50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Die ernst und schwermütig stimmende Luft, die er seit seiner Kindheit einatmete, zeitigte in Silvère eine starke Seele, die jede Begeisterung in sich verschloß. Aus ihm ward ein ernster, überlegender Bursche, der mit einer Art Eigensinn den Unterricht besuchte. Er lernte in der Klosterschule nur ein wenig Rechtschreibung und Rechnen. Mit zwölf Jahren mußte er die Schule verlassen, um in die Lehre zu gehen. Die ersten Elemente des Unterrichtes fehlten ihm daher; dies hinderte ihn aber nicht, alle zerrissenen Bücher zu lesen, die ihm in die Hände fielen, und sich so eine eigentümliche Sprache anzugewöhnen. Er kannte Einzelheiten über eine Menge von Dingen, aber unvollständige, schlecht verdaute Einzelheiten, die er in seinem Schädel niemals klar zu verteilen wußte. Als er noch klein war, spielte er oft bei dem Stellmacher, Meister Vian, einem wackern Manne, dessen Werkstätte sich am Eingange des Sackgäßchens befand dem Saint-Mittre-Felde gegenüber, wo der Wagner sein Holz ablagerte. Er erkletterte die Räder der Karren, die man zur Ausbesserung hierher gebracht hatte; er schleppte die schweren Werkzeuge herum, die seine kleinen Hände kaum zu tragen vermochten; zu seinem größten Vergnügen gehörte es, den Arbeitern zu helfen, indem er ein Stück Holz hielt oder ihnen einen Reif herbeischleppte, dessen sie bedurften. Als er größer geworden war, trat er natürlich bei Vian in die Lehre, der eine Zuneigung zu dem Bürschchen gefaßt hatte, das ihn immerwährend zwischen den Beinen herumlief, und der ihn von Adelaide zur Lehre verlangte, ohne dafür ein Entgelt anzunehmen. Silvère folgte willig dem Rufe; er sah den Augenblick voraus, wo er der armen Tante Dide wiedererstatten werde, was sie für ihn ausgegeben hatte. Binnen kurzer Zeit ward er ein vorzüglicher Arbeiter. Doch sein Ehrgeiz strebte höher. Als er eines Tages bei einem Wagner in Plassans eine schöne, neue, glänzend lackierte Kalesche sah, sagte er sich, daß er eines Tages ähnliche Kaleschen bauen werde. Diese Kalesche behielt er in der Erinnerung wie einen seltenen, einzigartigen Kunstgegenstand, wie ein Ideal, welches sein Arbeiterehrgeiz erstrebte. Die Karren, an denen er bei Vian arbeitete, an die er sein Herz gehängt hatte, schienen ihm jetzt seiner Gunst unwürdig. Er begann die Zeichenschule zu besuchen, wo er sich einem jungen Menschen anschloß, der der Schule entsprungen war und ihm ein altes Handbuch der Geometrie lieh. Da vertiefte er sich ohne Führer in dieses Studium, zerbrach sich wochenlang den Kopf, um die einfachsten Dinge von der Welt zu begreifen. So ward er einer jener halbgebildeten Arbeiter, die kaum ihren Namen zu unterschreiben wissen und von der Algebra sprechen wie von einer ihnen bekannten Person. Nichts vermag einen Verstand dermaßen aus den Fugen zu bringen als eine so gewaltsame, auf keiner soliden Grundlage ruhende Bildung. In den meisten Fällen geben diese Brosamen des Wissens eine falsche Vorstellung von den hohen Wahrheiten und machen aus den Armen im Geiste unerträgliche Dickschädel. Bei Silvère steigerten diese Trümmer zusammengerafften Wissens nur die edlen Gesinnungen. Er war sich dessen bewußt, welche Gesichtskreise ihm verschlossen waren, machte sich eine ehrfurchtsvolle Vorstellung von den Dingen, an die hinanzureichen ihm versagt war und lebte in einem tiefen und gläubigen Kultus der großen Gedanken und großen Worte, nach denen er strebte, ohne sie jemals zu begreifen. Er war ein begeisterter Unschuldiger, der auf der Schwelle des Tempels blieb, vor den Kerzen kniend, die er aus der Ferne für Sternlein hielt.

Adelaidens Hütte im Saint-Mittre-Gäßchen bestand zunächst aus einer großen Stube, in die man unmittelbar von der Straße gelangte. Dieser mit Quadern gepflasterte Raum diente als Küche und Eßzimmer zugleich und war ausgestattet mit einigen Strohsesseln, einem Tische, dessen Platte quer auf einem Bocke lag, und einem alten, großen Koffer, den Adelaide in ein Sofa umgestaltet hatte, indem sie ein altes Stück Wollstoff darüber breitete. In einem Winkel links vom Ofen war ein Muttergottesbild aus Gips angebracht, umgeben von Kunstblumen, die Schutzpatronin, die bei den sonst nicht übermäßig frommen alten Provençalinen niemals fehlt. Ein Gang führte von diesem Zimmer nach dem kleinen Hofe, der hinter dem Hause lag, und in dem sich ein Brunnen befand. Links von dem Gange lag die Schlafkammer der Tante Dide, ein schmales Gelaß, wo sich nichts als ein eisernes Bett und ein Sessel befand. Rechts in einem noch engeren Räume, wo knapp für ein Gurtbett Platz war, schlief Silvère, der ein ganzes Brettergerüst, das bis an die Decke reichte, ersonnen hatte, um seine teueren Bücher behalten zu dürfen, die er um seine Sparpfennige bei einem benachbarten Trödler erstanden hatte. Nachts, wenn er las, hängte er seine Lampe an einen Nagel, den er zu Häupten seines Bettes eingeschlagen hatte. Ward die Großmutter von einem Anfall ereilt, so war er mit einem Sprung bei ihr.

Der junge Mann lebte, wie er als Kind gelebt hatte. Dieser verlorene Winkel umschloß sein ganzes Dasein. Wie einst seinem Vater, war auch ihm das Wirtshausleben und der Müßiggang am Sonntag zuwider. Die geräuschvollen Vergnügen seiner Kameraden verletzten seine sanfteren Neigungen. Er zog es vor, zu lesen oder sich an einer einfachen geometrischen Aufgabe den Kopf zu zerbrechen. Seitdem Tante Dide ihn damit betraute, die kleinen Besorgungen für das Hauswesen zu machen, ging sie nicht mehr aus und war ihrer eigenen Familie fremd geworden. Zuweilen dachte der junge Mensch an die Verlassenheit; er betrachtete die arme Alte, die so nahe bei ihren Kindern wohnte, und welche diese zu vergessen suchten, als ob sie tot sei; dann liebte er sie noch mehr; er liebte sie für sich und für die anderen. Wenn er manchmal das unbestimmte Gefühl hatte, daß Tante Dide alte Sünden büße, dachte er: Ich bin geboren, um ihr zu verzeihen.

In einem so lebhaften, verschlossenen Geiste mußten die republikanischen Gedanken naturgemäß zu heller Begeisterung auflodern. Nachts las Silvère in seiner Höhle immer wieder einen Band Rousseau, den er bei einem benachbarten Trödler unter altem Eisen entdeckt hatte. Dieses Buch hielt ihn oft bis zum Morgen wach. In seinem Traume vom Glücke aller – diesem Traume, der allen Unglücklichen so teuer ist – schlugen die Worte: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mit dem hellen und heiligen Klang der Glocken an sein Ohr, deren Schall die Gläubigen in die Knie sinken läßt. Als er vernahm, daß in Frankreich die Republik ausgerufen sei, glaubte er denn auch, daß nunmehr alle Welt in himmlischer Glückseligkeit leben werde. Seine Halbbildung ließ ihn weiter schauen als die übrigen Arbeiter; bei dem täglichen Brote machte sein Ehrgeiz nicht halt. Doch seine treuherzige Einfalt, seine völlige Unkenntnis der Menschen erhielten ihn in einem unwirklichen Traum, in einem Paradiese, wo die ewige Gerechtigkeit herrschte. Sein Himmelreich war für ihn lange Zeit ein Ort der Freuden, wo er gerne weilte. Wenn er zu bemerken glaubte, daß nicht alles zum besten bestellt sei in der besten der Republiken, empfand er unsägliches Leid. Er träumte dann einen andern Traum, in dem die Menschen gewaltsam genötigt wurden, glücklich zu sein. Jede Tat, die in seinen Augen die Interessen des Volkes zu verletzen schien, erregte in ihm eine Entrüstung, die nach Rache dürstete. Kindlich sanft im Gemüte, war er doch eines wütenden, politischen Hasses fähig. Er, der nicht eine Fliege getötet hätte, sprach davon, die Waffen zu ergreifen. Die Freiheit war seine Leidenschaft, eine sinnlose, gewalttätige Leidenschaft, in die er alle fieberhafte Glut seines Blutes legte. Geblendet durch seine Begeisterung, zu unwissend und zu unterrichtet zugleich, um duldsam zu sein, wollte er mit den Menschen nicht rechnen; er verlangte eine vollkommene Regierung, die lauter Gerechtigkeit und Freiheit sein solle. Um diese Zeit kam sein Oheim Macquart auf den Gedanken, ihn gegen die Rougon loszulassen. Er sagte sich, daß dieser junge Narr, wenn er gehörig erbittert würde, schreckliche Arbeit tun werde. Und diese Berechnung war nicht so dumm.

Antoine trachtete denn, Silvere an sich zu locken, indem er eine maßlose Bewunderung für die Gedanken des jungen Menschen zur Schau trug. Zu Beginn war er nahe daran, sein ganzes Spiel zu verderben; er hatte eine eigene selbstsüchtige Art, den Sieg der Republik als eine glückliche Zeit des Nichtstuns und der ewigen Freßgelage zu betrachten; dies beleidigte aber die rein sittlichen Bestrebungen seines Neffen. Er begriff sogleich, daß er einen falschen Weg eingeschlagen habe, und stürzte sich kopfüber in eine seltsame Begeisterung, in einen endlosen Schwall von hochtönenden, leeren Worten, die Silvère als eine genügende Probe seines Bürgersinnes annahm. Oheim und Neffe fanden sich bald zwei-, dreimal in der Woche zusammen. Während ihrer langen Gespräche, in denen das Schicksal des Landes schlankweg entschieden wurde, versuchte Antoine den jungen Menschen zu überzeugen, daß der Salon der Rougon das hauptsächlichste Hindernis sei, das dem Glücke Frankreichs im Wege stehe. Doch er geriet von neuem auf einen Abweg, als er seine Mutter vor Silvère eine alte Gaunerin nannte. Er ging so weit, dem Burschen die ehemalige Ärgernis erregende Aufführung der armen Alten zu erzählen. Rot vor Scham hörte der Junge ihn an, ohne ihn zu unterbrechen. Er hatte ihn nach diesen Dingen nicht gefragt; ein solches Bekenntnis schmerzte ihn und verletzte seine respektvolle Anhänglichkeit an Tante Dide. Seit jenem Tage umgab er seine Großmutter mit noch mehr Sorgfalt; er betrachtete sie oft mit einem gütigen Lächeln und mit Blicken der Verzeihung. Macquart hatte übrigens gemerkt, daß er eine Dummheit begangen und bemühte sich, die Zuneigung des Burschen für seine Großmutter auszunutzen, indem er den Rougons die Vereinsamung und Armut der Alten schuld gab. Wenn man ihn hörte, war er stets der beste der Söhne gewesen, während sein Bruder sich unwürdig betragen habe; dieser habe seine Mutter ausgeplündert und heute, da sie keinen Sou besitze, schäme er sich ihrer. Über diesen Gegenstand fanden endlose Gespräche zwischen ihnen statt. Silvère ward entrüstet gegen seinen Oheim Peter – zur großen Befriedigung seines Oheims Antoine.

 

Bei jedem Besuche des jungen Mannes wiederholten sich dieselben Szenen. Er kam abends, während die Familie Macquart beim Essen saß. Der Vater würgte brummend irgendein Kartoffelmus hinab; er nahm die Speckstücke für sich und sah es mit mißgünstigen Augen, wenn die Schüssel an Jean und Gervaise kam.

Du siehst, Silvère, sagte er mit einer verhaltenen Wut, die er nur schlecht unter einer Miene spöttischer Gleichgültigkeitverbarg, wieder Kartoffeln, nichts als Kartoffeln! Das Fleisch ist für die reichen Leute da. Es ist schwer, sein Auskommen zu finden mit Kindern, die einen so höllischen Appetit haben.

Dann schauten Jean und Gervaise bestürzt auf ihren Teller und wagten nicht mehr, sich Brot abzuschneiden. Doch Silvère, der in nebelhaften Träumen lebte, hatte kein Verständnis für die Vorgänge um ihn her. Er sprach mit ruhiger Stimme die wetterschwülen Worte:

Sie sollten eben arbeiten, Oheim!

Ach so! fuhr der im Innersten Getroffene auf, du sagst, ich solle arbeiten? Damit die schurkischen Reichen mich noch weiter auszunützen? Wenn ich mich zu Tode rackere, kann ich vielleicht zwanzig Sous täglich erwerben. Das lohnt doch wohl die Mühe!…

Man erwirbt so viel wie man kann, erwiderte der junge Mann. Zwanzig Sous sind zwanzig Sous, auch ein Zuschuß in einem Haushalte… Sie sind übrigens Soldat gewesen, warum suchen Sie nicht irgendeine Anstellung?

Da mengte Fine sich in das Gespräch mit einer Unbesonnenheit, die sie bald bereuen sollte.

Das wiederhole ich ihm ja alle Tage, sagte sie. Der Marktaufseher braucht jetzt gerade einen Gehilfen; ich habe ihm meinen Mann vorgeschlagen, und er scheint uns günstig gesinnt zu sein…

Macquart sandte ihr einen niederschmetternden Blick zu.

Schweig! rief er ihr mit verhaltenem Zorne zu. Die Weiber wissen nie, was sie reden! Man nimmt mich gewiß nicht, denn man kennt meine Gesinnungen.

Jedesmal, wenn man ihm irgendeinen Dienstplatz anbot, geriet er in heftigen Zorn. Doch hörte er nicht auf, Anstellungen zu fordern, und fand man eine solche für ihn, so lehnte er sie mit den sonderbarsten Begründungen ab. Wenn man ihm in diesem Punkte schärfer zusetzte, konnte er schrecklich werden.

Wenn Jean nach dem Essen eine Zeitung zur Hand nahm, sagte er ihm:

Du tätest auch besser, schlafen zu gehen; sonst verschläfst du morgen früh die rechte Stunde und hast einen Tag verloren. Würde man es glauben, daß dieser Nichtsnutz die vergangene Woche acht Franken weniger heimgebracht hat? Doch ich habe seinen Meister gebeten, ihm nicht mehr das Geld zu geben; ich selbst werde es künftig in Empfang nehmen.

Und Jean ging schlafen, um die Scheltreden seines Vaters nicht länger anhören zu müssen. Er hatte wenig Zuneigung für Silvère; die Politik langweilte ihn und er fand, daß bei seinem Vetter »nicht alles richtig sei«. Wenn dann die Frauen allein da geblieben waren und nach Abräumung des Tisches halblaut miteinander plauderten, schrie Macquart:

Da sieht man die Tagediebe! Gibt es nichts auszubessern im Hause? Wir gehen ja in Lumpen einher… Höre mal, Gervaise, ich habe bei deiner Patronin Nachfrage gehalten und da saubere Dinge erfahren. Du bist eine nichtsnutzige Herumstreicherin.

Gervaise, schon ein erwachsenes Mädchen von zwanzig Jahren, errötete, wenn sie in solcher Weise vor Silvère ausgescholten wurde. Dieser saß ihr gegenüber und empfand darob gleichfalls ein Mißbehagen. Als er eines Abends, an dem der Oheim abwesend war, spät kam, fand er Mutter und Tochter zu Tode betrunken vor einer leeren Schnapsflasche. Seither konnte er seine Base nicht wiedersehen, ohne sich des schmählichen Anblicks zu erinnern, den dieses Kind bot mit seinem plumpen Gelächter und den breiten, roten Flecken auf den blassen, mageren Backen. Auch war er durch die häßlichen Geschichten eingeschüchtert, die über Gervaise im Umlauf waren. In köstlicher Keuschheit aufgewachsen, betrachtete er sie zuweilen von der Seite mit dem scheuen Erstaunen eines Schülers, den man mit einer Dirne zusammengeführt hat.

Wenn die beiden Frauenzimmer ihr Nähzeug genommen hatten, sich die Augen dabei heraussahen, ihm seine alten Hemden auszubessern, warf Macquart sich bequem in den besten Sessel zurück, den es im Hause gab, schlürfte seinen Kaffee und rauchte dazu seine Pfeife wie einer, der mit Behagen seine Faulenzerei genießt. In solchen Stunden pflegte der alte Halunke die reichen Leute anzuklagen, daß sie sich mit dem Schweiße der Armen mästeten. Er erging sich in großartigen Zornesausbrüchen gegen die Herren in der Neustadt, die im Nichtstun dahin lebten und sich von den armen Leuten ernähren ließen. Die Brocken von kommunistischen Gedanken, die er am Vormittag sich aus den Zeitungen geholt hatte, klangen aus seinem Munde plump und ungeheuerlich. Er sprach von einer nahen Zeit, in der niemand mehr werde arbeiten müssen. Doch bewahrte er den Rougon seinen grausamsten Haß. Er konnte eben die Kartoffeln durchaus nicht verdauen.

Heute morgen sah ich die Gaunerin Felicité in der Markthalle ein Huhn kaufen, erzählte er; diese Erbschleicher nähren sich mit Hühnerfleisch!

Tante Dide behauptet, erwiderte Silvère, daß mein Oheim Peter gut zu Euch gewesen, als Ihr vom Militärdienst heimkehrtet. Hat er nicht eine beträchtliche Summe ausgegeben, um Euch Kleidung und Wohnung zu verschaffen?

Eine beträchtliche Summe? heulte Macquart erbittert. Deine Großmutter ist verrückt. Diese Räuber haben selbst solche Geschichten in Umlauf gebracht, um mir das Maul zu schließen. Gar nichts habe ich bekommen!

Hier beging Fine abermals die Unbesonnenheit sich einzumengen, indem sie ihren Mann daran erinnerte, daß er zweihundert Franken erhalten habe, ferner einen vollständigen Anzug und die Wohnungsmiete für ein Jahr. Antoine schrie ihr zu, sie solle schweigen, und fuhr mit steigendem Zorne fort:

Zweihundert Franken! Was ist das? Ich verlange was mir gebührt, das sind zehntausend Franken! Ja, ja; es rede mir nur einer von dem Loch, in das sie mich geworfen haben, wie einen Hund, und von dem alten Überrock, den Peter nicht mehr tragen wollte, weil er schon zu schmierig und löcherig war.

Er log; allein angesichts seiner Wut wagte niemand ihm zu widersprechen. Dann wandte er sich zu Silvère und sagte:

Du bist noch einfältig genug, sie zu verteidigen? Sie haben ja auch deine Muter beraubt, und das arme Weib wäre nicht gestorben, wenn sie die Mittel gehabt hätte, sich besser zu pflegen.

Nein, Ihr seid nicht gerecht, Oheim, sprach der junge Mann; meine Mutter ist nicht wegen mangelnder Pflege gestorben, und ich weiß auch, daß mein Vater niemals einen Sou von der Familie seines Weibes angenommen haben würde.

Ach, laß mich zufrieden! Dein Vater hätte das Geld gerade so angenommen wie jeder andere. Wir sind in unwürdiger Weise ausgeplündert worden und müssen unser Gut wiederbekommen.

Und Macquart begann zum hundertstenmal die Geschichte mit den fünfzigtausend Franken. Sein Neffe, der sie schon auswendig wußte, geschmückt mit allen Abweichungen, hörte ihm ungeduldig zu.

Wenn du ein Mann wärest, sagte Antoine schließlich, würdest du eines Tages mit mir kommen, und wir würden zusammen bei den Rougon einen hübschen Krawall machen. Wir würden nicht eher wieder fortgehen, als bis man uns Geld gäbe.

Doch Silvère wurde ernst und erwiderte mit klarer Stimme:

Wenn diese Elenden uns geplündert haben, dann um so schlimmer für sie! Ich mag ihr Geld nicht. Hört, Oheim! es ist nicht unsere Sache, unsere Familie zu züchtigen. Wenn sie schlecht gehandelt haben, werden sie eines Tags schrecklich gestraft werden.

Oh, welch ein großer Einfaltspinsel! schrie der Oheim. Laß uns nur erst die Stärkeren sein, dann sollst du sehen, wie ich meine Rechnung mit diesen Leuten mache. Der liebe Gott kümmert sich wenig um uns! Es ist eine gar schmutzige Familie, die unsrige! Wenn ich Hungers stürbe, würde keiner dieser Schelme mir auch nur einen Bissen trockenen Brotes zuwerfen.

Wenn Macquart diesen Gegenstand berührte, konnte er nimmer aufhören. Er zeigte die blutenden Schwären seines Neides ganz offen. Er ward wild, wie ein Stier, wenn er daran dachte, daß er allein in der Familie Pech hatte und daß er Kartoffeln aß, während die anderen nach Belieben Fleisch haben konnten. Alle seine Anverwandten, selbst seine Großneffen, gingen bei solchen Gelegenheiten durch seine Hände und gegen jeden wußte er Anschuldigungen und Drohungen vorzubringen.

Ja, ja, wiederholte er bitter, sie würden mich verrecken lassen, wie einen Hund.

Zuweilen bemerkte Gervaise schüchtern und ohne von ihrer Arbeit aufzublicken:

Und doch, Vater, hat Vetter Pascal sich gut zu uns erwiesen, als du im vorigen Jahr krank warst.

Er hat dich ärztlich behandelt, ohne einen Sou Entgelt zu fordern, fügte Fine hinzu, indem sie ihrer Tochter zu Hilfe kam; oft genug hat er mir ein Fünffrankenstück in die Hand gedrückt, damit ich dir Kraftbrühen bereiten könne.

Er! Er hätte mich krepieren lassen, wenn ich nicht von so starker Leibesbeschaffenheit wäre! rief Macquart. Schweiget, ihr dummen Weiber! Ihr würdet euch »einfädeln« lassen, wie die kleinen Kinder. Alle möchten mich am liebsten tot sehen. Wenn ich wieder krank würde, sollt ihr mir nicht meinen Neffen holen, denn ich fühlte mich nicht ganz sicher in seinen Händen. Das ist ein Arzt für die Bettler; er hat keinen einzigen »anständigen« Menschen in seiner ganzen Praxis.

Und weil er einmal im Schwünge war, ließ er sich immer mehr gehen.

Gerade so wie die Schlange Aristid! fuhr er fort. Der ist ein falscher Bruder, ein Verräter. Oder gehst du etwa seinen Artikeln im »Unabhängigen« auf dem Leim, Silvère? Da wärest du ein nicht gewöhnlicher Schafskopf! Ich habe immer behauptet, daß dieser eingeschmuggelte Republikaner mit seinem würdigen Vater unter einer Decke spielt und daß es bei diesem Spiele um unsere Haut geht. Du wirst schon sehen, wie er den Mantel dreht. Und erst sein Bruder, der berühmte Eugen, dieser dicke Tölpel, mit dem sie so viel Staat machen! Von diesem verbreiten sie gar, er habe eine schöne Stellung in Paris! Ach ja, ich kenne diese schöne Stellung. Als Spitzel ist er angestellt in der Jerusalem-Straße.

Wer hat Euch das gesagt? Ihr wißt nichts davon, unterbrach ihn Silvère, dessen schlichter Sinn endlich durch die erlogenen Beschuldigungen seines Oheims beleidigt wurde.

So? Ich weiß nichts davon? Glaubst du? Und ich sage dir, er ist ein Spitzel … Du in deiner Gutmütigkeit würdest dich scheren lassen, wie ein Schaf. Du bist kein Mann. Ich will von deinem Bruder Franz nichts Schlimmes sagen; aber wenn ich an deiner Stelle wäre, würde es mich doch arg verdrießen, so schmutzig behandelt zu werden, wie er dich behandelt. Er erwirbt in Marseille schweres Geld, und es fällt ihm nie ein, dir ein Zwanzigfrankenstück zu senden, damit du dir dann und wann ein kleines Vergnügen gönnen könntest. Wahrhaftig, wenn du eines Tages in Not wärest, würdest du dich an ihn vergeblich um Hilfe wenden.

Ich brauche niemanden, entgegnete der junge Mann stolz und gereizt. Meine Arbeit genügt, um mich und Tante Dide zu erhalten. Ihr seid grausam, Ohm!

Ich sage nur die Wahrheit und möchte dir die Augen öffnen. Unsere Familie ist eine schmutzige Familie; das ist traurig, aber es ist so. Selbst der kleine Maxime, der Sohn Aristids, dieser neunjährige Balg, streckt die Zunge gegen mich heraus, wenn er mich sieht. Dieser Knirps wird eines Tages seine Mutter prügeln, und das wird recht sein. Du magst sagen was du willst: diese Leute verdienen ihr Glück nicht. Aber so ist es in allen Familien; die Guten verkümmern, und die Schlechten gedeihen.

All die schmutzige Wäsche, die Macquart mit so vielem Behagen vor seinem Neffen wusch, widerte den jungen Menschen in der Seele an. Er hätte lieber seine Träume weitergesponnen. Wenn er sich allzu ungeduldig zeigte, wandte Antoine die großen Mittel an, um ihn gegen seine Anverwandten zu erbittern.

Verteidige sie nur, sagte er und wurde scheinbar ruhiger. Ich habe mich darauf eingerichtet, nichts mehr mit ihnen zu tun zu haben. Was ich dir darüber sage, geschieht nur aus Liebe zu meiner armen Mutter, die diese ganze Sippe in einer wahrhaft empörenden Weise behandelt.

Es sind Elende! murmelte Silvère.

Oh, du weißt nichts davon. Es gibt nichts so Schmachvolles, was die Rougon nicht von der armen Alten sagen. Aristides hat seinem Sohne verboten, sie zu grüßen. Felicité spricht davon, die Alte in ein Narrenhaus stecken zu lassen.

 

Bleich wie sein Hemd, hörte der junge Mensch diese Reden.

Genug! rief er; ich mag nichts mehr wissen. All dies muß ein Ende nehmen.

Gut, gut, ich schweige schon, da es dich ärgert, sagte der alte Halunke, einen gemütlicheren Ton anschlagend. Es gibt aber doch Dinge, die du wissen mußt, wenn du nicht eines Tages die Rolle eines Tölpels spielen willst.

Indem er sich so bemühte, Silvère gegen die Rougon aufzuhetzen, war es Macquart ein auserlesener Genuß, dem jungen Menschen Tränen des Schmerzes zu erpressen. Er verabscheute diesen vielleicht noch mehr als die übrigen, weil er ein vorzüglicher Arbeiter war und niemals trank. Darum strengte er seinen boshaftesten Scharfsinn an, um die grausamsten Lügen zu erfinden, die den armen Burschen im Herzen trafen; er ergötzte sich dann an seiner Blässe, an dem Zittern seiner Hände, an seinen trostlosen Blicken mit der Wollust eines bösen Geistes, der seine Schläge berechnet und sein Opfer an der empfindlichsten Stelle getroffen hat. Wenn er Silvère genügend verletzt und verbittert zu haben glaubte, ging er endlich auf die Politik über.

Man hat mir versichert, sagte er halblaut, daß die Rougon einen bösen Streich vorbereiten.

Einen bösen Streich?

Ja; in einer der nächsten Nächte wird man sich aller guten Bürger der Stadt bemächtigen und sie in den Kerker werfen.

Der junge Mann zweifelte zunächst. Doch sein Oheim lieferte genaue Einzelheiten; er sprach von angefertigten Listen und nannte Personen, die auf den Listen stünden; er gab Andeutungen darüber, in welcher Weise, zu welcher Stunde und unter welchen Umständen die Verschwörung ins Werk gesetzt werden solle. Allmählich ließ Silvère sich durch dieses Altweibermärchen fangen, und bald begann er gegen die Feinde der Republik zu zetern.

Wir müssen sie ohnmächtig machen, wenn sie fortfahren, das Land zu verraten! rief er. Und was wollen sie mit den Bürgern anfangen, die eingekerkert werden sollen?

Was sie mit ihnen anfangen wollen? erwiderte Macquart mit einem trockenen Lachen. Man wird sie in den Gräben und Gängen der Kerker über den Haufen schießen.

Da der junge Mensch, starr vor Schrecken, ihn anschaute, ohne ein Wort der Erwiderung zu finden, fuhr er fort:

Sie werden nicht die ersten sein, die man dort mordet. Wenn du dich des Abends ein wenig in der Nähe des Justizpalastes herumtreiben willst, wirst du dort Schüsse und Todesgestöhn hören.

Diese Schurken! murmelte Silvère.

Und jetzt stürzten sich Oheim und Neffe in die hohe Politik. Als Fine und Gervaise sich in ihre Erörterung vertieft sahen, schlichen sie unbemerkt davon und gingen schlafen. Bis Mitternacht blieben die beiden Männer so beisammen und besprachen die Pariser Nachrichten und den bevorstehenden unausbleiblichen Kampf. Macquart ließ sich bitter über die Männer seiner Partei aus; Silvère träumte ganz laut seinen Traum von der vollkommenen Freiheit für sich hin. Es waren seltsame Unterhaltungen, bei denen der Oheim sich unzählige Gläschen einschenkte, während der Neffe sich an seiner Begeisterung berauschte. Indes vermochte Antoine von dem jungen Republikaner niemals einen treulosen Anschlag, einen Feldzugsplan gegen die Rougon zu erlangen; vergebens drängte er ihn; er hörte aus seinem Munde nur Hinweise auf die ewige Gerechtigkeit, die früher oder später die Bösen strafen würde.

Der Knabe in seinen edelmütigen Regungen sprach mit fieberhaftem Eifer davon, zu den Waffen zu greifen und die Feinde der Republik zu morden; aber sobald diese Feinde aus dem Reich seiner Träume heraustraten und sich in seinem Oheim Peter oder einem andern seiner Bekanntschaft verkörperten, rechnete er auf den Himmel, daß dieser es ihm ersparen werde, Blut zu vergießen. Man darf annehmen, daß er aufgehört hätte, Macquart zu besuchen, dessen wilde Neidausbrüche ihm ein gewisses Mißbehagen verursachten, wenn er sich nicht der Freude hätte hingeben können, bei ihm ganz frei von seiner lieben Republik zu reden. Immerhin übte sein Oheim einen entscheidenden Einfluß auf sein Geschick; er erregte seine Nerven durch sein ewiges Schimpfen und brachte es schließlich dahin, daß der Knabe heftiges Verlangen trug nach dem Kampfe mit bewaffneter Hand, nach dem gewaltsamen Erringen des allgemeinen Glücks.

Als Silvère sein sechzehntes Lebensjahr erreichte, ließ Macquart ihn unter die »Bergbewohner« aufnehmen, in diesen mächtigen Bund, der über den ganzen Süden verbreitet war. Seit diesem Augenblicke schielte der junge Republikaner nach dem Karabiner des Schmugglers, den Adelaide über den Kamin an die Wand gehängt hatte. Eines Nachts, während seine Großmutter schlief, putzte er die Waffe und setzte sie instand. Dann hängte er sie wieder an den Nagel und wartete. Und er wiegte sich in seinen begeisterten Träumen, ersann in seiner Einbildung riesenhafte Heldengedichte, eine Art ritterlicher Turniere, aus denen die Verteidiger der Freiheit als Sieger hervorgingen, bejubelt von der ganzen Welt.

Trotz der Erfolglosigkeit seiner Anstrengungen verlor Macquart den Mut nicht. Er sagte sich, daß er allein es zuwege bringen werde, die Rougon zu erwürgen, wenn er sie jemals in irgendeinem Winkel in seiner Gewalt haben würde. Seine Wut eines neidischen und hungernden Müßiggängers wuchs noch infolge einer Reihe von Unglücksfällen, die ihn nötigten, wieder zur Arbeit zu greifen. In den ersten Tagen des Jahres 1850 starb Fine an den Folgen einer Erkältung, die sie sich holte, als sie eines Abends die Wäsche der Familie in der Viorne wusch und dann in nassem Zustande auf dem Rücken heimtrug. Triefend von Wasser und Schweiß, keuchend unter der schweren Bürde war sie heimgekehrt und hatte das Siechbett nicht mehr verlassen. Dieser Todesfall versetzte Macquart in nicht geringe Bestürzung. Sein sicherstes Einkommen war weg. Als er nach einigen Tagen den Ofen verkaufte, auf dem Fine die Kastanien briet, und das Holzgestell, dessen sie sich bei dem Einflechten der Strohsessel zu bedienen pflegte, klagte er in rohen Worten den lieben Gott an, daß er ihm sein Weib genommen, diese starke Person, deren er sich stets geschämt hatte und deren ganzen Wert er jetzt erkannte. Um so gieriger warf er sich jetzt auf den Erwerb seiner Kinder. Allein Gervaise ward seiner unaufhörlichen Geldforderungen bald überdrüssig und ging einen Monat später ihrer Wege, mit ihren zwei Kindern und mit Lantier, dessen Mutter ebenfalls gestorben war. Das Liebespaar floh nach Paris. Niedergeschmettert von dieser Handlungsweise seiner Tochter geriet Antoine in schreckliche Wut und wünschte ihr, sie möge im Krankenhause enden wie ihresgleichen. Allein diese Lästerungen gestalteten seine Lage nicht besser, die eine entschieden schlimme war. Jean folgte bald dem Beispiele seiner Schwester. Er wartete einen Lohntag ab und wußte es so einzurichten, daß er selbst seinen Lohn in Empfang nahm. Beim Fortgehen sagte er einem seiner Freunde, der es dann Antoine wiedersagte, er wolle nicht langer seinen Taugenichts von Vater ernähren; wenn dieser ihn durch die Gendarmen zurückführen lassen solle, werde er Säge und Hobel nicht mehr anrühren. Als Antoine ihn am folgenden Tage vergebens suchte und sich ohne einen Sou allein sah in der Behausung, wo er sich zwanzig Jahre lang hatte aushalten lassen, geriet er in eine schreckliche Wut, stieß mit den Füßen nach den Möbeln und lästerte in ungeheuerlicher Weise. Dann sank er hin und stöhnte wie ein zu Tode Getroffener. Die Furcht, sein Brot verdienen zu müssen, machte ihn krank. Als Silvère zu Besuch kam, beklagte er sich weinend über die Undankbarkeit seiner Kinder. War er denn nicht immer ein guter Vater gewesen? Jean und Gervaise seien Ungeheuer, die ihm schlecht all das lohnten, was er für sie getan. Jetzt verließen sie ihn, weil er alt sei und sie ihn nicht mehr ausnützen konnten.