50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Sei es, daß er durch einen geheimen Instinkt der wahren Sachlage inne wurde, sei es, daß die Art und Weise wie die Außenwelt ihn behandelte, ihm die Augen öffnete: Peter, der legitime Sohn, beherrschte von früher Jugend an seinen Bruder und seine Schwester. Gab es Streit, so prügelte er den Anton, obgleich er schwächer war als dieser. Ursula, ein armes, bleiches, schwächliches Wesen, ward von beiden mißhandelt. Bis zum Alter von 15-16 Jahren prügelten sich die drei Kinder übrigens ganz brüderlich, ohne sich ihren unbestimmten Haß zu erklären und ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, wie sehr sie einander fremd waren. Erst in diesem Alter standen sie einander in bewußter und bestimmter Gegnerschaft gegenüber.

Mit sechzehn Jahren war Anton ein langer Bursche, in welchem die Fehler Macquarts und Adelaidens schon – gleichsam verschmolzen – zutage traten. Doch war Macquart der Stärkere in ihm mit seinem Hang zum Herumstreifen, seiner Trunksucht, seiner Roheit und seinem Jähzorn. Allein unter dem nervösen Einflüsse Adelaidens mengten sich diese Laster, die bei dem Vater einen Zug heißblütigen Freimutes hatten, bei dem Sohne mit tückischer Heuchelei und Feigheit. Anton war seiner Mutter Sohn vermöge eines absoluten Mangels an achtbarem Willen, vermöge der Selbstsucht eines wollüstigen Weibes, einer Selbstsucht, die sie jedes Lotterbett annehmen ließ, wenn sie sich nur mit Behagen darin herumwälzen und warm schlafen konnte. Man sagte von ihm: Dieser Räuber hat nicht einmal den Mut zum Vagabundentum, wie der Macquart; wenn er jemals mordet, wird er es mit Stecknadeln tun.« Was sein Äußeres betrifft, hatte Anton von seiner Mutter nur die dicken, fleischigen Lippen; die anderen Züge hatte er von dem Schmuggler, aber gemildert, verjüngt, beweglich.

Bei Ursula waren im Gegenteil die sittlichen und körperlichen Eigenschaften der Mutter vorherrschend; immerhin fand sich auch bei ihr ein Gemengsel von Eigenschaften des Vaters und der Mutter, nur daß die arme Kleine, die als Zweite geboren war zu einer Zeit, als die leidenschaftliche Anhänglichkeit Adelaidens bereits die ruhiger gewordene Liebe Macquarts beherrschte, mit ihrem Geschlechte auch einen tieferen Eindruck des Gefühlslebens der Mutter empfangen zu haben schien. Es war übrigens hier keine Vereinigung zweier Naturen, sondern vielmehr eine Nebeneinanderstellung, eine seltsam oberflächliche Zusammenschweißung. Ursula war phantastischer Natur und zeigte zuweilen die Wildheit, die Schwermut, die Ausgelassenheit einer Zigeunerin; dann wieder – und dies war viel häufiger – lachte sie in nervösen Ausbrüchen, oder sie träumte selbstvergessen hin wie ein im Herzen wie im Kopfe tolles Weib. Ihre Augen, die manchmal den scheuen Blick Adelaidens zeigten, waren durchsichtig wie Kristall wie bei den jungen Kätzchen, die an der Schwindsucht zugrunde gehen.

Den beiden Bastardkindern gegenüber schien Peter ein Fremder zu sein. Wer nicht die Wurzeln seines Wesens prüfte, mußte finden, daß er von jenen ganz verschieden war. Noch niemals war ein Kind in dem Maße der wohl abgewogene Durchschnitt der zwei Geschöpfe, die ihn gezeugt hatten. Er hielt die richtige Mitte zwischen dem Bauer Rougon und dem nervösen Weib Adelaide. Seine Mutter hatte, indem sie ihn gebar, ein weniger plumpes Exemplar seines Vaters zur Welt gebracht. Die stille, verborgene Arbeit der Charaktere, die mit der Zeit ein Geschlecht verbessert oder zur Entartung treibt, schien mit Peter Rougon die erste Frucht gezeitigt zu haben. Auch er war nur ein Bauer, aber ein Bauer mit einer minder groben Haut und einem minder harten Gesicht, mit einem geschmeidigen, weiter ausgreifenden Verstände. Sein Vater und seine Mutter hatten sich in ihm wechselseitig verbessert. Hatte Adelaidens Natur, die der Aufruhr der Nerven sehr gefällig verfeinerte, die plumpe Schwerfälligkeit Rougons gedämpft und gemildert, so war anderseits die wuchtige Massigkeit des letzteren ein wirksames Hindernis gegen die körperliche Zerrüttung der jungen Frau. Peter kannte weder die Wutausbrüche, noch die krankhaften Träumereien der Wolfsjungen des Macquart. Sehr schlecht erzogen, geräuschvoll wie alle Kinder, die sich selbst überlassen bleiben, besaß er doch einen Bodensatz von Überlegung, der ihn stets abhielt, eine nutzlose Dummheit zu begehen. Sein Laster, sein Müßiggang, seine Genußsucht hatten nicht das instinktive Ungestüm der Laster Antons; er wollte sie vor aller Welt rechtschaffen pflegen und befriedigen. In seiner fetten, mittelgroßen Gestalt, in seinem langen, blassen Gesichte, wo die Züge des Vaters sich durch solche der Mutter verfeinert hatten, las man schon den tückischen Ehrgeiz, das unersättliche Bedürfnis nach Genuß, das kalte Herz und den neidvollen Haß des Bauernsohnes, den das Vermögen und die Nervosität der Mutter zu einem Bürger gemacht hatten.

Als Peter im Alter von siebzehn Jahren die unordentliche Lebensführung seiner Mutter und das eigenartige Verhältnis seiner Geschwister erfuhr und zu erfassen vermochte, war er weder betrübt noch entrüstet, aber er begann über die Haltung nachzudenken, welche er zur Wahrung seiner Interessen beobachten mußte. Von den drei Kindern hatte er allein mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Schule besucht. Ein Bauer, der die Notwendigkeit des Unterrichtes einsieht, wird gewöhnlich ein schlauer Rechner. Die schmähliche Art und Weise, wie die Kinder in der Schule seinen Bruder Anton behandelten, erweckte den ersten Verdacht in ihm. Später erklärte er sich alle die seltsamen Blicke und Reden. Die wüste Wirtschaft im Hause öffnete ihm vollends die Augen. Von nun ab waren Anton und Ursula für ihn unverschämte Schmarotzer, Mäuler, die an seinem Gute zehrten. Seine Mutter beurteilte er genau so wie die übrige Bevölkerung der Vorstadt, d. h. wie ein Weib, das man einsperren müsse, das ihm schließlich sein Vermögen vergeude, wenn er dem nicht rechtzeitig vorbeuge. Was ihn vollends erbitterte, waren die Diebereien des Gemüsegärtners. Über Nacht wurde aus dem ausgelassenen Rangen ein sparsamer, habsüchtiger Bursche, der sehr schnell heranreifte bei dem Anblick der Luderwirtschaft, die er nicht ohne Abscheu länger mit ansehen konnte. Ihm gehörten die Gemüse, deren Erlös zum größten Teil in die Taschen des Gärtners floß; ihm gehörten der Wein und das Brot, das die Bastarde seiner Mutter tranken und aßen. Das ganze Haus, das ganze Vermögen gehörte ihm. Nach seinem Bauernverstande war er, der rechtmäßige Sohn, der alleinige Erbe. Da sein Hab und Gut vermindert wurde, da alle Welt gierig an seinem künftigen Vermögen zehrte, sann er nach Mitteln, alle diese Leute, Mutter, Geschwister, Dienstgesinde an die Luft zu setzen und unverzüglich sein Erbe anzutreten.

Es setzte einen erbitterten Kampf. Der junge Mensch begriff, daß er vor allem die Mutter unschädlich machen müsse. Schritt für Schritt, mit hartnäckiger Geduld verfolgte er einen Plan, dessen Einzelheiten er längst festgestellt hatte. Sein Vorgehen bestand darin, sich vor Adelaide als lebendiger Vorwurf aufzupflanzen. Er geriet nicht in Zorn, machte ihr keine Vorstellungen wegen ihres unordentlichen Lebenswandels; aber er hatte eine Art ersonnen, sie stumm anzuschauen, die der Ärmsten das Blut in den Adern erstarren machte. Wenn sie nach kurzem Verweilen bei Macquart wieder in ihrem Hause erschien, wagte sie nur zitternd zu ihm aufzublicken; sie fühlte seine Blicke kalt und scharf gleich stählernen Spitzen lang und unerbittlich auf sich haften. Die strenge und schweigsame Haltung Peters, dieses Kindes eines von ihr so schnell vergessenen Mannes, verwirrte seltsam ihr armes, krankes Hirn. Sie sagte sich, daß Rougon auferstanden sei, um sie für ihren unsittlichen Lebenswandel zu strafen. Sie bekam jetzt jede Woche einen jener Nervenanfälle, die sie niederwarfen. Man überließ sie ihren Krämpfen; wenn sie das Bewußtsein wiedererlangte, brachte sie ihre Kleider in Ordnung und schleppte sich schwächer als zuvor dahin. Oft brach sie nächtlicherweile in Schluchzen aus, drückte ihren Kopf in ihre Hände und nahm die Züchtigungen Peters als Strafen eines rächenden Gottes hin. Ein anderes Mal wieder verleugnete sie ihn; sie wollte das Blut ihres Herzens nicht wiedererkennen in diesem schwerfälligen Burschen, dessen Ruhe ihr fieberheißes Blut so schmerzlich erstarren machte. Tausendmal lieber wäre es ihr gewesen, Prügel zu bekommen, als in dieser Weise angeschaut zu werden. Diese unversöhnlichen Blicke, die sie überallhin verfolgten, marterten sie schließlich in einer so unerträglichen Weise, daß sie wiederholt den Entschluß faßte, mit ihrem Liebhaber zu brechen; allein sobald Macquart ankam, waren ihre Schwüre vergessen, und sie eilte zu ihm. Wenn sie dann heimkehrte, begann der stumme Kampf noch stummer, noch furchtbarer. Nach Verlauf einiger Monate war sie eine Beute ihres Sohnes. Sie benahm sich in seiner Gegenwart wie ein kleines Mädchen, das nicht sicher ist, ob es sich gut betragen habe, und die Zuchtrute verdient zu haben fürchtet. Als geschickter Bursche, der er war, hatte Peter sie an Händen und Füßen gefesselt, eine untertänige Magd aus ihr gemacht, ohne auch nur den Mund zu öffnen, ohne sich in schwierige und unangenehme Erklärungen einzulassen.

Als der junge Mensch seine Mutter in seiner Gewalt wußte; als er sah, daß er sie wie seine Sklavin behandeln könne, begann er die Schwächen ihres Gehirns und den wahnsinnigen Schrecken, den jeder seiner Blicke ihr einjagte, für seine Interessen auszubeuten. Sobald er Herr im Hause war, war es seine erste Sorge, den Gärtner zu entlassen und durch ein ihm ergebenes Geschöpf zu ersetzen. Er riß die Leitung des Hauses an sich, kaufte, verkaufte, führte die Kasse. Er bemühte sich übrigens nicht im mindesten, seine Mutter von ihrem regellosen Lebenswandel abzubringen oder Anton und Ursula von ihrer Trägheit zu heilen. Er kümmerte sich nicht viel darum, denn er hatte ja die Absicht, sich bei der ersten Gelegenheit all dieser Leute zu entledigen. Er begnügte sich, ihnen das Brot und das Wasser zuzumessen. Als er dann das ganze Vermögen in seinen Händen hatte, harrte er eines Ereignisses, das ihm gestattete, zu seinem Vorteil darüber zu verfügen.

 

Die Umstände sollten seine Pläne in ganz unerwarteter Weise fördern. Als ältester Sohn einer Witwe wurde er vom Militärdienst befreit; dagegen traf zwei Jahre später Anton das Los. Dieser nahm sich die Sache anfänglich nicht gar sehr zu Herzen, denn er dachte, seine Mutter werde einen Ersatzmann für ihn kaufen. Adelaide wollte ihn in der Tat vom Militärdienste retten, allein Peter, der den Säckel verwaltete, wollte hiervon nichts wissen. Der gezwungene Abgang seines Bruders war ein glückliches Ereignis, das seine Pläne vortrefflich förderte. Als seine Mutter ihm von dieser Sache sprach, schaute er sie in einer Weise an, daß sie ihre Rede nicht zu vollenden wagte. Sein Blick sagte: »Deinem Bastard zuliebe willst du mich zugrunde richten?« Sie überließ also Anton seinem Schicksale, weil sie vor allem Ruhe und Frieden haben wollte. Peter, der kein Freund gewaltsamer Mittel war und sich freute, seinen Bruder ohne Zank und Hader an die Luft setzen zu können, spielte jetzt den Trostlosen: das Jahr sei schlecht, es fehle an Geld im Hause, man müsse ein Stück Land verkaufen und dies sei der Anfang des Ruins. Dann gab er Anton sein Wort, ihn im nächsten Jahre loszukaufen, wenngleich er entschlossen war, nichts dergleichen zu tun. Anton ließ sich täuschen und rückte, halb und halb befriedigt, zum Militärdienst ein.

Noch leichter und unverhoffter entledigte er sich seiner Schwester Ursula. Ein Hutmachergehilfe der Vorstadt namens Mouret verliebte sich in das junge Mädchen, das so weiß und schmächtig war wie ein Fräulein aus dem Sankt-Markus-Viertel, und nahm sie zur Frau. Es war dies von seiner Seite eine Liebesheirat, ein unberechneter, leichtfertiger Schritt. Ursula willigte ein, um aus einem Hause fliehen zu können, wo ihr älterer Bruder ihr das Leben unerträglich machte. Ihre Mutter war völlig in ihrer zügellosen Genußsucht aufgegangen und wandte ihre letzte Widerstandkraft daran, sich selbst zu verteidigen. Alles andere war ihr völlig gleichgültig geworden. Sie war froh über Ursulas Scheiden, weil sie hoffte, daß Peter, der nunmehr keinen Gegenstand der Unzufriedenheit und Verfolgung hatte, sie in Frieden, nach ihrem Willen leben lassen werde. Kaum waren die jungen Leute verheiratet, so sah Mouret ein, daß er Plassans verlassen müsse, wenn er nicht Tag für Tag verdrießliche Dinge über seine Frau und seine Schwiegermutter hören wolle. Er zog mit Ursula nach Marseille, wo er sein Handwerk ausübte. Im übrigen hatte er keinen Pfennig Mitgift gefordert. Als Peter, betroffen von eo großer Uneigennützigkeit, einige Erklärungen stammeln wollte, schloß ihm Mouret den Mund: er ziehe es vor, seine Frau durch seiner Hände Arbeit zu ernähren. Der würdige Sohn des Bauern Rougon war darob ganz verblüfft; er witterte hinter diesem Benehmen irgendeine Falle.

Er hatte nunmehr noch mit Adelaide fertig zu werden. Um keinen Preis der Welt wollte Peter noch länger mit ihr zusammenwohnen. Sie gereichte ihm zur Schande. Am liebsten würde er mit ihr den Anfang gemacht haben. Allein er sah sich zwischen zwei sehr unangenehmen Möglichkeiten. Sie im Hause behalten, sich weiter mit ihrer Schande beladen, sich eine schwere Kugel an die Beine schmieden lassen, die ihn in dem kühnen Flug seines Ehrgeizes hindern werde: das war die eine Möglichkeit. Sie aus dem Hause jagen und mit Fingern auf sich als schlechten Sohn zeigen lassen, was alle seine Berechnungen eines scheinbaren Biedermannes über den Haufen geworfen hätte: das war die andere Möglichkeit. Da er fühlte, daß er alle brauchen werde, wollte er seinen Namen bei ganz Plassans in Gunst setzen. Es gab also nur das eine Mittel: Adelaide zu bewegen, daß sie freiwillig gehe. Peter verabsäumte nichts, um dieses Ziel zu erreichen. Er war der Überzeugung, daß alle seine Roheiten durch das regellose Leben seiner Mutter entschuldigt seien. Er strafte sie, wie man ein Kind straft. Die Rollen waren vertauscht. Das arme Weib beugte sich unter diese stets erhobene Peitsche. Sie war kaum zweiundvierzig Jahre alt und hatte das scheue Stammeln, die verstörten, unterwürfigen Mienen einer kindisch gewordenen Greisin. Ihr Sohn fuhr fort, sie mit seinen strengen Blicken zu martern, in der Hoffnung, daß sie fliehen werde, wenn eines Tages ihr Mut zu Ende war. Die Unglückliche litt furchtbar durch die Schande, durch ihre unterdrückten Begierden, durch dieDemütigungen, die sie über sich ergehen ließ; unempfindlich nahm sie die Schläge hin und – kehrte immer zu Macquart zurück, weil sie lieber auf dem Fleck sterben als nachgeben wollte. In manchen Nächten hätte sie zur Viorne laufen und sich ertränken mögen, wenn ihr schwacher Leib eines nervösen Weibes nicht eine entsetzliche Furcht vor dem Tode gehabt hätte. Wiederholt dachte sie daran, zu fliehen und ihren Liebhaber an der Grenze aufzusuchen; sie blieb nur deshalb in diesem Hause, dem verächtlichen Stillschweigen und den geheimen Roheiten ihres Sohnes ausgesetzt, weil sie nicht wußte, wohin sie flüchten solle. Peter sah ein, daß sie ihn längst verlassen haben würde, wenn sie einen Zufluchtsort hätte. Er wartete auf eine Gelegenheit, ihr irgendwo eine kleine Wohnung zu mieten, als ein Zufall, auf den er nicht zu hoffen gewagt hatte, eine plötzliche Verwirklichung seiner Wünsche herbeiführte. Man erfuhr in der Vorstadt, daß Macquart an der Grenze von den Zollwächtern in dem Augenblicke erschossen worden sei, als er eine Ladung Genfer Uhren einschmuggeln wollte. Es hatte seine Richtigkeit mit diesem Gerücht. Selbst der Leichnam des Schmugglers ward nicht nach Plassans gebracht; er ward irgendwo auf einem kleinen Dorfkirchhofe in den Grenzgebirgen eingescharrt. Adelaide ward durch den Schmerz über diesen Verlust um den geringen Rest ihres Verstandes gebracht. Ihr Sohn, der sie neugierig beobachtete, sah sie nicht eine Träne vergießen. Macquart hatte sie zu seiner Erbin gemacht. Sie erbte die Hütte im Saint-Mittre-Sackgäßchen und den Karabiner, den einer der Genossen des Erschossenen ihr ehrlich wiederbrachte. Schon am folgenden Tage zog sie sich in Macquarts Häuschen zurück; sie hängte das Gewehr über dem Kamin an der Wand auf und lebte da still und einsam, abgeschieden von aller Außenwelt.

Endlich war Peter Rougon alleiniger Herr des Hauses.

Der Gemüsegarten der Fouque war tatsächlich, wenn auch nicht rechtlich, in seinem Besitz. Es war ihm nie eingefallen, sich daselbst niederzulassen. Es war für seinen Ehrgeiz ein gar zu enges Gebiet. Die Erde zu bearbeiten, Gemüse zu ziehen schien ihm gemein, seiner Fähigkeiten unwürdig. Es drängte ihn, aus dem Bauernstande herauszutreten. Seine durch den nervösen Charakter der Mutter verfeinerte Natur empfand ein unwiderstehliches Verlangen nach den Freuden des Bürgerstandes. Darum hatte er in allen seinen Plänen den Verkauf des Grundstückes als Lösung in Aussicht genommen. Der Erlös für dieses Grundstück mußte ihm ein hübsches Stück Geld bringen und ihn in den Stand setzen, die Tochter irgendeines Bürgers heimzuführen, der ihn dann zum Genossen seines Geschäftes machen würde. Die Feldzüge des ersten Kaiserreiches lichteten zu jener Zeit sehr stark die Reihen der heiratsfähigen jungen Männer. Die Eltern zeigten sich weniger schwierig in der Wahl ihrer Schwiegersöhne. Peter sagte sich, daß das Geld alles ausgleichen und daß man über den Klatsch der Vorstadt leicht hinweggehen werde. Er wollte sich als Opfer ausgeben, als ein wackeres Herz, das durch die Schmach der Familie leidet, sie beklagt, ohne davon berührt zu werden und ohne sie zu entschuldigen. Seit mehreren Monaten schon hatte er sein Auge auf Felicité Puech, die Tochter eines Ölhändlers geworfen. Das Haus »Puech & Lacamp«, dessen Magazine in einem der dunkelsten Gäßchen der Altstadt lagen, war keineswegs in einem Zustande der Blüte. Es genoß am Platze nur wenig Kredit und man sprach von seinem bevorstehenden Bankerott. Gerade im Hinblick auf diese Gerüchte richtete Peter Rougon seine Hoffnungen nach dieser Seite. Er sah ein, daß ein in guten Verhältnissen befindlicher Kaufmann ihm niemals seine Tochter zur Frau geben werde. Er dachte, in dem Augenblick sein Ziel zu erreichen, wenn der alte Puech nimmer weiter könne, und wollte dann durch seine Klugheit und Tatkraft das Haus neu aufrichten. Das war ein geschicktes Mittel, eine Staffel höher zu steigen, sich um Kopfeslänge über seinen Stand aufzuschwingen. Er wollte vor allem diese abscheuliche Vorstadt fliehen, wo man auf seiner Familie herumtrat; er wollte das schändliche Gerede zum Verstummen bringen, indem er selbst den Namen des Fouqueschen Gartens aus der Welt schaffen würde. Darum schienen die übelriechenden Gassen der Altstadt ihm ein Paradies. Hier erst wollte er eine neue Haut annehmen.

Bald sollte der von ihm so heiß ersehnte Augenblick kommen. Das Haus Puech & Lacamp lag in den letzten Zügen. Der junge Mensch leitete jetzt mit kluger Geschicklichkeit die Unterhandlungen wegen seiner Heirat ein. Er ward nicht gerade wie ein Retter aufgenommen, aber doch wie ein notwendiges und annehmbares Aushilfsmittel. Als die eheliche Verbindung eine beschlossene Sache war, schritt er zum Verkaufe des Gemüsegartens. Der Eigentümer des Jas-Meiffren, der seinen Besitz abrunden wollte, hatte ihm schon wiederholt Anerbietungen gemacht; bloß eine dünne, niedrige Mauer schied die beiden Besitztümer voneinander. Peter rechnete auf den Wunsch seines Nachbars, eines sehr reichen Mannes, der, um seine Laune zu befriedigen, bereit war, bis zu fünfzigtausend Franken zu gehen. Dies hieß den Gemüsegarten mit dem Zweifachen seines Wertes bezahlen. Mit der Schlauheit eines Bauern ließ Peter sich erst bitten; er wolle nicht verkaufen, sagte er; niemals werde seine Mutter einwilligen, ein Besitztum wegzugeben, auf dem die Fouque seit zweihundert Jahren von Geschlecht zu Geschlecht gelebt hatten. Doch während er zu zögern schien, bereitete er den Verkauf vor. Es waren einige Bedenken in ihm wach geworden. Nach seiner rücksichtslosen Logik gehörte der Garten ihm, und hatte er das Recht, darüber nach seinem Belieben zu verfügen. Allein auf dem Grunde dieser Sicherheit regte sich die unbestimmte Ahnung, daß er mit dem Gesetze in Widerspruch geraten könne. Er entschloß sich, einen Gerichtsvollzieher der Vorstadt zu Rate zu ziehen. Da erfuhr er schöne Dinge. Der Gerichtsvollzieher meinte, Peter habe in dieser Sache gebundene Hände. Seine Mutter allein dürfe den Garten veräußern. Dies hatte er vermutet; aber was er nicht gewußt hatte und was wie ein Keulenschlag auf ihn wirkte, war die Nachricht, daß auch Anton und Ursula, die Bastarde, die Wolfsjungen, Rechte auf dieses Besitztum hätten. Was? dieses Hurenpack wollte ihn, den legitimen Sohn, berauben? Doch die Ausführungen des Gerichtsvollziehers waren ganz klar. Adelaide habe Rougon allerdings unter der Bedingung der Gütergemeinschaft geheiratet; allein da das ganze Vermögen in unbeweglichem Besitztum bestand, war die Frau nach dem Tode des Gatten im Sinne des Gesetzes wieder seine alleinige Eigentümerin geworden; da anderseits Macquart und Adelaide ihre Kinder anerkannt hatten, waren diese Miterben des Vermögens ihrer Mutter. Als einziger Trost erfuhr Rougon, daß das Gesetz den Anteil der außerehelichen Kinder zugunsten der ehelichen verkürze. Aber dies war ihm kein Trost, denn er wollte alles haben. Nicht zehn Sous würde er mit Anton und Ursula geteilt haben. Diese Bresche des Gesetzes eröffnete ihm neue Gesichtspunkte, die er mit einer eigentümlich nachsinnenden Miene prüfte. Er sah bald ein, daß ein geschickter Mensch das Gesetz stets auf seine Seite bringen müsse. Ohne jemanden zu Rate zu ziehen – selbst den Gerichtsvollzieher nicht, dessen Argwohn er zu erwecken fürchtete – ersann er folgendes. Er wußte, daß er über seine Mutter gebieten könne wie über seine Sache. Eines Morgens führte er sie zu einem Notar und ließ sie eine Verkaufserklärung unterzeichnen. Wenn man ihr nur ihre Keusche im Saint-Mittre-Gäßchen ließ, war Adelaide bereit, ganz Plassans zu verkaufen. Peter sicherte ihr übrigens eine Jahresrente von sechshundert Franken zu und schwor ihr hoch und teuer, daß er seine Geschwister nicht verlassen werde. Ein solcher Schwur beruhigte das arme Weib. Sie sagte vor dem Notar alles her, was ihr Sohn ihr eingetrichtert hatte. Am folgenden Tage ließ der junge Mann sie ein Papier unterschreiben, in dem sie den Empfang von fünfzigtausend Franken als Erlös für den Gemüsegarten bestätigte. Dies war sein Hauptstreich. Seiner Mutter, die erstaunt war, ein solches Schriftstück unterzeichnen zu müssen, da sie doch keinen Heller gesehen hatte, sagte er, es sei dies bloß eine Formsache ohne alle Folgen. Indem er das Papier in seine Tasche steckte, dachte er: »Nun mögen die Wolfsjungen mich zur Rechenschaft ziehen; ich werde sagen, die Alte habe alles aufgezehrt. Sie werden es niemals wagen, mir den Prozeß zu machen.« Acht Tage später war die Scheidemauer verschwunden; der Pflug ging über die Gemüsebeete hinweg; der Fouquesche Garten ward zu einer Fabel, wie Rougon es gewünscht hatte. Einige Monate später ließ der Eigentümer des Jas-Meiffren selbst das alte Wohnhaus der Gemüsegärtner niederreißen.

 

Als Peter die fünfzigtausend Franken in Händen hatte, heiratete er Felicité Puech. Sie war ein kleines, schwarzes Weib, wie man in der Provence so viele sieht. Sie erinnerte an jene braunen, dürren, zirpenden Grillen, die in ihrem regellosen Flug mit den Köpfen an die Mandelbäume stoßen. Mager, flachbrüstig, mit spitzigen Schultern und dem Gesicht eines Marders mit merkwürdig scharfen, ausgeprägten Zügen schien sie kein bestimmtes Alter zu haben; man hätte sie ebensogut für fünfzehn Jahre wie für dreißig Jahre alt halten können, obgleich sie nur neunzehn Jahre zählte, um vier weniger als ihr Gatte. Eine katzenhafte Schlauheit lag in ihren schwarzen, schmalen Augen, die wie mit dem Bohrer ausgehöhlt waren. Ihre niedrige, gewölbte Stirne; ihre an der Wurzel leicht eingedrückte Nase, deren Flügel sich stark aushöhlten, fein und empfindlich waren, wie um die Gerüche besser aufzunehmen; die schmale, rote Linie der Lippen; das vorspringende Kinn, das durch seltsame Höhlungen sich an die Wangen anschloß; dieses ganze Gesicht einer schlauen Zwergin war wie die lebendige Maske der Intrige, des ruhelosen und neidvollen Ehrgeizes. Zur Häßlichkeit gesellte sich bei Felicité ein Reiz, der sie fast verführerisch machte. Man sagte von ihr, daß sie nach ihrem Belieben schön oder häßlich war. Dies schien von der Art und Weise abzuhängen, wie sie ihr wahrhaft prachtvolles Haar in Knoten schürzte; noch mehr aber hing es von dem triumphierenden Lächeln ab, das ihre goldbraune Gesichtsfarbe erhellte, wenn sie über jemanden den Sieg davon getragen zu haben glaubte. Gewissermaßen unter einem Unstern geboren und vom Schicksal sich benachteiligt wähnend, fügte sie sich zumeist in den Gedanken, für häßlich zu gelten. Im übrigen gab sie den Kampf nicht auf; sie hatte den Vorsatz gefaßt, eines Tages durch die Schaustellung ihres Reichtums und ihres schamlosen Prunkes die ganze Stadt vor Neid bersten zu machen. Und hätte sie ihr Leben auf einem größeren Schauplatze abspielen können, wo ihr aufgeschlossener Verstand sich frei hätte entfalten können, sie würde sicherlich bald ihren Glückstraum verwirklicht haben. Ihre Verstandeskräfte waren denen der anderen Mädchen ihrer Klasse und ihrer Ausbildung weit überlegen. Die bösen Zungen behaupteten, daß ihre Mutter, die einige Jahre nach ihrer Geburt gestorben war, in der ersten Zeit ihrer Ehe sehr eng befreundet gewesen sei mit dem Marquis von Carnavant, einem jungen Edelmann auf dem Sankt-Markus-Viertel. In Wahrheit hatte Felicité Füße und Hände einer Marquise, die dem Geschlechte von Arbeitern, aus dem sie abstammte, fremd zu sein schienen.

Die Altstadt war einen vollen Monat darüber verwundert, daß sie den Peter Rougon heiratete, diesen halben Bauern, diesen Vorstadtmenschen, dessen Familie keineswegs im Geruche der Heiligkeit stand. Sie ließ die Leute reden und nahm mit einem eigentümlichen Lächeln die gezwungenen Glückwünsche ihrer Freundinnen entgegen. Ihre Rechnung war gemacht; sie wählte Rougon als ein Mädchen, das einen Gatten nimmt, wie man einen Mitschuldigen nimmt. Indem ihr Vater den jungen Menschen in seine Familie aufnahm, sah er nichts als die fünfzigtausend Franken, die ihn vor dem Bankerott retteten. Allein Felicité hatte schärfere Augen. Sie schaute in die ferne Zukunft und fühlte das Bedürfnis, einen gesunden, wenn auch ein wenig bäuerischen Mann zu haben, hinter dem sie sich verbergen und dessen Arme und Beine sie nach ihrem Belieben in Bewegung setzen konnte. Sie war von einem sehr gesunden Haß erfüllt gegen die Provinzherrchen, gegen dieses schwindsüchtige Volk von Notarsgehilfen und künftigen Advokaten, die in Erwartung der Praxis ein Jammerleben führten. Da sie keine Mitgift besaß und darauf verzichten mußte, den Sohn eines reichen Kaufmannes zu heiraten, zog sie einen Bauer, aus dem sie ein willfähriges Werkzeug zu machen hoffte, tausendmal irgendeinem dürren Angestellten vor, der sie mit seiner Überlegenheit eines Studierten erdrücken und mit ihr das ganze jämmerliche Leben hindurch eitlen Trugbildern nachjagen würde. Sie dachte, das Weib müsse den Mann formen. Sie fühlte sich stark genug, aus einem Kuhhirten einen Minister zu bilden. Was sie bei Rougon verführte, war die breite Brust und der untersetzte, einer gewissen Eleganz nicht entbehrende Rumpf. Ein so gebauter Bursche mußte mit Leichtigkeit die Welt von Ränken tragen, die sie ihm aufzubürden gedachte. Wußte sie die Kraft und Gesundheit ihres Gatten zu schätzen, so hatte sie anderseits bald heraus, daß er weit entfernt war, ein Schwachkopf zu sein. Sie erriet, daß in diesem vierschrötigen Körper ein geschmeidiger, schlauer Geist wohne; doch fehlte viel, daß sie ihren Rougon kannte; sie hielt ihn für dümmer, als er war. Einige Tage nach ihrer Vermählung fand sie durch Zufall in einem Schubfache die von Adelaide unterschriebene Empfangsbestätigung über fünfzigtausend Franken. Sie begriff die Sache sogleich und war entsetzt. Sie war eine Natur von durchschnittlicher Ehrlichkeit, und die Mittel dieser Art widerstrebten ihr. Aber in ihren Schrecken mengte sich ein Zug von Bewunderung. Rougon erschien ihr jetzt als ein sehr schlauer Mensch.

Das junge Ehepaar machte sich wacker daran, Vermögen zu erwerben. Das Haus Puech & Lacamp war weniger erschüttert, als Peter gedacht hatte. Die Schuldensumme war nicht groß, nur fehlte es an Geld. Der Handel wird in der Provinz mit einer solchen Vorsicht geführt, daß ihm nur selten große Katastrophen drohen. Puech & Lacamp aber waren ganz besonders bedächtige Leute; sie zitterten, wenn sie tausend Taler an ein Geschäft wagen sollten, darum konnte denn auch ihre Firma zu keiner Bedeutung gelangen. Die fünfzigtausend Franken, die Peter mitbrachte, genügten, um die Schulden zu bezahlen und dem Geschäfte eine größere Ausdehnung zu geben. Der Beginn war vom Glücke begünstigt. In drei aufeinander folgenden Jahren gab es reichliche Ölernten. In einem kühnen Einfall, der Peter und den alten Puech erschreckte, bewog Felicité die Männer, eine bedeutende Menge Öl zu kaufen und einzulagern. Die nächsten zwei Jahre ergaben eine Mißernte, wie die junge Frau es vorausgesehen hatte. Die Ölpreise gingen in die Höhe, und sie konnten ihre Vorräte mit erheblichem Nutzen verkaufen.

Kurze Zeit nach diesem Glückszug traten Puech und Lacamp aus der Gesellschaft aus. Sie waren mit dem bescheidenen Gewinn zufrieden, den sie erzielt hatten und hatten nur mehr den Ehrgeiz, als Rentenbesitzer ihre Tage zu beschließen.

Das junge Ehepaar war jetzt allein Herr im Hause und dachte, künftig das Glück festzuhalten.

Du hast mein Pech besiegt, sagte Felicité manchmal zu ihrem Gatten.

Eine der wenigen Schwächen dieser energischen Natur war die, daß sie sich vom Unglück verfolgt wähnte. Bisher – so behauptete sie – sei ihnen, ihr und ihrem Vater, noch nichts geglückt trotz all ihrer Anstrengungen. Von der südländischen Abergläubigkeit ermuntert rüstete sie sich zum Kampfe gegen das Schicksal, wie man gegen eine Person von Fleisch und Bein kämpft, die uns verderben will.