkenheit ihn aufrichte. »Macquart geht gerade, er ist betrunken« – sagten die Leute, wenn sie ihn so heimkehren sahen. Gewöhnlich, wenn er nicht getrunken hatte, ging er leicht gebeugt, den Blicken der Neugierigen ausweichend, mit einer Art wilder Scheu. Seitdem sein Vater tot war, ein Gerbergehilfe, von dem er eine elende Hütte in der Saint-Mittre-Sackgasse geerbt hatte, kannte man weder Bekannte noch Freunde von ihm. Die Nähe der Grenze und die Nachbarschaft der Wälder des Seillegebirges hatten aus diesem trägen und sonderlich gearteten Menschen einen Schmuggler und Wilddieb gemacht, eines jener Wesen mit verdächtigem Gesichte, von denen man zu sagen pflegt: »Dem möchte ich nicht zur Nachtzeit in einem Walde begegnen.« Macquart war groß, mit magerem Gesichte, furchtbar behaart, ein Schrecken aller Weiber der Vorstadt; sie beschuldigten ihn, kleine Kinder bei lebendigem Leibe zu fressen. Obgleich er kaum dreißig Jahre alt war, schien er fünfzig zu zählen. Unter dem Gestrüpp seines Bartes und den Strähnen seines Haupthaares, die ihm auf das Gesicht herabfielen, sah man nichts als das Leuchten seiner braunen Augen, den verstohlenen, trüben Blick eines Menschen mit unsteten Trieben, den Wein, Elend und Müßiggang schlecht gemacht haben. Obgleich man ihn keines bestimmten Verbrechens zeihen konnte, geschah doch kein Diebstahl und kein Mord in der Gegend, ohne daß man sogleich Macquart verdächtigt hätte. Und dieses Ungeheuer, diesen Landstreicher, diesen Missetäter hatte Adelaide gewählt! Binnen zwanzig Monaten gebar sie ihm zwei Kinder, einen Knaben und dann ein Mädchen. Von einer Heirat war zwischen ihnen niemals die Rede gewesen. Noch niemals hatte man in der Vorstadt eine solche Frechheit in der Sittenlosigkeit gesehen. Die Verwunderung war so groß; der Gedanke, daß Macquart eine junge und reiche Geliebte finden konnte, hatte dermaßen allen Glauben der Frauen erschüttert, daß sie für Adelaide fast mild gestimmt wurden. »Die Ärmste ist ganz toll geworden!« sagten sie; »wenn eine Familie da wäre, hätte man sie längst ins Narrenhaus gebracht.« Und da die Geschichte dieser seltsamen Liebschaft stets unbekannt blieb, beschuldigte man »diesen Halunken Macquart«, daß er den Schwachsinn der armen Adelaide mißbraucht habe, um ihr Vermögen an sich zu bringen.

 

Der gesetzliche Sohn, der kleine Peter Rougon, wuchs mit den außerehelichen Kindern seiner Mutter zusammen auf. Diese hießen Anton und Ursula. Die Mutter behielt sie – die »Wolfsjungen« wie man sie im Stadtviertel nannte – bei sich, ohne sie besser oder schlechter zu behandeln als ihr eheliches Kind. Sie schien keine klare Vorstellung von der Lage zu haben, die diesen beiden armen Geschöpfen im Leben bereitet war. Sie galten ihr einfach als ihre Kinder geradeso wie ihr Erstgeborener. Oft führte sie Peter an der einen, Anton an der anderen Hand, ohne die sehr verschiedene Art zu bemerken, wie man die beiden Kinder betrachtete.

Es war überhaupt ein sonderbares Haus. Schier zwanzig Jahre lebten daselbst Mutter und Kinder nach ihrem Belieben dahin. Alles gedieh da in voller Ungebundenheit. Als sie Frau geworden, blieb sie das große, seltsame Kind, das mit fünfzehn Jahren noch für eine Wilde gegolten hatte. Nicht als ob sie verrückt gewesen wäre, wie die Leute der Vorstadt behaupteten; aber es gab bei ihr einen Mangel an Gleichgewicht zwischen Blut und Nerven, eine Art Zerrüttung des Gehirns und des Herzens, infolge deren sie ein anderes Leben führte als alle Welt. Sich selbst gegenüber war sie sehr natürlich, sehr folgerichtig; aber diese Folgerichtigkeit war in den Augen der Nachbarn die reine Verrücktheit. Wenn sie mit unbegreiflicher Einfalt sich dem bloßen Ansturm ihres Gefühlslebens überließ, hatte es den Anschein, als wolle sie von sich reden machen und als strebe sie dahin, daß bei ihr alles schlimm und schlimmer werde.

Seit ihrer ersten Entbindung war sie Nervenanfällen ausgesetzt, die sie in fürchterliche Zuckungen und Krämpfe versetzten. Diese Anfälle kehrten alle zwei bis drei Monate wieder. Die Ärzte, die zu Rate gezogen wurden, sagten, es lasse sich nichts dawider tun; das Alter werde diese Anfälle mildern. Sie solle halbgares Fleisch essen und Fieberrindenwein trinken. Die häufigen Anfälle zerrütteten ihren Körperbau vollends. Sie lebte Tag für Tag dahin wie ein Kind oder wie ein zahmes Tier, das seinen Trieben folgt. Wenn Macquart auf Schmuggel auszog, brachte sie ihre Tage in müßigem Brüten zu und beschäftigte sich mit ihren Kindern nur insoweit, daß sie sie herzte und mit ihnen spielte. Wenn ihr Liebhaber wiederkam, verschwand sie aus dem Hause.

Hinter der Keusche des Macquart lag ein kleiner Hof, den eine Mauer von dem Grundstück der Fouque trennte. Eines Morgens sahen die Bewohner der Vorstadt zu ihrer nicht geringen Überraschung, daß in diese Mauer eine Türe gebrochen war, die am vorhergehenden Abend noch niemand gesehen hatte. Binnen einer Stunde war die ganze Vorstadt in Aufruhr. Das Liebespaar, hieß es, muß die ganze Nacht daran gearbeitet haben, die Bresche in die Mauer zu legen und eine Tür daselbst anzubringen. Jetzt konnten sie einander ganz frei und ungehindert besuchen. Und das Ärgernis begann von neuem. Man war jetzt gegen Adelaide minder nachsichtig; sie war zur Schmach der Vorstadt geworden; diese Türe, dieses ruhige, freche Eingeständnis ihres Zusammenlebens ward ihr heftiger vorgeworfen als ihre zwei Kinder. »Man muß doch wenigstens den Schein zu wahren suchen« – sagten die nachsichtigsten Frauen. Allein Adelaide wußte nicht, was das heißt: »den Schein wahren.« Sie war sehr glücklich und sehr stolz auf ihre Türe. Sie hatte Macquart geholfen, die Steine aus der Mauer reißen; sie hatte sogar Mörtel bereitet, damit die Arbeit schneller getan sei. Sie erschien denn auch am andern Morgen mit einer kindlichen Freude, um ihr Werk am hellen Tage zu besichtigen. Das war schon der Gipfel der Schamlosigkeit, fanden drei Gevatterinnen, die in einiger Entfernung die noch feuchte Maurerarbeit betrachteten. Von diesem Tage ab sagte man, daß Adelaide, die man jetzt selten mehr sah, mit Macquart in seiner Hütte im Saint-Mittre-Gäßchen lebe.

Der Schmuggler kam sehr unregelmäßig und fast immer unerwartet heim. Man wußte nie genau, welches Leben das Paar während der wenigen Tage führte, die Macquart von Zeit zu Zeit in der Stadt zubrachte. Sie schlossen sich dann ein, und das Häuschen schien unbewohnt. Nachdem die Vorstadt ausgesprochen hatte, daß Macquart Adelaide nur verführt habe, um sie ihres Vermögens zu berauben, war man nachgerade erstaunt, diesen Mann dieselbe Lebensweise führen zu sehen wie früher, als ruhelosen, schlecht gekleideten Landstreicher. Vielleicht liebte ihn die Frau desto mehr, je seltener sie ihn zurückkehren sah; vielleicht hatte er in seinem stürmischen Hang nach einem abenteuerlichen Leben ihren Bitten widerstanden. Man ersann tausend Fabeln, ohne sich ein Verhältnis erklären zu können, das gegen alle vernünftige Gepflogenheit geschlossen und fortgesetzt wurde. Das Häuschen im Saint-Mittre-Gäßchen blieb fest verschlossen und bewahrte seine Geheimnisse. Man vermutete bloß, daß Macquart die Adelaide prügeln müsse, obgleich niemals eine Klage herausdrang. Wiederholt erschien sie mit Beulen im Gesichte und zerzaustem Haar. Im übrigen aber sah man ihr kein Leid und keine Traurigkeit an; auch suchte sie die blauen Flecke nicht im mindesten zu verbergen. Sie lächelte und schien zufrieden. Ohne Zweifel ließ sie sich ohne Klage und Widerstand halbtot prügeln. Länger als siebzehn Jahre währte dieses Leben.

Wenn Adelaide in ihr Haus zurückkehrte, fand sie alles von unterst zu oberst gekehrt; aber es ließ sie gleichgültig. Ihr mangelte jeder praktische Sinn für das Leben; der genaue Wert der Dinge, die Notwendigkeit der Ordnung war ihr unbekannt.

Sie ließ ihre Kinder heranwachsen wie die Pflaumenbäume, die an den Heerstraßen wachsen, dem Regen und Sonnenschein gleichmäßig ausgesetzt. Sie trugen ihre Früchte als Wildling, die weder Säge noch Schere beschnitten. Nie wurde der Natur weniger entgegengearbeitet, nie wuchsen schlimm geartete Kinder freier nach ihren Trieben auf. Sie wälzten sich zwischen den Gemüsebeeten umher, verbrachten ihr Leben im Freien, spielten und balgten sich wie rechte Taugenichtse. Sie stahlen die Vorräte des Hauses, plünderten die wenigen Obstbäume des Gartens und waren – mit einem Worte – die lärmenden, zerstörenden Hausteufel dieser seltsamen Behausung des offenbaren Wahnsinns. Wenn ihre Mutter für ganze Tage verschwand, machten sie einen so heillosen Lärm und kamen auf so teuflische Einfälle, die Nachbarn zu belästigen, daß diese, um sich Ruhe zu schaffen, ihnen oft mit der Peitsche drohen mußten. Adelaide jagte ihnen übrigens keinen sonderlichen Schrecken ein; wenn sie da war, wurden sie den Nachbarn nur deshalb weniger unerträglich, weil sie die Mutter zur Zielscheibe ihrer Bosheiten wählten; sechsmal in der Woche schwänzten sie die Schule und taten alles was sie tun konnten, um sich eine Züchtigung zuzuziehen und dann nach Herzenslust zu plärren. Aber sie prügelte sie nie und erzürnte sich nie; inmitten all dieses Lärmens und Tollens lebte sie still und traumverloren dahin. Mit der Zeit wurde das abscheuliche Gepolter dieser Rangen ihr sogar zu einem Bedürfnis, um die Leere ihres Gehirnes auszufüllen. Wenn sie die Leute sagen hörte: »Ihre Kinder werden sie prügeln und es wird ihr recht geschehen« – lächelte sie sanft. Auf alle solche Bemerkungen schien ihre gleichgültige Haltung zu antworten: »Was liegt daran?« Um ihr Vermögen kümmerte sie sich noch weniger, als um ihre Kinder. Der Fouquesche Garten wäre während der langen Jahre dieses seltsamen Lebens zu einer Wüste geworden, wenn Adelaide nicht das Glück gehabt hätte, die Gemüsezucht einem geschickten Gärtner anzuvertrauen. Dieser Mensch, der den Ertrag des Gartens mit ihr teilen sollte, betrog sie in schändlicher Weise; aber sie merkte es nicht. Die Sache hatte übrigens auch ihre gute Seite; um sie besser übervorteilen zu können, nützte der Gärtner den Grund so viel wie möglich aus, wodurch der Wert des Besitztums erheblich gesteigert wurde.