50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Im April des Jahres 1849 verließ Eugen plötzlich Paris und kam nach Plassans, um zwei Wochen bei seinem Vater zuzubringen. Man hat den Zweck dieser Reise niemals erfahren; doch darf man annehmen, daß Eugen gekommen war, um seiner Geburtsstadt den Puls zu fühlen und um zu erfahren, ob er da mit Erfolg als Abgeordnetenkandidat für die gesetzgebende Versammlung, die in Bälde an Stelle der Konstituante treten sollte, auftreten könnte. Er war zu schlau, um einen Mißerfolg zu riskieren. Ohne Zweifel schien ihm die öffentliche Meinung wenig günstig, denn er enthielt sich jeden Versuches. Man wußte übrigens in Plassans nicht, was aus ihm geworden war und was er in Paris treibe. Als er in seiner Heimatsstadt eintraf, fand man ihn weniger dick, weniger schläfrig. Man umschwärmte ihn, man suchte ihn zum Sprechen zu bringen. Doch er spielte den Unwissenden und ließ sich nicht ausholen, suchte vielmehr die anderen auszuholen. Schlauere Köpfe würden unter seinem scheinbaren Müßiggange sein lebhaftes Interesse, die politischen Meinungen der Stadt zu erkunden, herausgefunden haben. Er schien den Boden mehr für eine Partei, als für seine eigene Rechnung erforschen zu wollen.

Obgleich er auf jede persönliche Hoffnung verzichtet hatte, blieb er bis zum Schlüsse des Monats in Plassans und nahm während dieser Zeit lebhaften Anteil an den Versammlungen im gelben Salon. Sobald der erste Gast erschien, setzte er sich in eine Fensternische, möglichst weit von der Lampe. Da blieb er den ganzen Abend, das Kinn auf die rechte Hand gestützt und hörte aufmerksam zu. Die größten Dummheiten, die da gesprochen wurden, ließen ihn unempfindlich. Er nickte zu allem zustimmend mit dem Kopfe, selbst zu dem erschrockenen Grunzen des Herrn Granoux. Wenn man ihn nach seiner Ansicht fragte, wiederholte er höflich die Meinung der Mehrheit. Nichts vermochte seine Geduld zu erschöpfen, weder der eitle Traum des Marquis, der von den Bourbonen so redete, wie nach den Vorgängen des Jahres 1815, noch die spießbürgerlichen Auslassungen Roudiers, der mit Rührung von den vielen Strümpfen redete, die er ehemals dem Bürgerkönig geliefert hatte. Er schien sich im Gegenteil inmitten dieses Babel sehr wohl zu befinden. Manchmal, wenn alle diese Tölpel aus Leibeskräften auf die Republik einhieben, sah man seine Augen lachen, während sein Mund die Falte des ernsten Mannes beibehielt. Seine ruhige Art zuzuhören, seine unwandelbare Gefälligkeit hatten ihm alle Teilnahme gewonnen. Man hielt ihn für einen unbedeutenden, gutmütigen Menschen. Wenn es einem oder dem andern der früheren Mandel- und Ölhändler nicht gelingen wollte, inmitten dieses Tumultes auseinanderzusetzen, in welcher Weise er Frankreich retten würde, wenn er der Herr wäre, dann flüchtete er zu Eugen und schrie diesem seine wunderbaren Pläne ins Ohr. Eugen nickte sanft mit dem Kopfe, gleichsam entzückt von den erhabenen Dingen, die er hörte. Vuillet betrachtete ihn argwöhnisch. Dieser Buchhändler, in dem zugleich ein Küster und ein Journalist staken, redete weniger als die anderen, aber er beobachtete mehr. Er hatte bemerkt, daß der Advokat zuweilen im Winkel des Salons mit dem Major Sicardot sprach. Er nahm sich vor, sie zu beobachten, aber er konnte kein Wort von ihrem Gespräch erhaschen. Eugen winkte dem Major zu schweigen, sobald er den Buchhändler sich nähern sah. Seit dieser Zeit sprach Sicardot von den Napoleons nur mit einem geheimnisvollen Lächeln.

Zwei Tage vor seiner Rückkehr nach Paris traf Eugen auf der Promenade Sauvaire seinen Bruder Aristides, der ihn eine Strecke begleitete mit der Beharrlichkeit eines Menschen, der einen Rat sucht. Aristides befand sich in arger Verlegenheit. Als man die Republik ausgerufen hatte, trug er eine sehr lebhafte Begeisterung für die neue Regierung zur Schau. Sein durch zwei Jahre Pariser Studium geschärfter Verstand sah weiter als die schwerfälligen Köpfe von Plassans, er erkannte die Ohnmacht der Legitimisten und Orleanisten, ohne klar bezeichnen zu können, wer der dritte Bube sei, der die Republik in die Tasche stecken werde. Auf gut Glück hatte er sich zu den Siegern geschlagen. Er hatte alle Beziehungen mit seinem Vater abgebrochen, nannte ihn öffentlich einen alten Schwachkopf, den der Adel »herumgekriegt« hat.

Und doch ist meine Mutter eine gescheite Frau, pflegte er hinzuzufügen. Niemals hätte ich geglaubt, daß sie imstande sei, ihren Mann in eine Partei zu drängen, deren Hoffnungen durchaus eitel sind. Sie werden sich vollends zugrunde richten. Die Frauen verstehen eben nichts von Politik.

Er, Aristides, wolle sich so teuer wie möglich verkaufen. Seine ganze Sorge war jetzt darauf gerichtet, die richtige Witterung zu bekommen, sich stets auf die Seite derer zu stellen, die im Falle ihres Sieges ihn herrlich belohnen könnten. Unglücklicherweise tappte er im Finstern. Er fühlte, daß er in diesem Provinzorte, ohne Führung, ohne Wegweiser verloren sei. Einstweilen, bis der Lauf der Begebenheiten ihm eine bestimmte Bahn vorzeichnen würde, bewahrte er die Haltung eines begeisterten Republikaners, die er gleich am ersten Tage eingenommen hatte. Dank dieser Haltung verblieb er in der Unterpräfektur; man hatte ihm daselbst sogar seine Bezüge vermehrt. Von dem Verlangen angetrieben, eine Rolle zu spielen, bestimmte er einen Buchhändler, einen Konkurrenten Vuillets, ein demokratisches Blatt zu gründen, bei dem er, Aristides, einer der eifrigsten Redakteure wurde. Der »Independant« (Der Unabhängige) führte unter seiner Leitung einen erbarmungslosen Krieg gegen die Reaktionären. Allein die Strömung trieb ihn allmählich weiter, als er gehen wollte; er schrieb manchmal Brandartikel, bei deren Durchlesen ihn selbst eine Gänsehaut überlief. Vielbemerkt wurde in Plassans eine Reihe von Angriffen, die der Sohn gegen die Personen richtete, die der Vater allabendlich in dem berühmten gelben Salon empfing. Der Reichtum Roudiers und Granoux' ärgerte Aristides in dem Maße, daß er alle Vorsicht außer acht ließ. Durch seine gierige Eifersucht angetrieben, hatte er sich die Bürgerschaft zum unversöhnlichen Feinde gemacht, als die Ankunft Eugens und die Art und Weise, wie dieser sich in Plassans benahm, ihn stutzig machten. Er maß seinem Bruder eine große Geschicklichkeit bei. Es war seine Meinung, daß dieser dicke, schläfrige Bursche nur mit einem Auge schlafe wie die Katzen, wenn sie vor einem Mäuseloch auf dem Anstande sind. Und nun verbrachte dieser Eugen ganze Abende in dem gelben Salon, mit großer Aufmerksamkeit diesen Tölpeln zuhörend, die er – Aristides – so grausam verhöhnt hatte. Als er durch das Gerede in der Stadt erfuhr, daß sein Bruder mit Granoux und dem Marquis Händedrücke wechsle, fragte er sich besorgt, was er davon halten solle? Sollte er sich so sehr getäuscht haben? Sollten die Legitimisten oder die Orleanisten Aussichten auf Erfolg haben? Dieser Gedanke machte das Blut in seinen Adern stocken; er verlor allen Halt, und wie es oft genug geschieht, fiel er über die Konservativen nur noch wütender her, gleichsam um sich für seine Verblendung zu rächen.

An dem Tage vor jenem, an dem er Eugen auf der Promenade Sauvaire anhielt, hatte er in dem »Indépendant« einen furchtbaren Artikel über die Machenschaften des Klerus losgelassen als Antwort auf eine Auslassung von Vuillet, der die Republikaner beschuldigte, daß sie die Kirchen stürmen wollten. Vuillet war dem Aristides, was dem Stier der rote Lappen; es verging keine Woche, ohne daß die beiden Journalisten die gröbsten Beschimpfungen austauschten. In der Provinz, wo man sich noch der Umschreibungen bedient, holt die Polemik ihre Ausdrücke aus der Gosse. Aristides nannte seinen Gegner »Bruder Judas« oder »Knecht des heiligen Antonius«; Vuillet seinerseits nannte den Republikaner »ein blutrünstiges Ungeheuer, dessen schändliche Genossin die Guillotine ist«.

Um seinen Bruder auszuholen, begnügte sich Aristides, der seine Unruhe nicht offen zu zeigen wagte, ihn zu fragen:

Hast du meinen Artikel von gestern gelesen? Wie denkst du darüber?

Du bist ein Schaf, Bruder, erwiderte Eugen mit den Achseln zuckend.

Der Journalist erbleichte.

Wie? rief er; du gibst Vuillet recht? Du glaubst an Vuillets Sieg?

Ich? Vuillet …

Er wollte ohne Zweifel sagen: »Vuillet ist gerade so ein Tölpel wie du selbst.« Allein, als er das verzerrte Gesicht seines Bruders sah, das sich ihm entgegenstreckte, schien er plötzlich von Mißtrauen ergriffen zu werden.

Vuillet hat auch sein Gutes, sagte er ruhig.

Nachdem er von seinem Bruder geschieden, war Aristides noch unruhiger als vorher. Eugen schien sich über ihn lustig gemacht zu haben, denn Vuillet war sicherlich der schmutzigste Kerl, den man sich vorstellen konnte. Er beschloß vorsichtig zu sein, sich nicht mehr zu binden, um freie Hand zu haben, wenn er eines Tages einer Partei behilflich sein müßte, die Republik zu erwürgen.

Am Morgen seiner Abreise führte Eugen eine Stunde bevor er in den Postwagen stieg, seinen Vater in das Schlafzimmer, wo er mit ihm eine lange Unterredung hatte. Felicité, die im Salon zurückgeblieben war, versuchte vergebens zu horchen. Die beiden Männer sprachen leise, als hätten sie gefürchtet, daß auch nur ein einziges ihrer Worte von außen gehört werden könne. Als sie endlich aus dem Zimmer traten, schienen beide sehr erregt zu sein. Nachdem er Vater und Mutter umarmt hatte, sagte Eugen, der sonst mit schleppender Stimme redete, lebhaft und bewegt:

Du hast mich wohl verstanden, Vater? Da ist unser Glück zu suchen. In diesem Sinne müssen wir mit allen unseren Kräften arbeiten. Vertraue mir.

Ich werde deine Weisungen getreulich befolgen, erwiderte Rougon. Aber vergiß nicht, was ich als Preis meiner Bemühungen von dir verlangt habe.

Wenn wir unser Ziel erreichen, werden deine Wünsche erfüllt werden. Das schwöre ich dir. Ich werde dir übrigens schreiben und dich leiten je nach der Richtung, die die Ereignisse nehmen. Nur keine Furcht und keine Begeisterung. Folge blindlings meinen Weisungen.

 

Was für eine Verschwörung habt ihr miteinander? fragte Felicité neugierig.

Liebe Mutter, erwiderte Eugen lächelnd, du hast an mir zu sehr gezweifelt, als daß ich dir heute meine Hoffnungen anvertrauen könnte, die einstweilen nur auf Wahrscheinlichkeitsberechnungen beruhen. Du müßtest Glauben und Zutrauen zu mir haben, um mich zu verstehen. Übrigens wird der Vater dir alles sagen, wenn die Stunde schlägt.

Da Felicité beleidigt tat, flüsterte er ihr ins Ohr, indem er sie noch einmal küßte:

Ich bin dein Sohn, wenngleich du mich verleugnet hast. Zu viel wissen wäre in diesem Augenblicke nicht von Nutzen. Wenn die Krise eintritt, wirst du die Leitung der Sache in die Hand bekommen.

Damit ging er; doch wandte er sich noch auf der Schwelle um und sagte nachdrücklich:

Vor allem aber mißtraut Aristides! Er ist ein Tollkopf, der alles verderben würde. Ich habe ihn genügend beobachtet, um sicher zu sein, daß er immer wieder auf die Füße fällt. Ihr brauchet kein Mitleid mit ihm zu haben; wenn wir unser Glück machen, wird er sich seinen Teil zu stehlen wissen.

Als Eugen fort war, versuchte Felicité in das Geheimnis einzudringen, das man ihr vorenthielt. Sie kannte ihren Gatten zu gut, um ihn offen zu befragen; er würde ihr zornig geantwortet haben, daß die Sache sie nichts angehe. Allein trotz der schlauen Taktik, die sie entwickelte, erfuhr sie nichts. In dieser trüben Zeit, wo die größte Verschwiegenheit not tat, hatte Eugen seinen Vertrauensmann gut gewählt. Geschmeichelt von dem Vertrauen seines Sohnes, hatte Peter jene passive Schwerfälligkeit noch übertrieben, die aus ihm eine ernste, undurchdringliche Masse machte. Als Felicité einsah, daß sie von ihm nichts erfahren werde, hörte sie auf, ihn zu umschwärmen. Bloß auf eine Sache war sie ungeheuer neugierig. Die beiden Männer hatten von einem Preise gesprochen, den Peter selbst bestimmen sollte. Was für ein Preis konnte das sein? Da lag das große Interesse für Felicité, die sich aus politischen Fragen nichts machte. Sie wußte, daß ihr Mann sich teuer verkauft haben mußte, und sie brannte vor Begierde, den Handel kennen zu lernen. Als sie eines Abends eben zu Bette gingen und sie ihren Mann in guter Laune sah, lenkte sie das Gespräch auf die Entbehrungen, zu denen ihre Armut sie nötigte.

Es ist Zeit, daß es ein Ende nehme, sagte sie. Wir geben eine Menge Geld für Beleuchtung und Heizung aus, seitdem die Herren zu uns kommen. Wer wird die Rechnung bezahlen? Vielleicht niemand.

Peter ging richtig in die Falle.

Nur Geduld, sagte er mit einem überlegenen Lächeln.

Dann fügte er mit schlauer Miene hinzu, indem er seiner Frau fest in die Augen schaute:

Bist du zufrieden, die Frau eines Steuereinnehmers zu werden?

Felicités Antlitz flammte in großer Freude auf. Sie setzte sich im Bett auf und schlug nach Art der Kinder ihre dürren Greisenhände zusammen.

Ist's wahr? stammelte sie. Hier in Plassans?

Peter antwortete nicht, sondern nickte nur wiederholt zustimmend mit dem Kopfe. Er freute sich der Verwunderung seiner Ehegattin. Sie erstickte schier vor Aufregung.

Aber, fuhr sie endlich fort, da ist ja eine ungeheure Sicherstellung notwendig. Ich habe mir erzählen lassen, daß unser Nachbar, Herr Peirotte, achtzigtausend Franken dem Staatsschatze hinterlegen mußte.

Ach, das geht mich nichts an, sagte der ehemalige Ölhändler. Eugen nimmt alles auf sich. Er wird die Sicherstellungssumme durch einen Pariser Bankier hinterlegen lassen. Du wirst begreifen, daß ich eine Stelle gewählt habe, die viel einbringt. Eugen hat das Gesicht verzogen, als ich ihm meine Bedingung stellte. Er sagte, man müsse reich sein, um solche Stellungen zu bekleiden und daß man diese Beamten gewöhnlich unter einflußreichen Leuten wähle. Aber ich ließ nicht locker, und er hat endlich nachgegeben. Um Einnehmer zu werden, braucht man weder Latein noch Griechisch. Ich werde, wie Herr Peirotte, einen Bevollmächtigten haben, der alle Arbeiten statt meiner besorgt.

Felicité hörte ihm mit Entzücken zu.

Ich habe wohl erraten, fuhr er fort, was unsern teuren Sohn beunruhigte. Wir sind hier wenig beliebt. Man weiß, daß wir kein Vermögen haben, und wird über uns schmähen. Doch was liegt daran? In kritischen Zeiten kann ja alles geschehen. Eugen wollte mich nach einer anderen Stadt ernennen lassen, allein ich habe abgelehnt, ich will in Plassans bleiben.

Ja, ja, wir müssen da bleiben, rief lebhaft die alte Frau. Hier haben wir gelitten, hier müssen wir triumphieren. Ich will sie niederschmettern, alle diese schönen Sonntags-Spaziergängerinnen, die so geringschätzig auf meine wollenen Kleider herabschauen. An die Stelle des Einnehmers hatte ich nicht gedacht, ich glaubte, du wollest Bürgermeister werden.

Ach, Bürgermeister! Die Stelle ist ja eine unentgeltliche. Auch Eugen hat mir vom Bürgermeisteramte gesprochen, aber ich erwiderte ihm: Ich nehme die Stelle an, wenn du mir eine Rente von 15 000 Franken sicherst.

Diese Unterredung, in welcher die großen Ziffern wie Raketen umherflogen, entzückte Felicité und sie rückte unruhig hin und her und fuhr vor Aufregung schier aus der Haut. Endlich nahm sie eine unterwürfige Haltung an und sagte im Tone der Sammlung:

Laß uns rechnen, Peter, wie viel wirst du erwerben?

Die fixen Bezüge betragen 3000 Franken, erwiderte Peter.

Dreitausend, zählte Felicité.

Dazu kommen die Prozente nach den Einnahmen. Sie belaufen sich in Plassans auf ungefähr 12 000 Franken.

Macht fünfzehntausend, zählte Felicité weiter.

Ja, ungefähr fünfzehntausend. So viel erwirbt auch Peirotte. Doch das ist nicht alles. Peirotte betreibt Bankgeschäfte auf eigene Faust. Das ist erlaubt. Vielleicht versuche auch ich mich darin, wenn ich günstige Aussichten habe.

So setzen wir 20 000 Franken! rief Felicité, durch diese Summe in höchste Bewunderung versetzt.

Die Vorschüsse werden wir zurückerstatten müssen, bemerkte Peter.

Das tut nichts, entgegnete Felicité. Wir werden doch reicher sein als viele dieser Herren. Wird vielleicht der Marquis oder werden die anderen Herren mit uns teilen wollen?

Nein, nein, alles bleibt uns!

Als sie das Gespräch fortsetzen wollte, fürchtete Peter, sie wolle ihm sein Geheimnis entlocken. Daher runzelte er die Augenbrauen und sagte:

Jetzt haben wir genug geplaudert, es ist spät, wir sollen schlafen. Es bringt Unglück, wenn man im voraus rechnet. Ich habe die Stelle noch nicht. Vor allem Verschwiegenheit!

Doch als die Lampe ausgelöscht war, konnte Felicité keinen Schlaf finden. Mit geschlossenen Augen lag sie wach da und baute die herrlichsten Luftschlösser. Die 20000 Franken jährlicher Einkünfte führten im Dunkel vor ihren Augen einen Hexentanz auf. Sie bewohnte ein schönes Haus in der Neustadt, mit demselben Luxus eingerichtet wie das des Herrn Peirotte, gab Abendgesellschaften und blendete mit ihrem Reichtum die ganze Stadt. Was ihrer Eitelkeit am meisten schmeichelte, war die schöne Stellung, die ihr Gatte einnehmen würde. Er wird dem Granoux, dem Roudier und allen Bürgern ihre Renten auszahlen, die heute zu ihr kommen wie in ein Kaffeehaus, um sich laut auszusprechen und die Neuigkeiten des Tages zu erfahren. Sie hatte sehr wohl die hochmütige Art und Weise bemerkt, wie diese Leute ihren Salon betraten und das hatte sie gegen jene erbittert. Selbst der Marquis mit seiner spöttischen Höflichkeit begann ihr zu mißfallen. Allein zu siegen und alles für sich zu behalten: das war ein Gedanke, den sie mit liebevoller Zärtlichkeit hegte. Wenn diese plumpen Leute einst unter tiefen Bücklingen bei dem Herrn Einnehmer Rougon erscheinen werden, wird sie an der Reihe sein, jene mit ihrem Stolze zu Boden zu drücken. Die ganze Nacht hindurch beschäftigte sie sich mit diesem Gedanken. Als sie am andern Morgen die Vorhänge in die Höhe zog, richtete sich ihr erster Blick unwillkürlich nach der andern Seite der Straße, auf die Fenster des Herrn Peirotte; sie lächelte, wie sie die breiten Damastvorhänge betrachtete, die hinter den Fensterscheiben hingen.

Indem Felicités Hoffnungen ihre Richtung wechselten, wurden sie nur um so gieriger. Wie alle Frauen war sie einiger Heimlichkeit nicht abgeneigt. Der geheime Zweck, den ihr Man verfolgte, interessierte sie weit lebhafter als jemals die legitimistischen Umtriebe des Marquis von Carnavant. Ohne sonderliches Bedauern gab sie die Hoffnungen preis, die sie auf den Erfolg des Marquis gebaut hatte, von dem Augenblick an, wo ihr Mann behauptete, daß er durch andere Mittel denselben reichen Gewinn erzielen werde. Sie war übrigens bewunderungswürdig in ihrer Verschwiegenheit und Vorsicht.

Im Grunde wurde sie noch immer von einer beklemmenden Neugierde geplagt; sie beobachtete die geringste Gebärde ihres Mannes und suchte ihn zu begreifen. Wie, wenn Eugen ihn in irgendeinen Hinterhalt locken wollte, aus dem sie nur ärmer denn je sich retten könnten? Indessen gewann sie allmählich Vertrauen. Eugen hatte mit einer solchen Überlegenheit befohlen, daß sie schließlich Zutrauen zu ihm faßte. Die Macht des Unbekannten ließ sich eben auch hier fühlen. Peter erzählte ihr in geheimnisvollem Tone von den hohen Persönlichkeiten, mit denen ihr ältester Sohn in Paris verkehrte. Sie selbst wußte allerdings nicht, was er da tun mochte, während es ihr unmöglich war, vor den Torheiten, welche Aristides in Plassans beging, die Augen zu verschließen. In ihrem eigenen Salon legte man sich gar keinen Zwang an, um den demokratisch gesinnten Journalisten mit äußerster Strenge zu behandeln. Granoux nannte ihn einen Räuber und Roudier sagte jede Woche ein paarmal zu Felicité:

Ihr Sohn schreibt schöne Sachen. Gestern erst hat er unsern Freund Vuillet mit empörender Bosheit angegriffen.

Der ganze Salon stimmte in diese Klagen ein. Major Sicardot sprach davon, seinen Schwiegersohn zu ohrfeigen. Peter verleugnete rundweg seinen Sohn. Die arme Mutter senkte ihren Kopf und würgte ihre Tränen hinab. Manchmal drängte es sie, loszubrechen und Herrn Roudier ins Gesicht zu schreien, daß ihr liebes Kind trotz seiner Fehler noch immer mehr tauge, als er und alle anderen zusammen. Allein sie war gebunden; sie wollte die so schwer errungene Stellung nicht wieder aufs Spiel setzen. Als sie sah, wie die ganze Stadt auf Aristides einhieb, dachte sie bekümmert, daß der Unglückliche in sein Verderben renne. Zweimal nahm sie ihn ins Gebet und beschwor ihn, zu ihnen zurückzukehren und die Fehde gegen den gelben Salon aufzugeben. Aristides erwiderte ihr, daß sie von diesen Dingen nichts verstehe und daß sie selbst einen argen Fehler begangen habe, indem sie ihren Gatten in den Dienst des Marquis stellte. Sie mußte ihn aufgeben, nahm sich aber im stillen vor, daß, wenn Eugen ans Ziel gelangen werde, dieser die Beute mit dem armen Jungen teilen müsse, der noch immer ihr Lieblingskind war und blieb.

Als sein älterer Sohn wieder abgereist war, fuhr Peter Rougon fort, im Mittelpunkte der Reaktion zu leben. In der öffentlichen Meinung des berühmten gelben Salons schien sich nichts geändert zu haben. Jeden Abend erschienen daselbst dieselben Männer, um dieselbe Propaganda zugunsten einer Monarchie zu machen, und der Herr des Hauses summte ihnen zu und unterstützte sie mit demselben Eifer wie bisher. Am ersten Mai hatte Eugen Plassans verlassen. Einige Tage später befand sich der gelbe Salon im höchsten Entzücken. Man besprach daselbst den Brief des Präsidenten der Republik an den General Oudinot, in dem die Belagerung von Rom beschlossen war. Dieser Brief wurde als ein offenkundiger Sieg betrachtet, den man der entschlossenen Haltung der reaktionären Partei zu verdanken hatte. Schon seit dem Jahre 1848 stand in den Verhandlungen der Kammer die römische Frage an der Tagesordnung. Einem Bonaparte war es vorbehalten, eine Republik im Entstehen zu erwürgen durch ein Eintreten, dessen das freie Frankreich sich niemals schuldig gemacht hätte. Der Marquis erklärte, es sei unmöglich, für die Sache der Legitimität besser zu arbeiten. Vuillet schrieb einen prachtvollen Artikel; die Begeisterung kannte keine Grenzen mehr, als einen Monat später der Major Sicardot eines Abends im Hause Rougons erschien und der Gesellschaft ankündigte, daß die französische Armee unter den Mauern Roms sich schlage. Während alle Welt in ein Freudengeschrei ausbrach, trat er zu Peter und drückte ihm in vielbedeutsamer Weise die Hand. Als er saß, begann er ein Loblied auf den Präsidenten der Republik zu singen, der, wie er sagte, allein fähig sei, Frankreich vor der Anarchie zu retten.

Er möge es retten so schnell wie möglich, unterbrach ihn der Marquis, und es dann in die Hände seiner rechtmäßigen Herren zurücklegen.

 

Peter schien dieser schönen Antwort lebhaft beizustimmen. Als er in dieser Weise eine Probe seiner glühenden Königstreue geliefert hatte, wagte er zu bemerken, daß der Prinz Louis Bonaparte in dieser Sache seine volle Teilnahme besitze. Es fand zwischen ihm und dem Major ein Austausch von kurzen Bemerkungen statt, welche die vortreffliche Absicht des Präsidenten würdigten und ganz den Anschein hatten, als seien sie im vornhinein einstudiert worden. Zum erstenmal hielt der Bonapartismus ganz offen seinen Einzug in den gelben Salon. Seit den Wahlen vom 10. Dezember wurde übrigens der Prinz daselbst mit einer gewissen Milde beurteilt. Man zog ihn Cavaignac hundertmal vor, und die ganze reaktionäre Gesellschaft hatte für ihn gestimmt.

Allein man betrachtete ihn doch immer mehr als einen Mitschuldigen, denn als einen Freund, und man mißtraute diesem Mitschuldigen, dem man nachgerade vorwarf, daß er die Kastanien, nachdem er sie aus dem Feuer geholt, für sich behalten wolle. Dank dem römischen Feldzuge hörte man an diesem Abend immerhin beifällig die Lobsprüche, die Peter und der Major dem Präsidenten widmeten.

Die Gruppe Granoux und Roudier forderte bereits, daß der Präsident alle diese Bösewichte von Republikanern erschießen lasse. Der Marquis stand an den Kamin gelehnt und betrachtete mit nachdenklicher Miene eine verblaßte Rosette des Teppichs. Als er endlich aufblickte, schwieg Peter plötzlich, der die Wirkung seiner Worte heimlich in dem Antlitz des Marquis lesen zu wollen schien. Herr von Carnavant begnügte sich mit einem Lächeln, indem er mit schlauer Miene Felicité anschaute. Dieses behende Spiel entging den Spießbürgern, die sich hier zusammengefunden hatten. Bloß Vuillet sagte mit herber Betonung:

Ich würde diesen Bonaparte lieber in London als in Paris sehen. Unsere Angelegenheiten würden dann einen rascheren Fortgang nehmen.

Der ehemalige Ölhändler erbleichte, denn er fürchtete, zu weit gegangen zu sein.

Ich klammere mich nicht so stark an meinen Bonaparte, sagte er fest, Sie wissen ja, wohin ich ihn senden würde, wenn ich der Herr wäre. Ich behaupte einfach, daß der Feldzug gegen Rom eine gute Sache sei.

Mit neugierigem Erstaunen war Felicité dieser Szene gefolgt. Sie erwähnte ihrem Manne nichts mehr davon, was bewies, daß sie im geheimen darüber nachdachte. Das Lächeln des Marquis, das sie sich nicht genau zu erklären wußte, gab ihr viel zu denken.

Von diesem Tage angefangen ließ Rougon von Zeit zu Zeit, wenn sich gerade eine Gelegenheit darbot, ein Wörtchen zugunsten des Präsidenten der Republik einfließen. An solchen Abenden spielte Sicardot die Rolle des gutmütigen Gevatters. Im übrigen aber herrschte die klerikale Gesinnung unbeschränkt im gelben Salon; hauptsächlich aber im nächsten Jahre gewann diese Gruppe der Reaktionären einen entscheidenden Einfluß in der Stadt, und zwar dank der rückläufigen Bewegung, die in Paris sich vollzog. Die Gesamtheit von antiliberalen Maßnahmen, die man »die römische Expedition im Inlande« nannte, sicherte in Plassans endgültig den Sieg der Partei Rougon. Die letzten Bürger, die sich noch für die Republik begeisterten, sahen diese in den letzten Zügen und beeilten sich, ihren Anschluß an die Konservativen zu vollziehen. Die Stunde der Rougon war gekommen. Die Neustadt bereitete ihnen fast eine Ovation an dem Tage, als man den auf dem Präfekturplatze aufgerichteten Freiheitsbaum umsägte. Dieser Baum, eine jener Tannen, die man vom Ufer der Viorne hierher verpflanzt hatte, war allmählich verdorrt zum größten Leidwesen der republikanischen Arbeiter, die jeden Sonntag hier erschienen, um das Fortschreiten des Übels festzustellen, ohne die Ursache dieses langsamen Todes zu begreifen. Ein Hutmachergehilfe behauptete, er habe gesehen, wie ein Weib aus dem Rougonschen Hause gekommen sei und einen Kübel vergiftetes Wasser am Fuße des Baumes ausgeschüttet habe. Seither galt es in der Stadt als eine Tatsache, daß Felicité persönlich jede Nacht gekommen sei, um die Tanne mit Vitriol zu begießen. Als der Baum abgestorben war, erklärte der Gemeinderat, die Würde der Republik erheische seine Entfernung. Da man fürchtete, darob das Mißvergnügen der Arbeiterbevölkerung zu erregen, wählte man hierfür eine späte Nachtstunde. Die konservativ gesinnten Rentenbesitzer der Neustadt hatten von diesem kleinen Feste Wind bekommen; sie kamen alle auf den Präfekturplatz, um zu sehen, wie der Freiheitsbaum gefällt werde. Die Gesellschaft vom gelben Salon war an den Fenstern erschienen, um der Szene beizuwohnen. Als der Baum dumpf krachte und mit der tragischen Starre eines zu Tode getroffenen Helden im Schatten niederstürzte, glaubte Felicité mit ihrem weißen Taschentuch Triumph winken zu sollen. Das fand Beifall in der Menge und die Zuschauer erwiderten den Gruß, indem sie gleichfalls ihre Taschentücher wehen ließen. Eine Gruppe erschien sogar unter dem Fenster und schrie:

Wir werden sie begraben!

Ohne Zweifel meinten sie die Republik. Felicité war so aufgeregt, daß sie schier einen Nervenanfall bekam. Es war ein schöner Abend für den gelben Salon.

Indes bewahrte der Marquis noch immer sein geheimnisvolles Lächeln, wenn er Felicité anschaute. Dieser kleine Greis war zu schlau, um nicht zu begreifen, wohin Frankreich steuerte. Er war einer der ersten, die den Anzug des Kaiserreiches witterten. Als später die gesetzgebende Körperschaft in öffentlichem Gezänk ihre Kräfte verzettelte, als selbst die Orleanisten und Legitimisten stillschweigend sich mit dem Gedanken an einen Staatsstreich vertraut machten, sagte sich der Marquis, daß das Spiel entschieden verloren sei. Übrigens war er der einzige, der die Lage klar beurteilte. Vuillet fühlte wohl, daß die Sache Heinrichs V., die er in seiner Zeitung verfocht, allen Halt verlor, aber was lag ihm daran? Es genügte ihm, eine gehorsame Kreatur des Klerus zu sein. Seine ganze Politik ging darauf hinaus, so viel Rosenkränze und Heiligenbilder wie möglich unter die Leute zu bringen. Was Roudier und Granoux betrifft, so lebten sie in Schrecken und Blindheit. Es war nicht sicher, daß sie eine Meinung hatten; sie wollten vor allem in Ruhe essen und schlafen; das war der Punkt, wo ihre politischenBestrebungen eine Grenze fanden. Der Marquis erschien indes regelmäßig im Hause der Rougon, auch dann, als er seine Hoffnungen gescheitert sah. Die Sache machte ihm Spaß. Der Zusammenstoß der Meinungen, dieses Auskramen von spießbürgerlichen Tölpeleien bereiteten ihm allabendlich ein vergnügliches Schauspiel. Ihn überlief eine Gänsehaut, wenn er daran dachte, den Abend in dem Kämmerlein zuzubringen, das er durch die Gnade des Grafen Valqueyras bewohnte. Mit boshafter Freude bewahrte er für sich die Überzeugung, daß die Stunde der Bourbonen noch nicht geschlagen habe; Er tat, als sehe er nichts, arbeitete nach wie vor am Triumph der Rechtmäßigkeit und stellte sich dem Klerus und dem Adel zur Verfügung. Die neue Taktik Peters hatte er am ersten Tage durchschaut und glaubte, Felicité sei die Mitschuldige ihres Gatten.

Als er eines Abends als erster ankam, fand er die alte Frau allein in dem Salon.

Nun, Kleine, fragte er mit seiner lächelnden Vertraulichkeit, gehen eure Angelegenheiten gut? Weshalb, zum Henker, tust du mir gegenüber so geheim?

Ich tue nicht geheim, erwiderte Felicitè nachdenklich.