50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
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Ihre im zweiten Stockwerk gelegene Wohnung bestand aus drei großen Zimmern. Sie hatten ein Speisezimmer, einen Salon und ein Schlafzimmer daraus gemacht. Im ersten Stock wohnte der Hauseigentümer, ein Regenschirmhändler, dessen Laden im Erdgeschoß lag. Das schmale und nicht tiefe Haus hatte bloß zwei Stockwerke. Als Felicité einzog, preßte es ihr das Herz zusammen. Bei anderen Leuten zu wohnen ist in der Provinz ein Geständnis der Armut. Jede wohlhabende Familie in Plassans hat ihr eigenes Haus; die Häuser waren daselbst zu sehr niedrigen Preisen zu kaufen. Peter hielt die Hand fest am Säckel und wollte nichts von Verschönerungen der Wohnung hören; die alten, fadenscheinigen, abgenützten, schlotterbeinigen Möbel mußten weiter dienen, ohne auch nur eine Ausbesserung zu erfahren. Felicité, welche die Gründe dieser Knickerei sehr wohl begriff, gab sich alle erdenkliche Mühe, diesen Trümmern einen neuen Glanz zu verleihen; gewisse allzu schadhafte Möbelstücke leimte und nagelte sie notdürftig zusammen; den abgenützten Samt der Sessel besserte sie aus.

Das Eßzimmer, das gleich der Küche nach dem Hofe zu lag, blieb fast leer. Ein Tisch und ein Dutzend Stühle verloren sich fast im Halbdunkel dieses großen Raumes, dessen einziges Fenster eine Aussicht auf die graue Mauer des Nachbarhauses bot. Da außer ihnen beiden niemand das Schlafzimmer betrat, hatte Felicité daselbst die außer Gebrauch gesetzten Möbel untergebracht; nebst dem Bette, einem Spind, einem Schreibpulte und einem Toilettentische sah man daselbst zwei Wiegen übereinander gestellt, einen Speiseschrank ohne Türen, einen leeren Bücherkasten: lauter altehrwürdiges Gerümpel, das die alte Frau hinauszuwerfen sich nicht entschließen konnte. Ihre ganze Sorgfalt aber galt ihrem Salon. Es gelang ihr fast, einen bewohnbaren Ort aus ihm zu machen. Da waren Möbel von blaßgelbem Samt mit eingewebten Seidenblumen. In der Mitte stand ein Tischchen mit Marmorplatte; Konsolen mit Spiegeln darüber standen an beiden Enden des Salons. Sogar ein Teppich war da, der allerdings nur die Mitte des Fußbodens bedeckte, und ein Hängeleuchter, umgeben von einer Hülle aus weißer Musseline, die mit Fliegenschmutz wie übersät war. An den Wänden hingen sechs Bilder, die die großen Schlachten Napoleons darstellten. Diese Einrichtung stammte noch aus den ersten Jahren des Kaiserreiches. Felicité setzte bei ihrem Gatten so viel durch, daß zur Verschönerung des Raumes die Wände mit einer orangegelben Papiertapete belegt wurden. So hatte der Salon eine seltsam gelbe Farbe bekommen, die ihm ein trügerisches, blendendes Licht verlieh; die Möbel, die Tapete, die Vorhänge waren gelb; der Teppich, die Marmorplatten auf dem Tisch und den Konsolen spielten ins Gelbliche. Wenn die Vorhänge geschlossen waren, bestand ein ziemlicher Einklang zwischen diesen Farbenschattierungen, und der Salon bot einen fast sauberen Anblick. Allein Felicité hatte einen ganz anderen Luxus geträumt. Mit stummer Verzweiflung sah sie dieses schlecht verhüllte Elend. Gewöhnlich hielt sie sich im Salon, dem besten Zimmer der Wohnung auf. Eine ihrer liebsten und zugleich bittersten Zerstreuungen war es, sich an eines der Fenster dieses Zimmers zu setzen, die auf die Banne-Straße gingen. Von hier sah sie schräg hinüber nach dem Platze der Unterpräfektur. Da war das Paradies ihrer Träume. Dieser kleine, kahle, saubere Platz mit den hell gestrichenen Häusern schien ihr ein Eden. Zehn Jahre ihres Lebens hätte sie dafür hingegeben, eines dieser Häuser ihr Eigen zu nennen. Das Haus an der linken Ecke, wo der Steuereinnehmer wohnte, führte sie ganz besonders in Versuchung. Es gelüstete sie danach mit der Gier eines schwangeren Weibes. Manchmal, wenn die Fenster der Wohnung des Einnehmers offen waren und sie einige Stücke des reichen Mobiliars sah, glaubte sie beim Anblick dieses Luxus, daß der Schlag sie rühren müsse.

Zu jener Zeit machten die Rougon eine seltsame Krise der Eitelkeit und der unbefriedigten Begierden durch. Die wenigen guten Regungen, die sie noch gehabt, verdarben jetzt. Sie gaben sich als Opfer des Mißgeschicks, aber ohne sich zu fügen, vielmehr heißhungriger denn je und mehr denn je entschlossen, nicht eher zu sterben, als bis ihre Begierden befriedigt sein würden. Trotz ihres vorgerückten Alters gaben sie keine einzige ihrer Hoffnungen auf; Felicité sagte, sie habe das Vorgefühl, daß sie reich sterben werde. Aber mit jedem Tage lastete ihre Armut schwerer auf ihnen. Wenn sie ihre vergeblichen Anstrengungen überdachten; wenn sie sich ihrer in ewigem Kampfe verlebten dreißig Jahre erinnerten, der Enttäuschungen, die ihre Kinder ihnen bereitet hatten, und wenn sie sehen mußten, wie aus ihren Luftschlössern dieser gelbe Salon geworden war, dessen Vorhänge sie herabziehen mußten, um seine Häßlichkeit zu verbergen: wurden sie von tiefer Wut ergriffen. Um sich zu trösten, entwarfen sie dann ungeheuere Glückspläne und suchten nach unerhörten Möglichkeiten; Felicité träumte, daß sie das große Los mit hunderttausend Franken gewann; Peter bildete sich ein, daß er irgendeine wunderbare Spekulation durchführen werde. Sie lebten in einem einzigen Gedanken: ihr Glück machen, sogleich, in wenigen Stunden; reich werden, genießen, und sei es auch nur ein Jahr lang. Ihr ganzes Wesen strebte rücksichtslos und ohne Unterlaß diesem Ziele zu. Sie zählten noch immer halb und halb auf ihre Söhne, mit der Selbstsucht solcher Eltern, die sich nicht mit dem Gedanken befreunden können, ihre Kinder zur Schule geschickt zu haben, ohne für ihre Person einen Nutzen davon zu haben.

Felicité schien gar nicht gealtert; sie war noch immer die kleine, schwarze Frau, die nicht ruhig sitzen konnte und die immer umherhüpfte und summte wie eine Grille. Wer sie von rückwärts gesehen hätte, wie sie auf dem Bürgersteig dahin trippelte, würde sie nach ihren mageren Schultern und ihrem schmächtigen Wüchse für ein Mädchen von fünfzehn Jahren gehalten haben. Auch ihr Gesicht hatte sich nicht verändert; es war nur hohler geworden und sah immer mehr und mehr dem Frätzchen eines Hausmarders ähnlich; man hätte ihren Kopf für den eines Kindes gehalten, der zu Pergament eingetrocknet war, ohne seine Züge zu verändern.

Was Peter Rougon betrifft, so hatte er Fett angesetzt; er war ein Achtung gebietender Bürger geworden, dem nichts als eine große Rente fehlte, um ein ganz und gar würdiger Herr zu sein. Sein schwammiges, bleiches Gesicht, seine Schwerfälligkeit, seine schläfrige Miene, alles schien Geld zu schwitzen. Eines Tages hörte er einen Bauer, der ihn nicht kannte, ausrufen: »Der Dicke da muß ein rechter Geldprotz sein, der um sein Mittagsmahl gewiß nicht verlegen ist.« Diese Bemerkung traf ihn im Innersten des Herzens; er hielt es für einen grausamen Scherz des Schicksals, ein armer Teufel geblieben zu sein, während er die Fette und die zufriedene Würde eines Millionärs zur Schau trug. Wenn er sich am Sonntag vor seinem handtellergroßen Spiegel rasierte, sagte er sich, daß er mit Frack und weißer Halsbinde bei dem Herrn Unterpräfekten eine viel bessere Figur machen würde als gar mancher von den Würdenträgern der Stadt. Dieser Bauernsohn, den die Sorgen seines Handels gebleicht hatten, der bei seiner sitzenden Lebensweise dick geworden war und seine gehässigen Begierden unter der natürlichen Ruhe seiner Züge verbarg, hatte in der Tat die nichtssagende, feierliche Miene, die tölpelhafte Vierschrötigkeit, die einen Mann in einem vornehmen Salon eine so vorteilhafte Figur machen lassen. Man behauptete, daß seine Frau ihn am Gängelbande führe; darin aber täuschte man sich. Er war von einem tierischen Eigensinn; stieß er an einen klar ausgesprochenen, fremden Willen, so konnte er dermaßen in Zorn geraten, daß er bereit war dreinzuhauen. Allein Felicité war zu schlau, als daß sie ihn durch Widerspruch gereizt hätte; die lebhafte Schmetterlingsnatur dieser zwerghaften Frau vermied es, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen; wenn sie von ihrem Manne etwas erlangen oder ihn nach einer Richtung drängen wollte, die sie für die bessere hielt, umschwärmte sie ihn mit ihrem Heuschreckenflug, stach ihn von allen Seiten, kam hundertmal auf ihren Gegenstand zurück, bis er nachgab, ohne es zu merken. Er hatte übrigens das Bewußtsein, daß sie klüger sei als er, und ließ sich geduldig ihre Ratschläge gefallen. Nützlicher als die Schmeißfliege versah übrigens Felicité manchmal alle Arbeit des Hauses, während sie ihrem Manne mit ihren Plänen um die Ohren summte. Die beiden Ehegatten – so selten diese Erscheinung auch sein mag – warfen ihre Mißerfolge niemals einander vor; bloß die Frage der Ausbildung der Kinder entfesselte manchmal ein kleines häusliches Unwetter.

Die Revolution vom Jahre 1848 traf denn die Rougon vor der Bresche, erbittert über ihr Mißgeschick und bereit, dem Glücke Gewalt anzutun, wenn sie es irgendwo, an der Krümmung eines Weges treffen würden. Es war eine Familie von Wegelagerern im Hinterhalte, bereit die Ereignisse beim Schopf zu nehmen. Eugen stand in Paris auf der Lauer; Aristides war bereit, Plassans zu erdrosseln; die Eltern, die vielleicht am gierigsten unter allen waren, gedachten auf eigene Faust zu arbeiten und überdies aus der Arbeit ihrer Söhne Nutzen zu ziehen. Bloß Pascal, dieser stille Liebhaber der Wissenschaft, führte das schöne, einsame Leben eines Verliebten in seinem freundlichen Häuschen in der Neustadt.

Kapitel Neunzig

In Plassans, dieser verschlossenen Stadt, wo die Sonderung der Klassen im Jahre 1848 noch sehr scharf zum Ausdruck kam, war die Rückwirkung der politischen Ereignisse eine sehr schwache. Noch heutzutage erstickt daselbst die Stimme des Volkes; die Bürgerschaft setzt ihre Bedächtigkeit, der Adel seine stumme Verzweiflung, die Geistlichkeit ihre Schlauheit dafür ein. Mögen Könige sich einen Thron stehlen, oder Republiken gegründet werden: es berührt diese Stadt kaum. Wenn man in Paris sich schlägt, dann schläft man in Plassans. Allein mag die Oberfläche auch ruhig und gleichgültig erscheinen, es gibt doch im Grunde eine verborgene Arbeit, die sehr interessant zu beobachten ist. Wohl sind die Flintenschüsse nur selten in den Straßen, dagegen werden die Salons der Neustadt und des Sankt-Markus-Viertels von unaufhörlichen Ränken verzehrt. Bis zum Jahre 1830 zählte das Volk für nichts. Heute noch handelt man dort so, als ob es nicht da wäre. Alles wird zwischen der Geistlichkeit, dem Adel und der Bürgerschaft abgemacht. Die sehr zahlreichen Priester geben in der Politik der Stadt den Ton an. Es gibt da unterirdische Minen, Schläge im Dunkeln, eine scharfsinnige und vorsichtige Taktik, die kaum alle zehn Jahre einen Schritt vor oder zurück gestattet. Diese geheimen Kämpfe von Männern, die vor allem den Lärm vermeiden wollen, erheischen eine ganz besondere Schlauheit, eine Geschicklichkeit in der Handhabung der kleinen Dinge, eine Geduld von Leuten, die jeder Leidenschaft bar sind. Die provinziale Bedächtigkeit und Langsamkeit, über die man sich in Paris so gerne lustig macht, ist in Wirklichkeit voll Verräterei, geheimer Feindseligkeiten, stiller Siege und Niederlagen. Wenn diese wackeren Männer ihr Interesse auf dem Spiele wissen, töten sie fein säuberlich in den Zimmern mit Nasenstübern, wie wir in den Straßen der Hauptstadt mit Kanonenschüssen töten.

 

Die politische Geschichte von Plassans bietet gleich der aller kleinen Städte der Provence eine interessante Eigentümlichkeit. Bis zum Jahre 1830 blieben die Einwohner fromme Katholiken und eifrige Königstreue; das Volk schwur bei Gott und seinem rechtmäßigen König. Hernach fand eine seltsame Wandlung statt; der Glaube schwand, die Arbeiter und Bürger ließen die Sache der Rechtmäßigkeit im Stich und folgten allmählich der großen demokratischen Bewegung unserer Zeit. Als die Revolution im Jahre 1848 ausbrach, wirkten nur die Geistlichkeit und der Adel für den Sieg der Sache Heinrichs V. Lange Zeit hatten sie die Herrschaft der Orléans als einen lächerlichen Versuch betrachtet, der früher oder später zur Wiederkehr der Bourbonen führen mußte. Obgleich ihre Hoffnungen arg erschüttert waren, nahmen sie dennoch den Kampf auf, entrüstet über die Niedertracht ihrer ehemaligen Getreuen und bemüht, sie wieder für sich zu gewinnen. Das Sankt-Markus-Viertel machte sich, unterstützt von allen Pfarren, ans Werk. Nach den Ereignissen in den Februartagen war die Freude der Bürgerschaft und besonders des Volkes groß. Diese Lehrlinge der Republik hatten es eilig, ihr revolutionäres Fieber auf den Markt zu tragen. Allein für die Rentiers der Neustadt hatte diese Begeisterung nur den Glanz und die Dauer eines Strohfeuers. Die kleinen Grundbesitzer, die Kaufleute im Ruhestande, alle jene, die unter der Monarchie gefaulenzt oder ein Vermögen erworben hatten, wurden alsbald von einem panischen Schrecken ergriffen; die Republik mit ihren Erschütterungen ließ sie für ihre Kasse und für ihr liebgewordenes selbstsüchtiges Dasein zittern. Als daher im Jahre 1849 die klerikale Reaktion kam, ging fast die gesamte Bürgerschaft von Plassans zur konservativen Partei über. Sie wurde hier mit offenen Armen aufgenommen. Noch niemals hatte die Neustadt so enge Beziehungen zum Sankt-Markus-Viertel. Manche Edelleute gingen so weit, einfachen Advokaten und ehemaligen Ölhändlern die Hand zu reichen. Diese unerwartete Vertraulichkeit entzückte die Neustadt, die von nun ab die republikanische Regierung wütend bekämpfte. Die Geistlichkeit mußte wahre Wunder an Geschicklichkeit und Geduld aufbieten, um auch ihrerseits eine ähnliche Annäherung herbeizuführen. Im Grunde befand sich der Adel von Plassans gleich einem Sterbenden in einem Zustande unüberwindlicher Starre; er behielt seinen Glauben, aber er war von dem Schlafe der Erde übermannt; er zog es vor, nichts zu tun und alles dem Himmel zu überlassen; gerne würde er durch sein bloßes Stillschweigen Verwahren gegen die Geschehnisse eingelegt haben, weil er vielleicht das unbestimmte Gefühl hatte, daß seine Götter tot seien und daß ihm nichts mehr übrig blieb, als sich zu jenen zu versammeln. Selbst in jener Zeit des Umsturzes, als die Katastrophe vom Jahre 1848 geeignet war, den Adel einen Augenblick an die Wiederkehr der Bourbonen glauben zu lassen, erwies er sich als gleichmütig, schläfrig; er sprach wohl davon, sich in das Getümmel zu stürzen, zog es aber vor, am warmen Kamin zu bleiben. Der Klerus bekämpfte ohne Unterlaß dieses Gefühl der Ohnmacht und Entsagung; die Geistlichkeit betrieb dieses Geschäft mit einer wahren Leidenschaft. Wenn ein Priester verzweifelt, so kämpft er nur um so erbitterter; die ganze Politik der Kirche besteht darin, gerade fortzugehen, allem zu trotzen und jahrhundertelang auf die Verwirklichung ihrer Entwürfe zu warten, wenn es notwendig ist; keine Stunde zu verlieren, in unausgesetzter Arbeit immer vorwärts zu streben. In Plassans war es also die Geistlichkeit, die die Reaktion anführte, der Adel lieh nur den Namen dazu her; die Geistlichkeit barg sich hinter dem Adel und leitete diesen; ja, sie vermochte ihm sogar ein gewisses Scheinleben einzuflößen. Als es ihr gelungen war, das Widerstreben des Adels in dem Maße zu besiegen, daß sie ihn bewog, gemeinsame Sache mit der Bürgerschaft zu machen, glaubte sie des Sieges sicher zu sein.

Der Boden war wunderbar vorbereitet; diese alte königstreue Stadt, diese Bevölkerung von friedfertigen Bürgern und feigen Handelsleuten mußte kraft des Verhängnisses früher oder später zur Partei der Ordnung übergehen. Mit seiner geschickten Taktik beschleunigte der Klerus diese Bekehrung. Nachdem er die Haus- und Grundbesitzer der Neustadt gewonnen hatte, gelang es ihm, die Krämer des alten Stadtviertels zu überzeugen. Von da ab war die Reaktion Herrin der Stadt. In dieser Reaktion waren alle Meinungen vertreten. Noch nie hatte man ein solches Gemenge von unzufriedenen Liberalen, von Legitimisten, Orleanisten, Bonapartisten und Klerikalen gesehen. Aber das hatte einstweilen nichts zu bedeuten; es handelte sich vor allem darum, die Republik tot zu machen, und die Republik lag im Sterben. Ein Bruchteil des Volkes, etwa tausend Arbeiter von zehntausend Seelen der Stadt, grüßten noch den Freiheitsbaum, der in der Mitte des Präfekturplatzes errichtet war.

Die feinsten Politiker von Plassans, jene, die die reaktionäre Bewegung leiteten, witterten nur sehr spät das Auftauchen des Kaiserreiches. Die Volkstümlichkeit des Prinzen Louis Napoleon schien ihnen ein vorübergehender Taumel der Menge, mit dem man leicht fertig werden könne. Die Person des Prinzen selbst flößte ihnen nur eine mäßige Bewunderung ein. Sie hielten ihn für einen unbedeutenden hohlen Träumer, der unfähig sei, die Hand auf Frankreich zu legen und im besonderen unfähig, sich in der Macht zu erhalten. Für sie war er nur ein Werkzeug, dessen sie sich zu bedienen gedachten, ein Werkzeug, der Säuberung, das sie von sich werfen würden, sobald die Stunde schlagen würde, da der wahre Prätendent auftreten sollte. Indessen verflossen die Monate, und sie wurden allmählich unruhig. Da erst tauchte die unbestimmte Erkenntnis in ihnen auf, daß sie betrogen wurden. Allein man ließ ihnen nicht die Zeit, irgendeinen Entschluß zu fassen; der Staatsstreich brach über ihren Köpfen los und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als »ja« zu sagen; die große Metze, die Republik, war eben erwürgt worden. Das war immerhin ein Sieg. Die Geistlichkeit und der Adel nahmen die Tatsache mit Ergebung hin und verschoben die Verwirklichung ihrer Hoffnungen auf später; einstweilen rächten sie sich für ihre Enttäuschung, indem sie sich mit den Bonapartisten verbanden, um die letzten Republikaner auszurotten.

Diese Ereignisse begründeten das Glück der Rougon. In die verschiedenen Phasen dieser Krise mit verwickelt, wuchsen sie auf den Trümmern der Freiheit in die Höhe.

Diese Banditen auf dem Anstände bestahlen die Republik. Nachdem man sie erwürgt hatte, halfen sie dieselbe plündern.

Sogleich nach den Februartagen begriff Felicité, die die feinste Witterung in der Familie hatte, daß sie endlich auf der richtigen Spur seien. Sie begann ihren Mann zu umschwärmen und ihn anzuspornen, daß er sich rühre. Die erste Nachricht von der Revolution hatte Peter erschreckt. Als sein Weib ihm begreiflich machte, daß sie bei einem Umsturz wenig zu verlieren und alles zu gewinnen hätten, schloß er sich sehr rasch ihrer Meinung an.

Ich weiß nicht genau, was du tun könntest, wiederholte Felicité, aber mir scheint, daß es etwas zu tun gäbe. Hat uns Herr von Carnavant neulich nicht gesagt, daß er reich würde, wenn Heinrich V. jemals zurückkäme? und daß dieser König alle, die für seine Rückkehr gearbeitet, herrlich belohnen würde? Da müssen wir vielleicht unser Glück suchen. Es wäre endlich an der Zeit, daß wir eine glückliche Hand haben.

Der Marquis von Carnavant, dieser Edelmann, der nach der Skandalchronik der Stadt zu Felicités Mutter in vertrauten Beziehungen gestanden, kam in der Tat von Zeit zu Zeit zu den Rougonschen Eheleuten zu Besuch. Die bösen Zungen behaupteten, daß Felicité ihm ähnlich sehe. Er war ein kleiner, magerer, rühriger Mann, damals etwa fünfundsiebzig Jahre alt. Mit zunehmendem Alter ward Felicité in ihren Zügen und in ihrem Benehmen dem Marquis immer ähnlicher. Man erzählte sich, daß er die Trümmer seines Vermögens, das sein Vater in den Zeiten der Auswanderung schon stark angegriffen, mit Weibern durchgebracht hatte. Er gestand übrigens ziemlich freimütig seine Armut ein. Von einem seiner Verwandten, dem Grafen von Valqueyras aufgenommen, lebte er als Schmarotzer, an der Tafel des Grafen speisend und einen ziemlich engen Raum unter dem Dache des gräflichen Palastes bewohnend.

Kleine, sagte er oft, die Wange Felicités tätschelnd, wenn Heinrich V. jemals mein Vermögen mir wiedergibt, sollst du meine Erbin sein.

Felicité war schon fünfzig Jahre alt, als er sie noch immer »Kleine« hieß. Madame Rougon dachte an dieses vertrauliche Tätscheln der Wange und an diese Versprechungen, sie zu seiner Erbin zu machen, wenn sie ihren Gatten dazu drängte, sich in die Politik zu stürzen. Oft genug klagte Herr von Carnavant bitter darüber, daß es ihm unmöglich sei, ihr zu Hilfe zu kommen. Es war kein Zweifel, daß er an dem Tage, da er wieder zu Macht käme, sich ihr als Vater zeigen würde. Peter, dem seine Frau in verhüllten Worten die Lage kennzeichnete, erklärte sich bereit, den Weg zu wandeln, den man ihm vorschreiben werde.

Die eigenartige Stellung des Marquis machte aus ihm in Plassans gleich in den ersten Tagen der Republik einen tätigen Agenten der reaktionären Bewegung. Dieser kleine behende Mann, der durch die Wiederkehr seiner legitimen Könige alles zu gewinnen hatte, beschäftigte sich mit fieberhaftem Eifer mit dem Triumph ihrer Sache. Während der reiche Adel des Sankt-Markus-Viertels in seiner Verzweiflung schlummerte, vielleicht aus Furcht, sich bloßzustellen und von neuem zur Verbannung verurteilt zu werden, sah man den Marquis sich vervielfältigen, Propaganda machen, Anhänger werben. Er ward zu einer Waffe, deren Heft eine unsichtbare Hand hielt. Von jetzt an kam er täglich zu den Rougon. Er brauchte einen Mittelpunkt für seine Operationen. Da sein Verwandter, der Graf von Valqueyras ihm verboten hatte, seine Verbündeten in seinen Palast zu bringen, hatte er Felicités gelben Salon zum Sammelplatz erkoren. Er fand übrigens alsbald an Peter einen sehr wertvollen Gehilfen. Er selbst konnte doch nicht hingehen und kleinen Krämern und Arbeitern der Hauptstadt die Sache der Legitimität predigen. Man würde ihn auch getötet haben. Peter hingegen, der unter diesen Leuten gelebt hatte, ihre Sprache redete, ihre Bedürfnisse kannte, vermochte sie in aller Ruhe zu belehren. In dieser Weise wurde er ein unentbehrlicher Mann. In weniger denn zwei Wochen waren die Rougon königstreuer als der König. Als der Marquis den Eifer Peters sah, barg er sich schlau hinter ihm. Wozu denn auch in den Vordergrund treten, wenn ein Mann mit breiten Schultern da ist, der die Dummheiten einer Partei auf sich nimmt? Er ließ Peter den Herrn spielen, sich aufblähen und großtun und begnügte sich seinerseits, ihn zurückzuhalten oder vorwärts zu treiben, je nach den Anforderungen seiner Sache. So wurde der ehemalige Ölhändler alsbald zu einer Person von Bedeutung.

Wenn sie des Abends allein waren, sagte Felicité zu ihrem Manne:

Nur vorwärts, fürchte nichts; wir sind auf dem richtigen Wege. Wenn das so weiter geht, werden wir reich sein, einen Salon haben wie der Steuereinnehmer und Gesellschaften geben.

Es hatte sich bei den Rougon ein Kern von Konservativen gebildet, die sich jeden Abend im gelben Salon versammelten, um gegen die Republik zu wettern.

Es waren drei oder vier Kaufleute im Ruhestande, die für ihre Renten zitterten und mit ihren heißesten Wünschen eine kluge und starke Regierung herbeisehnten; ferner ein ehemaliger Mandelhändler, Mitglied des Gemeinderates, namens Isidor Granoux; dieser war gleichsam das Haupt der ganzen Gruppe. Sein Mund, der einem Hasenmaul gleichend, fünf oder sechs Zentimeter von der Nase entfernt geschlitzt war, seine runden Augen, seine zufriedene und zugleich erschrockene Miene machten ihn einer fetten Gans ähnlich. Er sprach wenig, weil er keine Worte fand; er horchte nur dann auf, wenn man die Republikaner beschuldigte, daß sie die Häuser der Reichen plündern wollen und begnügte sich, dann rot zu werden, daß man einen Schlagfluß befürchten mußte und wütende Schmähungen auszustoßen, aus denen man die Worte: »Taugenichtse, Bösewichte, Diebe, Mörder« heraushörte.

 

Um die Wahrheit zu reden, waren nicht alle Gäste des gelben Salons so schwerfällig wie diese fette Gans. Ein reicher Grundbesitzer, Herr Roudier, mit fettem, einschmeichelndem Antlitz, hielt daselbst stundenlange Reden mit derLeidenschaftlichkeit eines Orleanisten, den der Sturz Louis Philippes aus allen seinen Berechnungen gerissen hat. Es war dies ein ehemaliger Schlafmützenfabrikant aus Paris, der sich nach Plassans zurückgezogen hatte, ein ehemaliger Hoflieferant, der seinen Sohn dem Richterstande zugeführt hatte in der Hoffnung, daß die Orleanisten ihn zu den höchsten Würden emporsteigen lassen würden. Da die Revolution seine Hoffnungen vernichtete, warf er sich mit Leib und Seele der Reaktion in die Arme. Sein Reichtum, seine ehemaligen geschäftlichen Verbindungen mit den Tuilerien, die er als freundschaftliche Beziehungen hinzustellen wußte; das Ansehen, das in der Provinz jedermann genießt, der in Paris Geld erworben hat, das er dann auf dem Lande verzehrt: sie sicherten ihm einen sehr großen Einfluß in der Gegend; viele hörten ihn an, wie ein Orakel.

Doch der gewaltigste Kopf im gelben Salon war sicherlich der Major Sicardot, Aristides' Schwiegervater. Gebaut wie ein Herkules, mit rotem Antlitz, auf dem hier und da Büschel grauen Haares saßen, zählte Herr Sicardot zu den ruhmvollsten Haudegen der großen Armee. In den Tagen der Februarrevolution hatte nur der Straßenkampf ihn in Wut versetzt; er konnte nicht müde werden, über diesen Gegenstand zu reden und schrie, daß er sich schämen würde, sich in dieser Weise zu schlagen, und erinnerte sich mit Stolz der Herrschaft des großen Napoleon.

Man sah bei den Rougon auch einen Mann mit feuchten Händen und falschen Blicken, Herrn Vuillet, einen Buchhändler, der alle Betschwestern der Stadt mit Heiligenbildern und Rosenkränzen versah. Bei Vuillet waren klassische Werke und Andachtsbücher zu finden; er war ein frommer, gläubiger Katholik, was ihm die Kundschaft der zahlreichen Klöster und Pfarren sicherte. Vermöge eines genialen Einfalles verband er mit seinem Buchhandel den Verlag eines zweimal in der Woche erscheinenden kleinen Journals, der »Gazette de Plassans«, in dem er sich ausschließlich mit den Interessen des Klerus beschäftigte. Dieses Blatt verschlang ihm Jahr für Jahr eine Summe von beiläufig tausend Franken. Aber es machte ihn zum Vorkämpfer der Kirche und verhalf ihm zum Absätze seiner Bilder und Traktätchen. Dieser Mensch ohne Bildung, der eine sehr zweifelhafte Orthographie schrieb, verfaßte selbst die Artikel seines Blattes mit einer Demut und einer Galligkeit gegen die Gottlosen, die bei ihm das Talent ersetzten. Als der Marquis seinen Feldzug eröffnete, dachte er sogleich an den Vorteil, den er aus diesem platten Küstergesicht, aus dieser plumpen und interessierten Feder ziehen konnte.

Seit den Februartagen enthielten die Artikel der Gazette wenig Fehler, weil der Marquis sie überprüfte.

Man kann sich jetzt vorstellen, welchen eigentümlichen Anblick der gelbe Salon der Rougon jeden Abend darbot. Hier drängten sich alle Meinungen durcheinander und bellten gleichzeitig gegen die Republik. Im Hasse fanden sich alle zusammen. Der Marquis, der bei keiner dieser Versammlungen fehlte, beschwichtigte übrigens durch seine Gegenwart die kleinen Zänkereien, die zwischen dem Major und den übrigen Anhängern sich erhoben. Die Spießbürger waren geschmeichelt durch die Händedrücke, die er bei seiner Ankunft und seinem Abgange ihnen auszuteilen die Gnade hatte. Bloß Roudier, der ehemalige Freidenker aus der St.-Honoré-Straße, erklärte, daß der Marquis, dieser Habenichts, ihm schnuppe sei. Dieser letztere bewahrte sein liebenswürdiges Lächeln eines Edelmannes. Er mengte sich unter diese Spießbürger ohne jene verächtliche Grimasse, die jeder andere Insasse des Sankt-Markus-Viertels unter ähnlichen Umständen gemacht haben würde.

Sein Schmarotzerleben hatte ihn geschmeidig gemacht. Er war die Seele der ganzen Gruppe. Er befahl im Namen einer unbekannten Person, die er niemals nennen wollte. »Sie will dies, sie will jenes« sagte er. Diese verborgenen Götter, die hinter Wolken über die Geschicke der Stadt Plassans wachten, ohne sich unmittelbar in die öffentlichen Angelegenheiten einzumengen, mußten gewiß Priester sein, diese großen Politiker der Gegend. Wenn der Marquis dieses geheimnisvolle »Sie« aussprach, das der ganzen Versammlung einen wunderbaren Respekt einflößte, verriet Vuillet durch ein seliges Lächeln, daß er sie vollkommen kenne.

Die glücklichste Person in der Versammlung war Felicité. Endlich hatte sie Gesellschaft in ihrem Salon. Wohl schämte sie sich ein wenig ihrer alten Möbel mit gelbem Samt, allein sie tröstete sich mit dem Gedanken an das reiche Mobiliar, das sie anschaffen würde, wenn die große Sache gesiegt habe.

Die Rougon trieben es so weit, daß sie schließlich ihre Königstreue ernst nahmen. Wenn Herr Rougon nicht da war, wagte Felicité sogar zu behaupten, daß nur die Julimonarchie daran schuld sei, wenn sie in ihrem Ölhandel keinen Reichtum erworben hatten. In dieser Weise gab sie ihrer Armut einen politischen Anstrich. Sie hatte Schmeicheleien für jedermann, selbst für Granoux, indem sie jeden Abend eine neue höfliche Art erfand, ihn aus dem Schlafe aufzurütteln, wenn die Versammlung zu Ende war.

Der Salon, dieser Sammelplatz von Konservativen, die allen Parteien angehörten und von Tag zu Tag zahlreicher wurden, gewann alsbald großen Einfluß. Vermöge der Verschiedenheit der Mitglieder und hauptsächlich dank dem geheimen Antriebe, den jeder einzelne unter ihnen von dem Klerus erhielt, wurde der Salon jener reaktionäre Brennpunkt, der über ganz Plassans sein Licht ausstrahlen ließ. Die Taktik des Marquis, der sich im Hintergründe hielt, war die, den Peter Rougon als Oberhaupt der Partei hinzustellen. Die Versammlungen fanden bei Rougon statt. Dies genügte in den wenig scharfsichtigen Augen der Mehrzahl, um diesen an die Spitze der Gruppe zu stellen und die öffentliche Meinung auf ihn zu lenken. Ihm wurde das ganze Werk zugeschrieben; man hielt ihn für die hauptsächliche Triebfeder in dieser Bewegung, die alle, die gestern sich noch für die Republik begeisterten, allmählich der konservativen Partei zuführte. Es gibt gewisse Umstände, aus denen nur die abgewirtschafteten Leute Nutzen ziehen. Sie suchen da ihr Glück aufzubauen, wo besser bestellte und einflußreiche Leute nichts wagen würden. Sicherlich hätte man Roudier, Granoux und die anderen, da sie reiche und angesehene Leute waren, dem Peter Rougon als tätige Oberhäupter der konservativen Partei tausendmal vorziehen müssen. Allein keiner von ihnen würde eingewilligt haben, seinen Salon zu einem politischen Mittelpunkte zu machen, weil ihre politischen Überzeugungen nicht so weit gingen, sich offen bloßzustellen. Alles in allem waren dies nur Schreier, provinzielle Klatschmäuler, die bereit waren, gegen die Republik zu wettern, wenn sich ein Nachbar fand, der für ihr Treiben die Verantwortlichkeit übernahm. Die Rolle war gar zu gewagt und darum fanden sich unter der Bürgerschaft von Plassans nur die Rougon für dieselbe; diese Leute, die ihr großer, unersättlicher Ehrgeiz und ihre Begierden zu den kühnsten Entschlüssen drängten.