50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Die Tatsachen sollten alsbald ihre Besorgnisse in seltsamer Weise bestätigen. Das Pech kam unerbittlich wieder. Jedes Jahr kam ein neues Unglück, um das Haus Rougon zu erschüttern. Ein Bankerottierer schädigte es um einige tausend Franken; die Wahrscheinlichkeitsberechnungen erwiesen sich infolge unglaublicher Umstände als falsch; die sichersten Berechnungen schlugen jämmerlich fehl. Es war ein Kampf aufs Messer.

Nun siehst du wohl, daß ich unter einem Unstern geboren bin, sagte Felicité bitter.

Aber sie setzte nur um so energischer den Kampf fort; sie begriff nicht, weshalb sie, die für das erste Wagnis eine so feine Witterung gehabt hatte, ihrem Gatten jetzt nur unglückselige Ratschläge gab.

Peter war sehr niedergeschlagen. Da er weniger Ausdauer besaß, würde er ohne die verbissene Hartnäckigkeit seiner Frau schon zwanzigmal das Geschäft aufgelassen haben. Sie wollte durchaus reich werden. Ihr Ehrgeiz konnte nur auf dem Reichtum bauen. Mit einem Vermögen von einigen hunderttausend Franken würden sie die Herren der Stadt werden; sie würde ihren Mann auf eine wichtige Stelle ernennen lassen; mit einem Worte: sie würde regieren. Der Kampf um die Ehrenstellen machte ihr keine Sorge; sie fühlte sich seltsam gerüstet dafür. Dagegen verließ sie ihre Stärke, als es sich darum handelte, die ersten Säcke Taler zu erwerben. Vor der Kunst, die Menschen zu behandeln, schrak sie nicht zurück; dagegen empfand sie eine Art ohnmächtiger Wut angesichts dieser kalten, weißen Münzen, über die ihr Ränkegeist keine Macht hatte, und die so blöd waren, nicht kommen zu wollen.

Über dreißig Jahre dauerte der Kampf. Als Puech starb, war dies ein neuer Keulenschlag. Felicité, die vierzigtausend Franken nach ihm zu erben gehofft hatte, erfuhr zu ihrem Entsetzen, daß der alte Egoist sein Vermögen einer Altersversorgung verschrieben hatte. Diese Nachricht warf Felicité auf das Krankenbett. Sie verbitterte immer mehr, ward immer dürrer, immer herber. Wenn man sah, wie sie vom Morgen bis zum Abend die Ölkrüge umkreiste, hätte man glauben mögen, daß sie durch dieses ewige, unruhige, fliegenartige Umherschwärmen ihren Verkauf beschleunigen wolle. Ihr Mann hingegen ward immer schwerfälliger; das Pech machte ihn fett und weich. Diese dreißig Jahre fortwährenden Kampfes warfen sie aber doch nicht vollends auf die Strecke. Bei jeder Jahresrechnung fanden sie, daß sie beiläufig mit heiler Haut davongekommen waren; die Verluste eines Jahres brachten sie im folgenden Jahre wieder herein. Dieses Leben, das man sozusagen von Tag zu Tag fortfristen mußte, trieb Felicité schier zur Verzweiflung.

Sie hätte einen vollständigen Bankerott vorgezogen. Vielleicht hätten sie dann ihr Leben von vorne beginnen können, anstatt sich damit abzurackern, den täglichen Bissen Brot zu erwerben.

Allerdings muß gesagt werden, daß sie gleich in den ersten Jahren ihrer Ehe mehrere Kinder bekamen, die ihnen mit der Zeit eine schwere Bürde wurden. Felicité erwies sich, wie so viele kleine Frauen, von einer Fruchtbarkeit, die man ihrem schwächlichen Körperbau niemals zugemutet haben würde. Im Zeitraume von fünf Jahren, in den Jahren 1811-15, gebar sie drei Söhne; in den darauf folgenden vier Jahren gab sie noch zwei Töchtern das Leben. Im ruhigen Provinzleben gedeihen die Kinder am besten. Die Rougonschen Ehegatten nahmen die zuletzt gekommenen zwei Kinder ziemlich übel auf. Wenn die Mitgift fehlt, sind die Töchter eine arge Verlegenheit. Rougon sagte jedem, der es hören wollte, daß es genug sei und mit Teufelsdingen zugehen müsse, wenn noch ein sechstes komme. In der Tat hörte Felicité auf, Kinder zu gebären; es wäre sonst schwer zu sagen, bis zu welcher Zahl sie gegangen wäre.

Die junge Frau betrachtete übrigens diese Kinderschar nicht als eine Ursache ihres Ruins. Im Gegenteil; sie richtete auf den Köpfen ihrer Söhne das Gebäude ihres Glückes wieder auf, das zwischen ihren Händen in Trümmern sank. Sie zählten noch nicht zehn Jahre, als sie schon eine fertige Zukunft für sie träumte. Da sie daran zweifelte, jemals aus eigener Kraft ans Ziel zu gelangen, setzte sie ihre Hoffnungen auf ihre Söhne, um so die Hartnäckigkeit des Schicksals zu überwinden. Sie sollten ihr enttäuschungsreiches Streben verwirklichen; sie sollten ihr jene reiche und beneidete Stellung verschaffen, der sie bisher vergebens nachgejagt war. Ohne den durch ihr Handlungshaus geführten Kampf aufzugeben, verfolgte sie von da ab noch eine zweite Taktik, um endlich doch zur Befriedigung ihrer herrschsüchtigen Triebe zu gelangen. Es schien ihr unmöglich, daß es unter ihren drei Söhnen nicht einen einzigen Mann von überlegenem Geiste geben solle, der sie alle reich machen werde. Sie fühlte dies, sagte sie. Darum pflegte sie auch die Kinder mit einem Eifer, in dem die Strenge der Mutter mit der Liebe des Wucherers sich mengte. Sie gefiel sich darin, sie sorgfältig zu mästen wie ein Kapital, das später hohe Zinsen tragen solle.

Laß doch! pflegte Peter zu schreien. Alle Kinder sind undankbar. Du verdirbst sie; du richtest uns zugrunde.

Wenn Felicité davon sprach, die Söhne auf die hohe Schule zu schicken, wurde er böse. Das Lateinische sei ein überflüssiger Luxus; es genüge, sie eine kleine Privatschule besuchen zu lassen, die es in der Nachbarschaft gab. Allein die junge Frau ließ nicht locker; ihr Streben ging höher hinaus; sie setzte ihren Stolz darein, sich mit unterrichteten Kindern zu schmücken; sie fühlte überdies, daß ihre Kinder nicht so ungebildet bleiben dürften wie ihr Vater, wenn sie einst große Männer werden sollten. Sie träumte davon, daß alle drei in Paris hohe Stellen einnehmen würden, die sie nicht näher zu bezeichnen wußte. Als Rougon nachgegeben hatte und die drei Jungen das Kollegium besuchten, genoß Felicité die größte Freude, die die Befriedigung ihrer Eitelkeit ihr jemals bereiten konnte. Sie war entzückt, wenn sie hörte, wie sie untereinander von ihren Professoren und Studien sprachen. An dem Tage, an dem der Älteste in ihrer Gegenwart den Jüngsten rosa, die Rose deklinieren ließ, glaubte sie eine himmlische Musik zu hören. Es muß zu ihrem Lobe gesagt werden, daß ihre Freude damals frei war von jeder Berechnung. Rougon selbst überließ sich der Genugtuung des ungebildeten Menschen, der seine Kinder besser unterrichtet sieht, als er selbst es ist. Die Kameradschaft, die sich ganz natürlich zwischen ihren Söhnen und jenen der vornehmsten Leute der Stadt entwickelte, berauschte die Rougonschen Eheleute vollends. Ihre Söhne duzten den Sohn des Bürgermeisters, des Unterpräfekten und sogar einige junge Edelleute, die das St.-Markus-Viertel in das Kollegium zu Plassans zu schicken sich herabgelassen hatte. Felicité meinte, eine solche Ehre könne nicht zu teuer bezahlt werden. Die Ausbildung der drei Söhne war eine schwere Last für den Haushalt der Familie Rougon.

Solange die Jungen noch nicht ihre Abgangsprüfung hinter sich hatten, lebten die Eltern, die sie mit schweren Opfern auf der Schule erhielten, in der Hoffnung auf ihre Erfolge. Als sie ihre Zeugnisse hatten, wollte Felicité ihr Werk vollenden: sie bestimmte ihren Gatten, alle drei nach Paris zu senden. Zwei betrieben die Rechtsstudien, der dritte wurde Arzt. Als sie endlich fertige Männer waren, als sie das Haus Rougon vollständig »ausgepumpt« hatten und sie sich genötigt sahen, nach der Provinz zurückzukehren und sich daselbst seßhaft zu machen, begann für die armen Eltern die Enttäuschung. Die Provinz schien ihre Beute wieder an sich reißen zu wollen. Die drei jungen Leute wurden schwerfällig und schläfrig. Die ganze Bitterkeit ihres Unglücks stieg Felicité wieder in die Brust. Ihre Söhne trieben sie in den Bankerott. Sie hatten sie zugrunde gerichtet und trugen ihr nicht die Zinsen des Kapitals, das sie darstellten. Dieser letzte Schicksalsschlag war ihr um so empfindlicher, als er sie gleichzeitig in ihrem weiblichen Ehrgeiz und in ihrer mütterlichen Eitelkeit traf. Rougon wiederholte ihr vom Morgen bis zum Abend: »Ich habe es dir vorausgesagt!« – was sie noch mehr erbitterte.

Als sie eines Tages ihrem Ältesten die Summen vorwarf, die seine Ausbildung verschlungen hatte, erwiderte er in bitterem Tone:

Ich werde euch später bezahlen, wenn ich kann. Waret ihr ohne Vermögen, so hättet ihr Arbeiter aus uns machen sollen. Wir sind gesunkene Menschen und leiden dadurch mehr als ihr.

Felicité erfaßte den tiefen Sinn dieser Worte. Von diesem Tage ab hörte sie auf, ihre Kinder zu beschuldigen; sie wandte ihren Groll gegen das Schicksal, das nicht müde ward, sie zu verfolgen. Sie begann von neuem ihre Klagen und jammerte über den Mangel an Vermögen, der schuld daran sei, daß sie knapp am Hafen untergehen müsse. Wenn Rougon ihr sagte: »Deine Söhne sind Taugenichtse; sie werden uns bis ans Ende aussaugen« – erwiderte sie herb: »Wollte Gott, daß ich ihnen noch Geld geben könnte; die armen Jungen vegetieren nur, weil sie mittellos sind.«

Zu Beginn des Jahres 1848, knapp vor der Februarrevolution, befanden sich die drei Söhne Rougon zu Plassans in sehr unsicheren Stellungen. Sie boten damals ein interessantes, sehr verschieden geartetes Bild, obgleich sie parallel aus der nämlichen gesellschaftlichen Schicht hervorgegangen waren. Im ganzen genommen waren sie besser als ihre Eltern. Es hatte den Anschein, daß das Geschlecht der Rougon sich durch die Frauen verfeinern sollte. Adelaide hatte aus Peter einen mittelmäßigen Geist mit niedrigem Streben gemacht; Felicité hatte ihren Söhnen höhere Verstandeskräfte gegeben, die sie zu großen Lastern und zu großen Tugenden befähigten.

Zu jener Zeit war Eugen, der Älteste, nahezu vierzig Jahre alt. Er war ein Mann von mittlerem Wüchse, mit ziemlich kahlem Scheitel und einer Neigung zur Fettleibigkeit. Er hatte das Gesicht seines Vaters, ein langes Gesicht mit breiten Zügen. Man merkte, daß unter der Haut das Fett liege, das die Rundungen verweichlichte und der Haut die gelblichweiße Farbe des Wachses verlieh. Allein, wenn man an der massiven, vierschrötigen Gestaltung des Kopfes noch den Bauer erkannte, so verwandelte, verklärte sich das Gesicht nach innen, wenn unter den schweren Lidern der Blick aufleuchtete. Die Schwerfälligkeit des Vaters war bei dem Sohne zum Ernst geworden. Dieser dicke Mensch sah gewöhnlich aus, als ob er in tiefem Schlafe liege; wenn man ihn gewisse breite, müde Bewegungen machen sah, glaubte man einen Riesen vor sich zu haben, der die Glieder reckt, um sich zur Tat zu rüsten. Vermöge einer jener angeblichen Launen der Natur, deren Gesetze die Wissenschaft allmählich zu erkennen beginnt, schien es, als ob bei Eugen Rougon die leibliche Ähnlichkeit mit dem Vater eine vollständige sei, während die Mutter das denkende Element geliefert habe. Eugen bot das seltsame Beispiel dar, daß gewisse Herzens- und Verstandeseigenschaften der Mutter in dem vierschrötigen, schwerfälligen Leibe des Vaters eingeschlossen waren. Er hatte einen hochfliegenden Ehrgeiz, herrschsüchtige Triebe, eine seltsame Mißachtung für die kleinen Mittel und kleinen Erfolge. Er war ein Beweis dafür, daß Plassans sich vielleicht in der Mutmaßung nicht irrte, daß Felicité einige Tropfen adeligen Blutes in den Adern habe. Die Sucht nach Reichtum und Genuß, die sich bei den Rougon außerordentlich entwickelte und gleichsam das charakteristische Merkmal der Familie war, nahm bei ihm die am meisten veredelte Form an; er wollte genießen, aber mit dem Verstande, indem er zugleich seine Herrschergelüste befriedigte. Ein solcher Mann war nicht dazu geschaffen, in der Provinz an sein Ziel zu gelangen. Er fristete da fünfzehn Jahre sein Leben, die Augen stets auf Paris gerichtet und auf die Gelegenheit lauernd. Um nicht das Brot seiner Eltern zu essen, hatte er bei seiner Rückkehr in die Vaterstadt sich in die Liste der Advokaten aufnehmen lassen. Von Zeit zu Zeit hatte er eine Sache vor Gericht zu vertreten; er erwarb dabei schlecht und recht seinen Unterhalt und schien im übrigen sich wenig über die rechtschaffene Mittelmäßigkeit zu erheben. In Plassans fand man, daß er eine schleimige Stimme und schwerfällige Gebärden habe. Nur selten gewann er den Prozeß eines Klienten; zumeist trat er aus der Frage heraus, er »schweifte ab«, wie die gescheiten Köpfe der Stadt sich ausdrückten. Besonders bei einer Gelegenheit, da er eine Klage auf eine Entschädigung und Interessen zu vertreten hatte, vergaß er sich und verlor sich in politischen Betrachtungen in dem Maße, daß der Präsident ihm das Wort entziehen mußte. Er setzte sich mit einem eigentümlichen Lächeln nieder. Sein Klient wurde verurteilt, eine beträchtliche Summe zu bezahlen, was aber den Advokaten seine Abschweifungen nicht im mindesten bedauern ließ. Seine Advokatenreden vor Gericht schien er einfach als Übungen zu betrachten, die ihm später zugute kommen sollten. Das war es, was Felicité nicht begriff und was sie verzweifelt machte; sie hätte gewünscht, daß ihr Sohn dem Zivilgericht von Plassans Gesetze diktiere. Schließlich bildete sie sich eine sehr ungünstige Meinung von ihrem ältesten Sohne; dieser schläfrige Bursche werde den Ruhm der Familie nicht begründen, sagte sie. Peter hingegen hatte volles Vertrauen zu ihm; nicht als ob er scharfsichtiger gewesen wäre, als seine Frau, sondern weil er sich an die Oberfläche hielt und er sich selbst schmeichelte, indem er an das Genie eines Sohnes glaubte, der sein lebendiges Ebenbild war. Einen Monat vor den Februarereignissen ward Eugen unruhig; ein merkwürdiges Witterungsvermögen ließ ihn die Krise ahnen. Von da ab brannte ihm das Pflaster von Plassans unter den Füßen. Man sah ihn wie eine verlorene Seele auf den Spazierwegen herumirren. Dann faßte er plötzlich einen Entschluß und reiste nach Paris ab. Er hatte nicht fünfhundert Franken in der Tasche.

 

Aristides, der jüngste der Söhne Rougon, war sozusagen der gerade Gegensatz Eugens. Er hatte das Gesicht und die Habgier seiner Mutter; er war ein tückischer, zu gemeinen Ränken neigender Charakter, in dem die Triebe des Vaters vorherrschten. Die Natur hat oft Bedürfnisse des Gleichmaßes. Klein von Wuchse, mit einem Affengesicht, das einem seltsam geschnitzten, in einen Bajazzokopf auslaufenden Spazierstockgriffe ähnlich sah, trieb sich Aristides überall suchend, forschend, wühlend herum; er kannte keine Bedenken, denn es drängte ihn, Geld zu erwerben, Wohlstand zu genießen. Er liebte das Geld, wie sein ältester Bruder die Macht liebte. Während Eugen davon träumte, ein Volk unter seine Macht zu beugen, und sich an seiner künftigen Allmacht berauschte, sah Aristides sich als zehnfachen Millionär, in einem fürstlichen Palaste wohnend, gut essend und trinkend, mit allen Sinnen und Organen seines Körpers das Leben genießend. Er wollte vor allem sehr schnell reich werden. Wenn er ein Luftschloß baute, so erhob es sich in seinem Geiste wie durch Zauberspruch; vom Abend bis zum Morgen erwarb er ganze Tonnen Goldes. Dies behagte seiner Trägheit um so mehr, als er sich niemals um die Mittel kümmerte und die raschesten ihm auch die besten dünkten. Das Geschlecht der Rougon, dieser schwerfälligen, habsüchtigen Bauern mit den tierischen Begierden, hatte zu schnell gereift. Alle Bedürfnisse des materiellen Genusses entwickelten sich in Aristides, verdreifacht durch die übereilte Erziehung, noch unersättlicher und gefährlicher, seitdem sie durch die Vernunft geleitet wurden. Trotz ihrer weiblichen Scharfsicht zog Felicité diesen Burschen vor; sie fühlte nicht, daß Eugen weit mehr ihr Sohn war; sie entschuldigte die Trägheit und die dummen Streiche ihres Jüngsten unter dem Vorwande, daß dieser der große Mann der Familie sein werde und daß ein den übrigen überlegener Mann das Recht habe, ein regelloses Leben zu führen bis zu dem Tage, an dem die Macht seiner Fähigkeiten entdeckt werde. Aristides setzte ihre Nachsicht auf eine harte Probe. In Paris führte er ein müßiges Luderleben; er ward einer jener Studenten, die in den Kneipen des Quartier Latin ihre Vorlesung hören. Er blieb übrigens nur zwei Jahre daselbst. Als sein entsetzter Vater sah, daß er nach zwei Jahren keine einzige Prüfung gemacht hatte, hielt er ihn in Plassans zurück und schlug ihm vor, ihm eine Frau zu suchen, weil er hoffte, daß die Sorgen der Häuslichkeit einen ordentlichen Menschen aus ihm machen würden. Aristides ließ sich verheiraten. Zu jener Zeit sah er noch nicht klar in seinem Streben; das Provinzleben gefiel ihm; er fühlte sich wohl in seiner kleinen Vaterstadt, wo er aß und trank und spazieren ging, wenn er nicht schlief. Felicité redete ihm mit einem solchen Eifer das Wort, daß Peter einwilligte, dem jungen Ehepaar die Wohnung und Verpflegung zu geben unter der Bedingung, daß Aristides sich ernstlich den Geschäften des Hauses widmen werde. Und jetzt begann für den jungen Herrn ein herrliches Faulenzerleben; er brachte seine Tage und den größten Teil seiner Nächte im Klub zu, floh das Büro seines Vaters, wie ein träger Schüler die Schule flieht, und verspielte die wenigen Taler, die seine Mutter im geheimen ihm zusteckte. Man muß in einem kleinen Provinzorte gelebt haben, um das Tierleben recht zu verstehen, das Aristides in dieser Weise vier Jahre lang führte. So gibt es in jeder kleinen Stadt eine Anzahl von Wesen, die auf Kosten ihrer Familie leben, zuweilen tun, als ob sie arbeiten wollten, aber in Wirklichkeit nur ihrer Trägheit frönen. Aristides war das Muster der unverbesserlichen Taugenichtse, die man in wollüstiger Trägheit sich durch die Öde des Provinzlebens schleppen sieht. Vier Jahre lang tat er nichts als Ecarté spielen. Während er im Kasino lebte, half seine Frau, eine weiche, stille Blondine, durch einen ausgesprochenen Geschmack für schreiende Toiletten und einen ungeheuren Appetit (merkwürdig genug bei einem so schwächlichen Wesen!) den Ruin des Hauses Rougon beschleunigen. Angela – so hieß sie – schwärmte für himmelblaue Bänder und Lendenbraten. Sie war die Tochter eines Kapitäns im Ruhestande, den man den Major Sicardot nannte, eines wackeren Mannes, der ihr zehntausend Franken, seine gesamten Ersparnisse, mit in die Ehe gegeben hatte. Peter hatte, indem er Angela für seinen Sohn erkor, ein sehr gutes Geschäft zu machen geglaubt, so niedrig schlug er Aristides im Werte an. Diese Mitgift von zehntausend Franken, die bei ihm den Ausschlag gegeben, sollte später ein Mühlstein an seinem Halse werden. Sein Sohn war ein schlauer Gauner; er händigte dem Vater die zehntausend Franken ein, indem er sein Geschäftsgenosse ward; er spielte den Uneigennützigen und wollte keinen Sou behalten.

Wir brauchen nichts, sagte er. Ihr werdet uns aushalten, mich und meine Frau, und wir werden später einmal abrechnen.

Peter war in Geldverlegenheit und nahm den Vorschlag an, allerdings nicht ohne Unruhe wegen der Uneigennützigkeit des Aristides. Dieser sagte sich, daß sein Vater vielleicht lange Zeit keine zehntausend Franken flüssig haben werde, um sie ihm wiederzugeben und daß er und seine Frau auf des Vaters Kosten ein feines Leben führen würden, solange die Geschäftsverbindung nicht gelöst werden könne. Diese paar Bankbilletts waren wunderbar angelegt. Als der Ölhändler begriff, wie man ihn herumgekriegt, war es ihm nicht mehr möglich, sich des Aristides zu entledigen; Angelas Mitgift war in Spekulationen angelegt, die einen schlimmen Ausgang nahmen. Er mußte das junge Ehepaar bei sich behalten; darob war er erbittert, denn der starke Appetit seiner Schwiegertochter und die Faulenzerei seines Sohnes nagten ihm am Herzen. Hätte er sie bezahlen können, er hätte dieses »Gewürm, das sein Blut trank« – wie er sich in seiner kräftigen Weise ausdrückte – schon zwanzigmal an die Luft gesetzt. Felicité unterstützte sie im geheimen. Der junge Mensch, der ihre ehrgeizigen Träume durchschaut hatte, setzte ihr jeden Abend wunderbare Pläne, Reichtum zu erwerben, auseinander, Pläne, die er binnen kurzem zu verwirklichen gedachte. Vermöge eines seltenen Zufalles stand sie mit ihrer Schwiegertochter auf gutem Fuße; allerdings muß gesagt werden, daß Angela keinen Willen hatte und daß man über sie verfügen konnte wie über ein Einrichtungsstück. Peter geriet in Zorn, wenn seine Frau ihm von den künftigen Plänen ihres jüngsten Sohnes sprach; er beschuldigte ihn seinerseits, daß er eines Tages den Ruin ihres Hauses herbeiführen werde. Während der vier Jahre, welche das junge Ehepaar in seinem Hause zubrachte, wütete und wetterte er so, seine ohnmächtige Wut in Zänkereien auslassend, ohne Aristides und Angela im geringsten aus ihrer lächelnden Ruhe herauszubringen. Sie hatten sich da niedergelassen, sie blieben auch da wie unbewegliche Massen. Endlich machte Peter ein gutes Geschäft, und er konnte seinem Sohne die zehntausend Franken wiedergeben. Als er mit ihm abrechnen wollte, erhob Aristides so viele Einwendungen und Schwierigkeiten, daß er ihn ziehen lassen mußte, ohne auch nur einen Sou für die Verpflegung und Wohnung zurückzubehalten. Die jungen Eheleute mieteten sich in der Nähe ein, auf einem kleinen Platze der Altstadt, Sankt-Ludwigsplatz genannt. Die zehntausend Franken waren bald aufgezehrt, denn sie mußten sich einrichten.

Aristides änderte übrigens nichts an seiner Lebensweise, so lange es noch Geld im Hause gab. Als das letzte Hundertfrankenbillett an die Reihe kam, ward er nervös. Man sah ihn mit verdächtiger Miene in der Stadt umherirren. Er nahm seinen Kaffee nicht mehr im Kasino; er schaute mit fieberhafter Ungeduld anderen Spielen zu, ohne selbst eine Karte zu berühren. Das Elend machte ihn noch schlechter, als er war. Lange hielt er ihm stand, indem er sich hartnäckig weigerte, etwas zu arbeiten. Im Jahre 1840 bekam er einen Sohn, der auf den Namen Maxime getauft wurde und den seine Großmutter Felicité glücklicherweise auf die hohe Schule tat, wo sie im geheimen die Pension für ihn bezahlte. So aß doch einer weniger in Aristides' Hause; allein die arme Angela starb schier Hungers und der Mann mußte sich endlich doch um eine Beschäftigung umtun. Es gelang ihm, in der Unterpräfektur unterzukommen. Dort blieb er nahezu zehn Jahre und brachte es nicht weiter, als bis zu achtzehnhundert Franken Jahresgehalt. Seit jener Zeit lebte er von Haß und Galle erfüllt, in der unausgesetzten Gier nach dem Wohlstande, die ihn verzehrte, dahin. Seine untergeordnete Stellung verbitterte ihn; die ärmlichen 150 Franken, die man ihm jeden Monat in die Hand steckte, schienen ihm ein Hohn des Glückes. Noch nie war ein Mann von einem solchen Durste, seine leiblichen Begierden zu befriedigen, verzehrt. Felicité, der er seine Leiden klagte, war es ganz recht, ihn darben zu sehen; sie dachte, daß das Elend ihn vielleicht aus seiner Trägheit herausreißen werde. Die Ohren gespitzt, immer auf dem Anstand schaute er umher wie ein Dieb, der auf einen guten Fang lauert. Zu Beginn des Jahres 1848, als sein Bruder nach Paris ging, dachte er einen Augenblick daran, ihm dahin zu folgen. Allein Eugen war unverheiratet; er, Aristides, konnte sein Weib nicht so weit mitschleppen, ohne eine beträchtliche Summe Geldes in der Tasche zu haben. Er wartete denn, auf eine Katastrophe lauernd und bereit, die erstbeste Beute zu erwürgen.

 

Der andere Rougonsche Sohn, namens Pascal, der zwischen Eugen und Aristides geboren war, schien gar nicht zu dieser Familie zu gehören. Es war einer jener häufigen Fälle, welche die Gesetze der Vererbung zu verleugnen scheinen. Die Natur bringt oft inmitten eines Geschlechtes ein Wesen hervor, dessen Elemente sie aus ihren eigenen schöpferischen Kräften holt. Bei Pascal erinnerte nichts an die leiblichen oder geistigen Eigenschaften der Rougon. Groß von Gestalt, mit sanftem, ernstem Antlitz, hatte er eine Geradheit des Geistes, eine Liebe zur Arbeit, ein Bedürfnis der Bescheidenheit, die in seltsamem Gegensatz zu dem fieberhaften Ehrgeiz und dem wenig gewissenhaften Treiben seiner Familie standen. Nachdem er in Paris seine medizinischen Studien mit ausgezeichnetem Erfolge beendet hatte, zog er sich aus Neigung nach Plassans zurück trotz der vorteilhaften Anerbietungen seiner Professoren. Er liebte das ruhige Provinzleben; er behauptete, für einen Gelehrten tauge es besser als das Pariser Getöse. Als er sich in Plassans niedergelassen hatte, bemühte er sich keineswegs, den Kreis seiner Praxis auszudehnen. Da er sehr einfach lebte und den Reichtum verachtete, konnte er sich mit den wenigen Kranken begnügen, die der bloße Zufall ihm sandte. Sein ganzer Luxus bestand in einem kleinen, lichten, luftigen Häuschen der Neustadt, wo er in klösterlicher Abgeschiedenheit lebte, mit dem Studium der Naturgeschichte eifrig beschäftigt. Für die Physiologie hatte er eine ganz besondere Vorliebe. Man erfuhr in der Stadt, daß er dem Totengräber oft Leichen abkaufte, weshalb denn auch gewisse zartfühlende Damen und schwachmütige Bürger einen Abscheu vor ihm hatten. Glücklicherweise ging man nicht so weit, ihn für einen Zauberer zu halten; aber seine Praxisverringerte sich jetzt noch mehr; man betrachtete ihn als einen Sonderling, dem die Leute aus der guten Gesellschaft nicht einmal die Spitze ihres kleinen Fingers anvertrauen durften, wenn man sich keine Blöße geben wollte. Eines Tages hörte man die Frau des Bürgermeisters sagen:

Lieber möchte ich sterben, als mich von diesem Herrn behandeln zu lassen. Er riecht ja nach dem Tode.

Seit jenem Tage war über Pascal das Urteil gesprochen. Er schien geradezu glücklich über diese dumpfe Furcht, die er einflößte. Je weniger Kranke er hatte, desto mehr konnte er sich mit den ihm so teuren Wissenschaften beschäftigen. Da er für seine ärztlichen Besuche ein sehr mäßiges Entgelt forderte, blieb das Volk ihm treu. Er erwarb gerade so viel, wie er zu seinem Lebensunterhalte brauchte, und er lebte zufrieden tausend Meilen weit von den Leuten der Gegend, inmitten der reinen Freuden seiner Forschungen und Entdeckungen. Von Zeit zu Zeit sandte er eine Arbeit an die Akademie der Wissenschaften nach Paris. In Plassans hatte man keine Ahnung davon, daß dieser Sonderling, dieser Herr, der nach dem Tode roch, in der wissenschaftlichen Welt ein sehr bekannter und sehr geschätzter Mann war. Wenn man ihn am Sonntag zu einem Ausfluge in die Berge von Garrigues aufbrechen sah, mit der Botanisierbüchse um den Hals und dem Steinklopfer in der Hand, zuckte man nur mit den Achseln und verglich ihn mit den übrigen Ärzten der Stadt, die so saubere Halsbinden trugen, mit den Damen so honigsüß redeten und so fein nach Veilchenduft rochen. Auch von seinen Verwandten wurde Pascal nicht besser verstanden. Als Felicité ihn sein Leben in einer so seltsamen und kläglichen Weise einrichten sah, war sie ganz betroffen und machte ihm den Vorwurf, daß er ihre Hoffnungen betrogen habe. Sie, die Aristides' Trägheit duldete, weil sie glaubte, sie werde reiche Erfolge zeitigen, konnte nicht ohne Zorn die bescheidene Lebensweise Pascals sehen, seine Vorliebe für die Zurückgezogenheit, seine Mißachtung für den Reichtum, seinen festen Entschluß, abseits für sich zu leben. Fürwahr, nicht dieses Kind wird jemals ihre Erwartungen erfüllen.

Woher stammst du eigentlich? sagte sie ihm manchmal. Du bist gar nicht von unserer Familie. Schau deine Brüder an, wie sie aus der Ausbildung, die wir ihnen geben ließen, Nutzen zu ziehen suchen. Du aber machst nichts als Dummheiten. Du lohnst uns wahrlich schlecht, daß wir uns schier zugrunde gerichtet haben, um dir eine Erziehung zu geben. Nein, du bist keiner der Unseren.

Pascal, der lieber lachte als sich ärgerte, erwiderte heiter mit feinem Spott:

Beklage dich nicht, Mutter; ich will euch nicht vollends bankerott machen; wenn ihr krank werdet, behandle ich euch alle umsonst.

Er besuchte seine Familie übrigens nur selten, wobei er nur seiner Neigung folgte, ohne deswegen ein Widerstreben zur Schau zu tragen. Ehe Aristides in die Unterpräfektur eingetreten war, hatte er ihn wiederholt unterstützt. Er war Junggeselle geblieben und hatte keine Ahnung von den ernsten Ereignissen, die sich vorbereiteten. Seit zwei, drei Jahren beschäftigte er sich mit den wichtigen Fragen der Vererbung, indem er die tierischen Gattungen mit dem Menschengeschlechte verglich, und vertiefte sich in die Beobachtung der seltsamen Ergebnisse, zu denen er dabei gelangte. Die Wahrnehmungen, die er an sich selbst und an seiner Familie gemacht, waren gleichsam der Ausgangspunkt seiner Studien. Das Volk begriff in seiner unbewußten Erkenntnis so genau, in welchem Maße er von den Rougon verschieden war, daß man ihn einfach Herrn Pascal nannte, ohne jemals seinen Familiennamen hinzuzufügen.

Drei Jahre vor der Revolution 1848 gaben Peter und Felicité den Handel auf. Das Alter kam; beide hatten das fünfzigste Jahr überschritten, sie waren des Kampfes müde. Angesichts ihrer geringen Erfolge fürchteten sie vollends auf die Streu zu kommen, wenn sie hartnäckigerweise den Handel fortsetzten. Ihre Söhne hatten ihnen den Gnadenstoß gegeben, indem sie sie um ihre Hoffnungen betrogen. Jetzt, da sie daran zweifelten, jemals durch sie reich zu werden, wollten sie sich wenigstens einen Bissen Brot für ihre alten Tage sichern. Sie hatten mit einem Sparpfennig von höchstens 40 000 Franken sich zurückgezogen. Diese Summe sicherte ihnen eine Rente von 2000 Franken, gerade genug, um ein ärmliches Provinzleben zu fristen. Glücklicherweise waren sie allein, da es ihnen gelungen war, ihre beiden Töchter Martha und Sidonie zu verheiraten, die eine nach Marseille, die andere nach Paris.

Nach Auflassung ihres Geschäftes wären sie gerne nach der Neustadt gezogen, wo die Kaufleute im Ruhestande lebten. Aber sie wagten es nicht; ihre Rente war zu bescheiden, sie fürchteten daselbst eine klägliche Figur zu machen. Um eine Art Mittelweg zu wählen, mieteten sie sich in der Banne-Straße ein, in einer Straße, welche das alte Stadtviertel von der Neustadt scheidet. Da ihre Wohnung in jener Häuserzeile lag, welche die Altstadt abschließt, wohnten sie zwar noch in dem Stadtviertel des gemeinen Volkes; aber sie sahen von ihren Fenstern aus wenige Schritte vor sich die Stadt der reichen Leute; sie befanden sich an der Schwelle des verheißenen Landes.