50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
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Aber Oheim, Sie sind doch noch in dem Alter, um arbeiten zu können, bemerkte Silvère.

Macquart hüstelte, krümmte sich und schüttelte den Kopf, als wollte er sagen, daß er selbst der mindesten Anstrengung nimmer fähig sei. In dem Augenblicke, als sein Neffe sich zum Gehen anschickte, borgte er zehn Franken von ihm. Einen Monat lebte er davon, daß er die alten Kleider seiner Kinder, ein Stück nach dem andern, zum Trödler trug; ebenso verschacherte er nach und nach die kleinen Gegenstände des Hausrates. Bald hatte er nichts, als einen Tisch, einen Sessel, sein Bett und die Kleider, die er am Leibe trug. Schließlich ging er so weit, das aus Nußholz gemachte Bett gegen ein solches von weichem Holze zu vertauschen. Als er mit allen Hilfsquellen zu Ende war, holte er wütend und mit der Miene eines Menschen, der sich zum Selbstmorde entschließt, das Bündel Weidenruten hervor, das seit einem Vierteljahrhundert in einem Winkel vergessen gelegen hatte.

Als er es aufhob, schien er einen Berg von der Stelle zu rücken. Und jetzt begann er wieder, Hand- und Holzkörbe zu flechten, wobei er die Menschheit wegen seiner Verlassenheit anklagte. Zu dieser Zeit hauptsächlich sprach er davon, mit den Reichen teilen zu wollen. Er zeigte sich als ein Schreckensmensch. Mit seinen Brandreden entzündete er die Kneipe fast, wo seine wilden Blicke ihm einen unbeschränkten Kredit verschafften. Übrigens arbeitete er nur dann, wenn es ihm nicht gelingen wollte, bei Silvère oder einem Saufkameraden ein Hundertsoustück zu pumpen. Er war nicht mehr »Herr« Macquart, der täglich rasierte und sauber gekleidete Arbeiter, der sich auf den Spießbürger aufspielte; er war jetzt wieder der schmutzige Geselle von ehemals, der auf seine Lumpen spekulierte. Jetzt, da er sich mit seinen Körben fast auf jedem Wochenmarkte einfand, wagte Felicité nicht mehr, in der Markthalle zu erscheinen. Einmal machte er ihr eine schreckliche Szene. Mit seinem Elend wuchs auch sein Haß gegen die Rougon. Er schwor unter fürchterlichen Drohungen, sich selbst Gerechtigkeit verschaffen zu wollen, da die Reichen sich untereinander verständigten, ihn zur Arbeit zu zwingen.

Unter so bewandten Umständen nahm Macquart die Kunde von dem Staatsstreiche mit der geräuschvollen Freude eines Hundes auf, der den Trieb wittert. Da die wenigen anständigen Liberalen in der Stadt sich nicht hatten verständigen können und sich daher abseits hielten, war es nur natürlich, daß Antoine einer der vordersten Agenten der Erhebung wurde. Trotz ihrer abfälligen Meinung von diesem Müßiggänger mußten ihn die Arbeiter bei dieser Gelegenheit für ein Banner ansehen, unter welchem sie sich scharten. Doch als die Stadt in den ersten Tagen ruhig blieb, glaubte Macquart, seine Pläne seien vereitelt worden. Erst bei der Nachricht von der Erhebung der Landbevölkerung begann er wieder zu hoffen. Um keinen Preis der Welt würde er Plassans verlassen haben. Darum ersann er einen Vorwand, um den Arbeitern nicht zu folgen, die am Sonntag morgen zu der aufrührerischen Bande von La Palud und von Saint-Martin-de-Vaulx stießen. Am Abende desselben Tages befand er sich mit einigen Getreuen in einer verdächtigen Kneipe der Altstadt, als ein Genosse herbeieilte, um sie zu benachrichtigen, daß die Aufrührer wenige Kilometer von Plassans stünden. Diese Kunde sei soeben durch einen Eilboten gebracht worden, dem es gelungen war, in die Stadt zu kommen, und der beauftragt war, der Bande die Stadttore öffnen zu lassen. Diese Kunde erregte ein Jubelgeheul. Besonders Macquart schien toll vor Begeisterung. Dieses unerwartete Eintreffen der Aufständischen betrachtete er wie eine gnädige Fügung der Vorsehung. Seine Hände zitterten vor Wonne bei dem Gedanken, daß er diese Rougon bald an der Gurgel haben werde.

Indes beeilten sich Antoine und seine Genossen, das Kaffeehaus zu verlassen. Alle Republikaner, die die Stadt noch nicht verlassen hatten, fanden sich alsbald auf der Promenade Sauvaire ein. Es war die Rotte, die Rougon gesehen hatte, als er in die Behausung seiner Mutter lief, um sich da zu verbergen. Als die Bande auf der Höhe der Banne-Straße ankam, hieß Macquart, der in der Nachhut geblieben war, vier seiner Genossen zurückbleiben; es waren dies kräftige Burschen mit wenig Grütze, die er mit seinen Kaffeehausreden beherrschte. Er redete ihnen ohne Mühe ein, daß man unverzüglich die Feinde der Republik dingfest machen müsse, wenn man schweren Unglücksfällen vorbeugen wolle. Die Wahrheit war, daß er fürchtete, Peter könnte in den Trubel, den der Einmarsch der Aufständischen in der Stadt verursachen mußte, ihm entrinnen. Die vier Burschen folgten ihm mit musterhafter Fügsamkeit und pochten an der Türe der Rougon. Unter diesen kritischen Umständen benahm sich Felicité mit bewundernswürdigem Mute. Sie ging hinab und öffnete die Haustür.

Wir wollen zu dir hinauf gehen, sagte ihr Macquart barsch.

Es ist gut, meine Herren, gehen Sie hinauf, erwiderte sie mit spöttischer Höflichkeit, indem sie tat, als erkenne sie ihren Schwager nicht.

Oben in der Wohnung gebot ihr Macquart, ihren Mann zu holen.

Mein Mann ist nicht da, sagte sie sehr ruhig; er ist in Geschäften verreist; um sechs Uhr abends ist er mit der Eilpost nach Marseille gefahren.

Antoine fuhr wütend auf, als er diese mit klarer Stimme abgegebene Erklärung vernahm. Hastigen Schrittes trat er in das Empfangszimmer, von da in das Schlafzimmer, durchwühlte das Bett, schaute unter die Vorhänge und unter die Möbel. Die vier langen Burschen waren ihm bei diesem Tun behilflich. Eine Viertelstunde lang durchstöberten sie die ganze Wohnung. Felicité hatte sich inzwischen ruhig auf dem Sofa im Empfangszimmer niedergelassen und machte sich mit dem Schnüren ihrer Röcke zu schaffen, wie eine Person, die in ihrer Nachtruhe gestört worden ist und noch nicht Zeit gefunden hat, sich in schicklicher Weise anzukleiden.

Es ist also wahr, der Feigling hat sich geflüchtet? stotterte Macquart, in den Salon zurückkehrend.

Dabei fuhr er fort, argwöhnisch um sich zu blicken. Er hatte das Gefühl, daß Peter unmöglich das Spiel im entscheidenden Momente aufgegeben haben konnte. Er näherte sich Felicité und sagte:

Zeige uns den Ort, wo dein Mann versteckt ist und ich verspreche dir, daß ihm kein Leid zugefügt werden soll.

Ich habe euch die Wahrheit gesagt, erwiderte sie ungeduldig. Ich kann euch meinen Mann nicht ausliefern, wenn er nicht da ist. Ihr habt überall gesucht, laßt mich jetzt in Frieden.

Durch Felicités Kaltblütigkeit zum äußersten getrieben, war Macquart auf dem Sprunge, sie zu mißhandeln, als von der Straße her ein dumpfes Geräusch sich vernehmbar machte. Es war die Rotte der Aufständischen, die in die Banne-Straße einmarschierte.

Antoine verließ nun das gelbe Zimmer, nicht ohne vorher seine Schwägerin mit der Faust zu bedrohen und der »alten Gaunerin« seine Wiederkehr in Aussicht zu stellen. Am Fuße der Treppe nahm er einen der Männer, die ihn begleitet hatten, einen Erdarbeiter namens Cassoute, beiseite und gebot ihm, sich auf der ersten Treppenstufe niederzulassen und bis auf weitere Weisung sich nicht vom Fleck zu rühren.

Wenn der Halunke heimkehrt, wirst du mich davon benachrichtigen, sagte er.

Der Mann ließ sich schwerfällig auf der Treppenstufe nieder.

Als Macquart wieder auf der Straße war, sah er Felicité, an eines der Fenster des gelben Zimmers gelehnt, neugierig den Zug der Aufständischen betrachten, als habe es sich um ein Regiment gehandelt, das mit klingendem Spiel durch die Stadt zieht. Dieser letzte Beweis ihrer vollkommenen Ruhe reizte ihn dermaßen, daß er sich versucht fühlte, wieder hinaufzugehen und die alte Frau auf die Straße hinabzuwerfen. Er folgte indes der Bande und brummte mit dumpfer Stimme vor sich hin:

Ja, ja, schau nur zu; wir wollen sehen, ob du morgen noch an deinem Balkon stehst.

Es war nahezu elf Uhr, als die Aufständischen durch das römische Tor die Stadt betraten. Die in Plassans zurückgebliebenen Arbeiter öffneten ihnen dieses Tor angelweit trotz des Jammerns des Torwarts, dem man gewaltsam die Schlüssel entreißen mußte. Dieser auf sein Amt sehr eifersüchtige Mann war völlig vernichtet angesichts dieser großen Menschenmenge. Er, der sonst nur einen Menschen auf einmal einließ, und auch dann erst, nachdem er ihn lange betrachtet hatte, brummte jetzt, er sei entehrt. An der Spitze der Truppe marschierten die Männer von Plassans als Führer der anderen. In der vordersten Reihe ging Miette zur Linken Silvères, stolz das Banner schwingend, seitdem sie merkte, daß hinter den geschlossenen Fenstervorhängen die aus dem Schlafe aufgestörten Spießbürger mit erschrockenen Blicken den Zug betrachteten. Die Aufständischen schritten mit bedächtiger Langsamkeit durch die Rom- und die Banne-Straße; bei jeder Straßenkreuzung fürchteten sie mit Gewehrschüssen empfangen zu werden, obgleich ihnen die ruhige Gemütsart der Bewohner von Plassans wohlbekannt war. Doch die Stadt schien ausgestorben; nur hier und da vernahm man einen halb unterdrückten Ausruf an einem Fenster. In einigen wenigen Häusern wurde der Vorhang aufgezogen, und es ward irgendein alter Rentenbesitzer sichtbar, der im Hemde mit einer Kerze in der Hand sich vorneigte, um besser zu sehen. Wenn der alte Mann aber das große, rote Mädchen sah, das diese Menge schwarzer Teufel hinter sich einherzuschleppen schien, schloß er rasch sein Fenster, entsetzt über diese teuflische Erscheinung. Die Stille der schlafenden Stadt beruhigte die Aufständischen, die sich nun auch in die Gäßchen der Altstadt wagten und so auf dem Marktplatze und dem Rathausplatze ankamen, die eine kurze, breite Straße miteinander verbindet. Diese beiden mit kümmerlich gedeihenden Bäumen bepflanzten Plätze waren vom Mondschein hell erleuchtet. Das eben erst instand gesetzte Rathausgebäude bildete am Saume des klaren Nachthimmels einen großen, grellweißen Fleck, von dem der Balkon des ersten Stockwerkes die Verschlingungen seines schmiedeeisernen Geländers in dünnen, schwarzen Linien abhob. Man bemerkte ganz deutlich mehrere Personen auf dem Balkon stehen: den Bürgermeister, den Major Sicardot, drei oder vier Gemeinderäte und andere Beamte. Die Tore des Hauses waren geschlossen. Die dreitausend Republikaner, die die beiden Plätze füllten, blieben stehen, reckten die Hälse und waren bereit, mit dem ersten Ansturm die Tore einzurennen.

 

Die Ankunft der Aufständischen zu solcher Stunde traf die Stadtbehörde unvorbereitet. Der Major Sicardot hatte, ehe er sich aufs Rathaus begab, rasch seine Uniform angezogen. Er mußte dann noch zum Bürgermeister laufen, um diesen zu wecken. Als der Wächter am römischen Tor, den die Aufständischen freigelassen hatten, gelaufen kam, um zu melden, daß die Bösewichte in der Stadt seien, hatte der Major mit vieler Mühe kaum zwanzig Mann der Bürgerwehr zusammengebracht. Selbst die Gendarmen, deren Kaserne ganz in der Nähe lag, hatte man noch nicht benachrichtigen können. Man hatte nur rasch die Tore zugeworfen, um zu beratschlagen. Fünf Minuten später verkündete ein dumpfes und anhaltendes Geräusch das Herannahen der Bande.

Aus Haß gegen die Republik hätte Herr Garçonnet sich am liebsten zur Wehre gesetzt. Doch er war ein vorsichtiger Mann, der die Nutzlosigkeit des Kampfes begriff, als er sich von einigen bleichen und schlaftrunkenen Männern umgeben sah. Die Beratung dauerte nicht lange. Herr Sicardot allein zeigte sich widerspenstig; er wollte sich schlagen und behauptete, zwanzig Mann genügten, um diesen dreitausend Halunken die Köpfe zurecht zu setzen. Herr Garçonnet zuckte mit den Achseln und erklärte, man könne nichts tun, als sich ehrenhaft unterwerfen. Da das Getöse der Menge immer mehr anwuchs, begab er sich auf den Balkon, wohin alle anwesenden Personen ihm folgten. Allmählich trat Stille ein. In der dunkeln und wimmelnden Menge der Aufständischen unten auf dem Platze glänzten die Gewehrläufe und Sensen im Mondlichte.

Wer seid ihr und was wollt ihr? rief der Bürgermeister mit kräftiger Stimme.

Da trat ein Mann im Überrock, ein kleiner Landwirt aus La Palud, aus der Menge hervor.

Öffnet das Tor, antwortete er, die Frage des Herrn Garçonnet unbeachtet lassend, öffnet und vermeidet einen brudermörderischen Kampf.

Ich befehle euch, eures Weges zu ziehen, rief der Bürgermeister. Ich verwahre mich im Namen des Gesetzes!

Diese Worte erregten ein betäubendes Geschrei in der Menge. Als der Lärm sich ein wenig gelegt hatte, wurden ungestüme Fragen zu dem Balkon hinaufgeschrien. Einige riefen:

Wir sind ja eben im Namen des Gesetzes gekommen!

Sie haben als erster Beamter der Stadt die Pflicht, dem schmählich verletzten Grundgesetze des Landes, der Verfassung, Achtung zu verschaffen!

Hoch die Verfassung! Es lebe die Republik!

Als Herr Garçonnet versuchte, sich Gehör zu verschaffen, und sich weiterhin auf sein Amt berief, unterbrach ihn der Mann aus La Palud, der unter dem Balkon stehen geblieben war, sehr energisch.

Sie sind nur mehr der Beamte eines abgesetzten Beamten; wir sind gekommen, Sie Ihrer Stellung zu entheben.

Der Major Sicardot hatte bisher unter stillen Flüchen an seinem Schnurrbarte gekaut. Der Anblick der Stöcke und Sensen machte ihn wütend. Er mußte sich ungeheure Gewalt antun, um nicht dieses Gesindel, das nicht einmal für jeden Mann eine Flinte hatte, nach Gebühr zu behandeln. Doch als er hören mußte, wie ein Mensch im einfachen Überrock davon zu sprechen wagte, einen Bürgermeister, der mit seiner Amtsschärpe umgürtet war, seines Amtes entheben zu wollen, konnte er nicht länger an sich halten und schrie hinab:

Elendes Bettelvolk! Hätte ich nur vier Mann und einen Korporal, ich würde hinabgehen und euch bei den Ohren nehmen, um euch Respekt zu lehren.

Das war mehr als genug, um sehr ernste Dinge herbeizuführen. Ein lang anhaltender Schrei ertönte aus der Menge, die sich jetzt auf die Tore des Rathauses stürzte. Herr Garçonnet verließ bestürzt den Balkon und bat den Major, sich vernünftig zu benehmen, wenn er nicht wolle, daß sie alle niedergemetzelt würden. In zwei Minuten hatte die Menge die Tore gesprengt, überflutete den Hof des Rathauses und entwaffnete die Bürgerwehr. Der Bürgermeister und die übrigen anwesenden Beamten wurden in Haft genommen. Sicardot, der sich weigerte, seinen Säbel zu übergeben, mußte durch den Anführer der Abteilung aus Tulettes, einen Mann von großer Kaltblütigkeit, gegen die Wut einiger Aufständischer geschützt werden. Als das Rathaus sich in der Gewalt der Republikaner befand, wurden die Gefangenen in ein kleines Kaffeehaus geführt, das auf dem Marktplatze lag, und hier bewacht.

Die Aufständischen wären an Plassans vorbeigezogen, wenn die Anführer nicht gefunden hätten, daß einige Nahrungsmittel und einige Stunden Ruhe für ihre Leute unbedingt notwendig seien. Anstatt geraden Weges auf den Hauptort des Bezirkes loszugehen, machte die Rotte dank der Unerfahrenheit und unverzeihlichen Schwäche ihres Anführers eine Schwenkung nach links, einen großen Umweg, der sie ins Verderben führen mußte. Sie richtete ihren Marsch nach der Hochebene von Sainte-Roure, die noch etwa zehn Meilen entfernt war, und die Aussicht auf diesen langen Marsch war es, die die Leute bestimmt hatte, trotz der späten Nachtstunde die Stadt zu betreten. Es mochte halb zwölf Uhr sein.

Als Herr Garçonnet erfuhr, daß die Bande Lebensmittel wolle, machte er sich erbötig, solche herbeizuschaffen. Dieser Beamte zeigte unter diesen schwierigen Umständen eine sehr klare Auffassung der Lage. Diese dreitausend Hungrigen mußten gesättigt werden; die Stadt durfte nicht bei ihrem Erwachen sie in den Straßen herumlungern sehen; wenn sie vor Tagesanbruch wieder weiterzogen, hatten sie ganz einfach zu nachtschlafender Zeit die Stadt passiert wie ein böser Traum, wie ein Alpdruck, den die Dämmerung verscheucht. Obgleich Gefangener, begab sich Herr Garçonnet in Begleitung von zwei Wächtern zu den Bäckern der Stadt und ließ alles vorrätige Brot an die Aufständischen verteilen.

Gegen ein Uhr morgens hockten die dreitausend Mann am Boden ihre Waffen zwischen den Beinen und aßen. Der Marktplatz und der Rathausplatz waren in riesige Speiseräume verwandelt. Trotz der schneidenden Kühle ging ein Zug von Frohsinn durch diese Menge, deren einzelne Gruppen im Mondlichte deutlich sichtbar waren. Die armen Hungrigen verzehrten munter ihren Anteil und hauchten sich auf die erstarrten Finger; auch aus den benachbarten Gassen, wo man unbestimmte dunkle Gestalten auf den weißen Türschwellen der Häuser sitzen sah, drangen plötzliche Heiterkeitsausbrüche hervor, die aus dem Dunkel der Straßen kommend, sich in der großen Menge verloren. An den Fenstern standen neugierige Frauenzimmer in Tücher gehüllt und schauten zu, wie diese schrecklichen Meuterer sich sättigten, diese Bluttrinker, die einer nach dem anderen zum öffentlichen Brunnen gingen, um da ihren Durst zu löschen.

Während die Aufständischen von dem Rathause Besitz ergriffen, fiel auch die Gendarmerie, in der nahen Cauquoin-Straße gelegen, die auf die Markthalle mündet, in die Gewalt des Volkes. Die Gendarmen wurden im Bett überrumpelt und binnen wenigen Minuten entwaffnet. Das Drängen der Menge hatte Miette und Silvère nach dieser Seite mitgezogen. Das Mädchen, das den Schaft der Fahne noch immer an die Brust drückte, wurde an die Mauer der Kaserne gestellt, während der Bursche, von dem Strom mitgerissen, in das Haus eindrang und seinen Gefährten behilflich war, den Gendarmen ihre Karabiner zu entreißen, deren die Menge sich sogleich bemächtigte. Silvère war wild geworden; betäubt von dem Ansturm der Bande, stürzte er sich auf einen langen Gendarm, namens Rengade, mit dem er einige Sekunden rang. Es gelang ihm, mit einer plötzlichen Bewegung dem andern den Karabiner zu entreißen. Während des Ringens traf das Rohr der Waffe das Gesicht des Gendarmen und stieß ihm das rechte Auge aus. Das Blut floß herab und spritzte auch auf die Hände Silvères, der dadurch sogleich ernüchtert wurde. Er betrachtete seine Hände und ließ den Karabiner fahren; dann lief er, wie kopflos und die Hände schüttelnd aus dem Hause.

Du bist verwundet? rief Miette.

Nein, nein, erwiderte er mit erstickter Stimme; ich habe soeben einen Gendarm getötet.

Ist er tot?

Ich weiß es nicht. Sein Gesicht war voll Blut. Komm rasch!

Er zog das Mädchen fort. Bei der Markthalle hieß er sie auf einer Steinbank Platz nehmen und ihn da erwarten. Dabei betrachtete er immerfort seine Hände und stotterte. An seinen abgerissenen Worten merkte Miette endlich, daß er vor dem Aufbruch noch einmal seine Großmutter umarmen wolle.

Ja, geh, sagte sie, kümmere dich nicht um mich, wasche deine Hände.

Er entfernte sich mit raschen Schritten, spreizte die Finger auseinander und dachte nicht daran, sie in die Brunnenbecken zu tauchen, an denen er vorbeikam. Seitdem er auf seiner Haut das warme Blut des Gendarmen Rengade fühlte, hatte er nur den einen Gedanken, zu Tante Dide zu laufen und an der Brunnenrinne in dem kleinen Hofe seine Hände zu waschen. Da bloß glaubte er die Blutflecke wegbringen zu können. Seine ganze ruhige, zarte Kindheit stieg vor ihm auf; er empfand ein unwiderstehliches Bedürfnis, sich hinter die Röcke Großmütterchens zu flüchten, und wäre es auch nur eine Minute lang. Keuchend kam er in dem Hause an. Tante Dide war noch nicht zu Bette, was Silvère an jedem andern Abend überrascht haben würde. Doch er hatte bei seinem Eintritt seinen Oheim Rougon übersehen, der in einem Winkel auf einem alten Koffer saß. Der Bursche wartete die Fragen der armen Alten nicht ab.

Großmutter, sagte er hastig, Ihr müßt mir vergeben … ich ziehe mit den anderen fort… Ihr seht, meine Hände sind blutig… Ich glaube, ich habe einen Gendarm getötet.

Du hast einen Gendarm getötet? wiederholte Tante Dide verwundert.

In ihren müden Augen, die auf seinen blutbefleckten Händen hafteten, ward es plötzlich hell. Sie warf einen Blick auf die Wand oberhalb des Kamins.

Du hast die Flinte genommen? fragte sie. Wo ist die Flinte?

Silvère, der den Karabiner bei Miette zurückgelassen hatte, schwor ihr, daß die Waffe in Sicherheit sei. Zum ersten Male machte Adelaide vor ihrem Enkelkinde eine Anspielung auf den Schmuggler Macquart.

Du wirst mir das Gewehr wiederbringen, du mußt es mir versprechen, sagte sie seltsam bestimmt… Es ist alles, was mir von ihm geblieben ist… Du hast einen Gendarm getötet; er ist von den Gendarmen getötet worden.

Sie fuhr fort, Silvère anzustarren mit einer Miene grausamer Genugtuung, und schien nicht daran zu denken, ihn zurückhalten zu wollen. Sie verlangte keinerlei Erklärung von ihm und weinte nicht wie die guten Großmütter, die ihre Enkel gleich auf der Totenbahre liegen zu sehen glauben, wenn sie irgendwo eine Schramme davongetragen haben. Ihr ganzes Wesen drängte nach einem einzigen Gedanken, dem sie schließlich mit heißer Begier Worte lieh.

Hast du den Gendarm mit dem Gewehr getötet? fragte sie.

Silvère hatte schlecht gehört oder schlecht verstanden.

Ja, erwiderte er, ich will mir die Hände waschen.

Erst als er vom Brunnen zurückkehrte, gewahrte er seinen Oheim. Peter hatte erbleichend die Worte des Burschen vernommen. Wahrhaftig, Felicité hatte recht: seine Familie fand eine Freude daran, ihn bloßzustellen. Einer seiner Neffen tötete die Gendarmen. Wenn er den Burschen nicht hindert, zu den Aufrührern zu stoßen, erhält er niemals das Amt eines Generaleinnehmers. Er stellte sich vor die Türe und schien entschlossen, den Jungen nicht fortzulassen.

Hört, sagte er zu Silvère, der sehr überrascht war, ihn hier zu finden, ich bin das Oberhaupt der Familie und verbiete Euch, dieses Haus zu verlassen. Morgen will ich Euch behilflich sein, über die Grenze zu entkommen.

Silvère zuckte mit den Achseln.

Laßt mich meiner Wege ziehen, sagte er ruhig. Ich bin kein Spion und werde Euer Versteck nicht verraten; seid ohne Sorgen.

Als Rougon fortfuhr, von der Würde der Familie zu sprechen und von der Macht, die ihm als dem Ältesten zukomme, unterbrach ihn der junge Mann.

Gehöre ich denn zu Eurer Familie? rief er. Ihr habt mich stets verleugnet. Heute hat Euch die Angst hierher gejagt, weil Ihr fühlt, daß der Tag der Vergeltung gekommen ist. Macht Platz! Ich verberge mich nicht, denn ich habe eine Pflicht zu erfüllen.

Rougon rührte sich nicht. Da legte Tante Dide, die die heftigen Worte Silvères mit einem gewissen Entzücken hörte, ihre dürre Hand auf den Arm ihres Sohnes.

Tritt beiseite! sprach sie; das Kind muß fort.

 

Der Bursche schob sachte seinen Oheim beiseite und stürzte hinaus.

Rougon schloß sorgfältig die Tür und sagte mit zornbebender und drohender Stimme seiner Mutter:

Wenn ihm ein Unglück zustößt, ist es Eure Schuld … ihr seid eine alte Närrin und wißt nicht, was Ihr soeben getan habt.

Doch Adelaide schien ihn nicht zu hören; sie warf einen Klotz auf das Feuer, das zu verlöschen drohte und murmelte mit einem unbestimmten Lächeln:

Ich kenne das… Er ist ganze Monate fortgeblieben und dann frisch und munter zurückgekehrt.

Sie sprach ohne Zweifel von Macquart.

Inzwischen lief Silvère wieder nach der Markthalle. Als er sich dem Orte näherte, wo er Miette zurückgelassen hatte, vernahm er ein lautes Geräusch von Stimmen und sah eine Ansammlung von Leuten, was ihn veranlaßte, seine Schritte zu beschleunigen. Eine peinliche Szene hatte sich soeben abgespielt. Während die Aufständischen ruhig ihr Abendbrot verzehrten, hatte sich viel neugieriges Volk unter sie gemengt. Unter diesen Neugierigen war auch Justin, der Sohn des Krautgärtners Rébufat, ein Bursche von etwa zwanzig Jahren, ein schwächlicher und mißgünstiger Kerl, der gegen seine Base Miette einen unversöhnlichen Haß nährte. Im Hause warf er ihr das Brot vor, das sie aß und behandelte sie als eine Bettlerin, die man aus Mitleid auf der Straße aufgelesen. Man darf annehmen, daß das Kind sich geweigert hatte, seine Geliebte zu werden. Schwächlich, bleich, mit zu lang gediehenen Gliedern und verschrobenem Gesichte, wie er war, rächte er sich an Miette für die eigene Häßlichkeit und für die Mißachtung, die das schöne, kräftige Mädchen ihm bezeigte. Sein liebster Traum war, sie von seinem Vater auf die Straße gejagt zu sehen. Darum spähte er ihr ohne Unterlaß nach. Seit einiger Zeit hatte er ihre Zusammenkünfte mit Silvère entdeckt und wartete nur auf eine entscheidende Gelegenheit, um seinem Vater alles zu erzählen. Als er an diesem Abend gegen acht Uhr sie aus dem Hause schleichen sah, überkam ihn der Haß, und er konnte nicht länger an sich halten. Seine Erzählung versetzte Rébufat in einen furchtbaren Zorn, und der Gärtner schwor hoch und teuer, daß er die Landstreicherin mit Fußtritten hinausjagen werde, wenn sie es wagen solle, wiederzukommen. Justin ging zu Bette und freute sich im voraus des schönen Auftrittes, den es am folgenden Tage geben werde. Dann erfaßte ihn eine wilde Gier nach einem Vorgeschmack seiner Rache. Er kleidete sich wieder an und verließ das Haus. Er hoffte Miette zu treffen, und war entschlossen, sehr unverschämt gegen sie zu sein. So geschah es, daß er Zeuge des Einzuges der Aufständischen war, denen er bis zum Rathause folgte, in der unbestimmten Ahnung, das Liebespärchen hier zu treffen. In der Tat bemerkte er schließlich seine Base auf der Bank, wo sie Silvère erwartete. Als er sie sah, bekleidet mit ihrem großen Mantel, neben sich die rote Fahne, die sie an einen Pfeiler der Markthalle gelehnt hatte, begann er sie mit plumpen Späßen zu verhöhnen. Betroffen von seinem Anblick, vermochte das Mädchen kein Wort hervorzubringen. Schluchzend ertrug sie seine Beschimpfungen, während sie gebeugten Hauptes, das Antlitz in ihren Händen verborgen, ihren Tränen freien Lauf ließ, nannte Justin sie die Tochter eines Zuchthäuslers und schrie ihr zu, sein Vater werde sie mit einer gehörigen Tracht Prügel empfangen, wenn sie sich jemals erdreisten solle, nach dem Jas-Meiffren zurückzukehren. Eine volle Viertelstunde hielt er die Zitternde und Gequälte so in seiner Gewalt. Die Leute machten einen Kreis um die beiden und lachten blöde über diese peinliche Szene. Endlich traten einige Aufständische dazwischen und drohten dem Burschen, ihn weidlich durchzuwalken, wenn er Miette nicht in Frieden lasse. Justin wich zurück, erklärte aber, daß er sie nicht fürchte. In diesem Augenblick erschien Silvère. Als der junge Rébufat ihn erblickte, machte er einen Sprung, als ob er die Flucht ergreifen wolle. Er fürchtete ihn, weil er wußte, daß jener ihm an Kraft weit überlegen sei. Doch konnte er der Versuchung nicht widerstehen, das Mädchen ein letztes Mal vor seinem Geliebten zu beschimpfen.

Ach, ich wußte ja, rief er, daß der Stellmacher nicht weit sein kann! Um diesem Narren zu folgen, hast du uns verlassen, nicht wahr? Die Unglückliche! Sie ist kaum sechzehn Jahre alt! Wann halten wir Kindtaufe?

Als er Silvère mit geballten Fäusten auf sich zukommen sah, wich er noch weiter zurück.

Aber, fuhr er mit widrigem Kichern fort, zu uns darfst du nicht kommen, um dein Kindbett zu halten, denn mein Vater würde dich mit einigen Fußtritten entbinden, daß du keiner Hebamme bedürftest, hörst du?

Doch nun flüchtete er heulend, mit zerschlagenem Gesichte. Silvère hatte sich mit einem Satze auf ihn gestürzt und ihm einen furchtbaren Faustschlag ins Gesicht versetzt. Er verfolgte ihn nicht weiter. Als er zu Miette zurückkehrte, fand er sie aufrecht mit der flachen Hand sich hastig die Tränen trocknend. Als er sie wie zum Troste sanft anblickte, machte sie eine Bewegung plötzlicher Energie.

Nein, sagte sie, ich weine nicht. Es ist mir lieber so. Jetzt habe ich mir keine Vorwürfe darüber zu machen, daß ich fortgegangen bin. Ich bin frei.

Sie ergriff die Fahne und führte Silvère in die Mitte der Aufrührer. Es war bald zwei Uhr morgens; die Kälte war so schneidend, daß die Republikaner sich erhoben hatten, ihr Brot stehend aßen und auf dem Platze umhertrippelten, um sich ein wenig zu wärmen. Endlich gaben die Führer das Zeichen zum Aufbruch. Die Abteilung trat wieder in Reih und Glied. Die Gefangenen wurden in die Mitte gebracht; außer Herrn Garçonnet und dem Major Sicardot führten die Aufständischen noch den Steuereinnehmer Peyrotte und mehrere andere Beamten mit.

In diesem Augenblicke sah man Aristide zwischen den Gruppen herumgehen. Angesichts dieser ungeheuren Erhebung hatte der liebe Junge gedacht, es sei unklug, nicht der Freund der Republikaner zu bleiben; da er aber anderseits sich mit ihnen nicht allzusehr bloßstellen wollte, war er nur zum Abschiede gekommen; dabei trug er den Arm in der Blinde und beklagte sich bitter über die Wunde, die ihn hinderte, eine Waffe zu tragen. In der Menge traf er seinen Bruder Pascal, mit einem Arzneikästchen und einem Instrumentensacke ausgerüstet. Der Arzt teilte ihm mit seiner ruhigen Stimme mit, daß er den Aufständischen folgen wolle. Aristide sagte ihm ganz leise, er sei ein Narr. Schließlich verduftete er, weil er fürchtete, man könne ihm die Obhut über die Stadt anvertrauen, was ihm ein überaus gefährliches Amt dünkte.

Die Aufständischen konnten nicht daran denken, Plassans in ihrer Gewalt zu behalten. Die Stadt war zu sehr von einem reaktionären Geiste belebt, als daß sie auch nur hätten versuchen dürfen, eine demokratische Behörde daselbst einzusetzen, wie sie anderwärts getan hatten. Sie wären ganz einfach weitergezogen, wenn nicht Macquart, durch seine Rachegelüste getrieben und ermutigt, sich erbötig gemacht hätte, Plassans in Schach zu halten, wenn man zwanzig entschlossene Männer seinen Befehlen unterstellen wolle. Man gab ihm die zwanzig Männer, an deren Spitze er siegreich in das Bürgermeisteramt einzog. Mittlerweile stieg die Abteilung die Promenade Sauvaire hinab und verließ die Stadt durch das Haupttor, in nächtlicher Stille und Öde die Straßen zurücklassend, die sie wie ein Windstoß durchzogen hatte. In der Ferne dehnten sich im Mondlichte die weißen Straßen. Miette hatte es abgelehnt, sich auf Silvères Arm zu stützen; kühn und fest marschierte sie dahin, mit beiden Händen die rote Fahne haltend.