50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Kapitel Zwei­und­neunzig

In der Ferne zogen sich die mondscheinhellen Straßen dahin.

Die Bande der Aufrührer setzte in der winterlich kahlen Landschaft ihren heldenmütigen Marsch fort. Es war wie ein breiter Strom der Begeisterung. Der heldenhafte Zug, der Miette und Silvère, die großen Kinder, die nach Liebe und Freiheit dürsteten, fortriß, bildete mit seinem hochsinnigen Feuereifer den schroffsten Gegensatz zu den schmachvollen Komödien der Macquart und der Rougon. Von Zeit zu Zeit grollte die laute Stimme des Volkes in das Geschwätz des gelben Salons und das Schimpfen des Onkels Antoine hinein. Die gemeine, schmähliche Posse entwickelte sich zum großen, weltgeschichtlichen Drama.

Als sie Plassans hinter sich hatten, schlugen die Aufständischen die Straße nach Orchères ein. In dieser Stadt mußten sie gegen zehn Uhr morgens eintreffen. Die Straße folgt dem Laufe der Viorne und läuft immer am Fuße der Hügel, welche den Fluß einsäumen. Links breitet die Ebene sich aus, wie ein endloser grüner Teppich, wo da und dort die grauen Flecke der Dörfer zu sehen sind. Rechts streckt die Kette des Garriguesgebirges seine kahlen Spitzen, seine Steinfelder, seine rostfarbigen Blöcke, die von der Sonne gerötet scheinen, in die Höhe. Der Weg, der am Flusse sich zur Heerstraße erweitert, führt zwischen riesigen Felsen hindurch, wo bei jedem Schritte irgendein Winkel des Tales sichtbar wird. Man kann sich nichts Wilderes, Eigentümlicheres, Großartigeres denken, als diese in die Flanken der Hügel gebrochene Straße. Besonders zur Nachtzeit rufen diese Orte ein Gefühl der Ehrfurcht hervor. Beim bleichen Lichte des Mondes schritten die Aufständischen wie durch die Straßen einer zerstörten Stadt dahin, in der zu beiden Seiten die Tempel in Trümmern liegen. Jeder Felsen schien in dieser nächtlichen Beleuchtung eine zerbrochene Säule, ein abgestürztes Oberstück, eine Mauer mit seltsamen Durchgängen. In der Höhe schlief das Garriguesgebirge in bleichem, weißem Lichte, gleich einer zyklopischen Stadt, deren Türme, Obelisken und Häuser mit hohen Terrassen einen Teil des Himmels verdecken. Im Hintergrunde, auf der Seite der Ebene, breitete ein Ozean von verschwimmenden Lichtern sich aus, eine unbestimmte, endlose Ferne, wo Felder leuchtenden Nebels schwebten. Die Aufrührerbande hätte glauben mögen, daß sie einer Riesenstraße folge, einem Rundwege, der am Gestade eines lichtstrahlenden Meeres verläuft und einen unsichtbaren Babelturm umkreist.

Die Viorne ließ in dieser Nacht, am Fuße der Felsen dahineilend, ein rauhes Grollen vernehmen. Durch dieses fortdauernde Tosen des reißenden Flusses hindurch hörten die Aufständischen das schmerzliche Gewimmer der Sturmglocken. Die jenseits des Flusses in der Ebene ausgestreuten Dörfer erhoben sich, läuteten Alarm und zündeten Feuer an. Die marschierende Truppe, der das traurige Gebimmel der Glocken das Geleite gab, sah so bis zum Morgen den Aufruhr sich längs des ganzen Tales fortwälzen, wie eine Pulverwolke. Die Alarmfeuer bildeten blutigrote Punkte im nächtlichen Dunkel; ferne Gesänge tönten in gedämpften Schallwellen herüber; die ganze, unklar verschwimmende Ebene, in das weißliche Dunstlicht des Mondes getaucht, war in einer verworrenen Bewegung, von Zeit zu Zeit von Zornesaufwallungen geschüttelt. Meilenweit blieb dieses Schauspiel sich gleich.

Diese Männer, die in der Blindheit des Fiebers dahinmarschierten, das die Pariser Ereignisse in den Herzen der Republikaner entfacht hatte, begeisterten sich an dem Anblick dieses großen Stück Landes, welches der Aufruhr durchrüttelte. Berauscht von dem Taumel der allgemeinen Erhebung, von der sie träumten, glaubten sie, daß ganz Frankreich ihnen folge; sie wähnten jenseits der Viorne, in dem endlosen Meer von verschwommenen Lichtern unendliche Reihen von Männern, die gleich ihnen herbeieilten, um die Republik zu schützen. Und ihr bäuerlicher Verstand dachte in der Einfalt und der Einbildungskraft der großen Mengen, daß der Sieg ganz leicht und sicher sei. Sie hätten jeden als Verräter niedergeschossen, der es gewagt hätte, ihnen zu dieser Stunde zu sagen, daß sie allein den Mut der Pflicht hätten und daß der übrige Teil des Landes, vom Schrecken niedergehalten, sich ruhig erwürgen lasse.

Sie schöpften noch fortwährend neuen Mut aus dem Empfang, den die wenigen Flecken, die am Abhange des Garriguesgebirges an der Heerstraße lagen, ihnen bereiteten. Bei der Annäherung der kleinen Kriegerschar erhob sich die Bevölkerung in Massen; die Frauen liefen herbei und wünschten ihnen einen raschen Sieg. Die Männer, kaum bekleidet, stießen zu ihnen, die erstbeste Waffe ergreifend, die ihnen in die Hände fiel. In jedem Dorfe gab es einen neuen begeisterten Willkomm und lange Abschiedsgrüße.

Gegen Tagesanbruch verschwand der Mond hinter dem Garriguesgebirge; die Aufständischen setzten ihren raschen Marsch durch die finstere Winternacht fort; sie sahen das Tal, die Hänge nicht mehr, sie hörten bloß das Gejammer der Sturmglocken, die gleich unsichtbaren Trommlern sie unaufhörlich mit ihren verzweifelten Rufen anfeuerten.

Miette und Silvère wurden von der Begeisterung der Truppe mitgerissen. Gegen den Morgen überwältigte die Müdigkeit das Mädchen. Sie trippelte jetzt mit kurzen, hastigen Schritten dahin, weil sie die großen Schritte der sie umgebenden Burschen nicht mithalten konnte. Aber sie faßte ihren ganzen Mut zusammen, um keine Klage vernehmen zu lassen; es wäre ihr zu schwer angekommen, einzugestehen, daß sie nicht die Kraft eines Burschen habe. Nach den ersten Meilen, die sie zurückgelegt hatten, reichte Silvère ihr den Arm; als er sah, daß die Fahne allmählich ihren steifen Händen entglitt, wollte er die Fahne ergreifen, um dem Mädchen die Last abzunehmen; darob ward sie böse und gestattete ihm nur, die Fahne mit einer Hand zu stützen, während sie nach wie vor diese auf der Schulter tragen wollte. So bewahrte sie ihre heldenmütige Haltung mit kindischem Eigensinn und lächelte dem jungen Manne zu, so oft er einen Blick voll zärtlicher Besorgnis auf sie richtete. Allein als der Mond hinter den Wolken verschwand, erlag sie, im Dunkel der Nacht marschierend, der Ermüdung. Silvère fühlte, wie sie an seinem Arme schwerer wurde. Er mußte die Fahne tragen und das Mädchen um den Leib fassen, damit es nicht strauchle. Noch immer kam kein Laut der Klage über ihre Lippen.

Du bist wohl sehr müde, arme Miette? fragte ihr Gefährte.

Ja, ein wenig, erwiderte sie mit beklommener Stimme.

Wollen wir eine Weile ausruhen?

Sie sagte nichts, aber er merkte doch, daß sie wankte. Da übergab er die Fahne einem der Kameraden und trat aus Reih und Glied, das Kind in seinen Armen tragend. Sie wehrte sich ein wenig; sie schämte sich, noch ein Kind zu sein. Doch er beruhigte sie; er kenne einen Querweg, sagte er, der die Entfernung um die Hälfte abkürze. Sie könnten ein Stündchen ausruhen und würden dennoch mit den anderen zugleich Orchères erreichen.

Es war ungefähr sechs Uhr morgens. Ein leichter Nebel stieg von der Viorne auf. Die Nacht schien sich noch zu verdichten. Die beiden erklommen tastend den Abhang des Garriguesberges bis zu einem Felsen, auf dem sie sich niederließen. Rings um sie her war tiefste Finsternis. Sie waren wie verloren auf der Spitze eines Riffs, über der Leere schwebend. Als die Truppe der Aufständischen mit immer mehr ersterbendem Geräusche in der Ferne verschwand, hörten sie in dieser Leere nichts als zwei Glocken, die eine ganz hell, ohne Zweifel, weil sie zu ihren Füßen ertönte in irgendeinem Dorfe, das an der Heerstraße lag, die andere aus der Ferne, in gedämpftem Schall das klagende Gewimmer der ersten erwidernd. Es war, als wollten die beiden Glocken einander durch das Nichts der Nacht das traurige Ende einer Welt verkünden.

Vom schnellen Gehen erwärmt, fühlten die beiden anfangs keine Kälte. Sie schwiegen und lauschten mit unsagbarer Traurigkeit diesem Sturmläuten, das durch die stille Nacht zitterte. Sie sahen einander nicht. Miette hatte Furcht; sie suchte die Hand Silvères und behielt sie in der ihrigen. Nach dem fieberhaften Taumel, der sie stundenlang ihrer selbst vergessen ließ und ihnen keine Zeit gönnte, über ihre Lage nachzudenken, fand dieser plötzliche Aufenthalt, diese Einsamkeit, in der sie Seite an Seite saßen, die beiden Kinder gebrochen und erstaunt, wie aus einem unruhigen Traume plötzlich erwacht. Es war ihnen, als habe eine Flut sie hierher, an den Wegrand gespült und sich dann wieder verlaufen. Ein unüberwindlicher Rückschlag versetzte sie in einen Zustand unbewußter Erstarrung; sie vergaßen ihre Begeisterung; sie dachten nicht mehr an diese Truppe, zu der sie stoßen sollten; sie gaben sich ganz dem traurigen Reize hin, sich allein zu fühlen Hand in Hand inmitten dieser unheimlichen Finsternis.

Du grollst mir doch nicht? fragte das Mädchen nach einer Weile. Ich möchte mit dir die ganze Nacht marschieren, aber die Männer liefen zu schnell; mir war der Atem ausgeblieben.

Warum sollte ich dir grollen? entgegnete der junge Mensch.

Ich weiß nicht. Ich fürchte, daß du mich nicht mehr liebest. Ich hätte lange Schritte machen mögen wie du, immerfort gehen, ohne stillzustehen. Du wirst nun glauben, ich sei nur ein Kind.

Silvere lächelte und Miette ahnte dieses Lächeln, das sie nicht sehen konnte. Sie fuhr mit entschlossener Stimme fort:

Du sollst mich nicht immer wie eine Schwester behandeln; ich will dein Weib sein.

Und sie selber zog Silvère an ihre Brust.

Sie hielt ihn fest in ihre Arme geschlossen und flüsterte:

Es wird uns kalt werden; laß uns so erwärmen.

Ein Stillschweigen trat ein. Bis zu dieser trüben Stunde hatten die beiden sich mit geschwisterlicher Zärtlichkeit geliebt. In ihrer Unschuld galt ihnen noch immer nur für Freundschaft die Macht der Anziehung, die sie dazu trieb, sich unaufhörlich in den Armen zu halten länger und fester, als Brüder und Schwestern es tun. Allein am Grunde ihrer unschuldigen Liebe grollten mit jedem Tage lauter die Stürme des heißen Blutes dieser Kinder. Mit zunehmendem Alter, mit der wachsenden Erkenntnis mußte aus dieser Idylle eine heiße, südlich-stürmische Leidenschaft hervorgehen. Ein Mädchen, das sich an den Hals eines Burschen hängt, ist schon ein Weib, ein unbewußtes Weib, das die erste Liebkosung erwecken kann. Wenn Verliebte sich auf die Wangen küssen, sind sie auf der Suche nach den Lippen. Ein Kuß macht ein Liebespaar aus ihnen. In dieser schwarzen, kalten Winternacht, bei dem schrillen Klagen der Sturmglocken tauschten Miette und Silvère einen jener Küsse, die das Herzblut auf die Lippen heraufholen.

 

Stumm saßen sie da, eng ineinander verschlungen. Miette hatte gesagt: »So wollen wir uns erwärmen« und nun warteten sie unschuldig, bis sie warm werden würden. Alsbald drang eine Wärme durch ihre Kleider; sie fühlten, wie sie in der Umschlingung heiß wurden, und hörten in dem nämlichen Atemzuge ihre Brust schwellen. Eine Mattigkeit bemächtigte sich ihrer, die sie in einen fieberischen Schlummer versenkte. Jetzt war ihnen warm; Lichter tanzten vor ihren geschlossenen Augen, ein verworrenes Tosen drang zu ihrem Gehirn empor. Dieser Zustand einer schmerzlichen Lust, der einige Minuten währte, schien ihnen eine Ewigkeit. Wie im Traume fanden sich ihre Lippen. Es war ein langer und gieriger Kuß. Es war ihnen, als hätten sie noch niemals früher sich geküßt. Sie litten dadurch und ließen einander los. Als die Kälte der Nacht ihr Fieber gelöst hatte, verblieben sie in einiger Entfernung voneinander in unsagbarer Verwirrung.

Die beiden Glocken führten ihr trauriges Zwiegespräch fort in dem finsteren Abgrund, der rings um das junge Paar gähnte. Die zitternde und erschrockene Miette wagte nicht, sich Silvère zu nähern. Sie wußte gar nicht mehr, ob er noch da sei; sie hörte ihn keine Bewegung mehr machen. Beide waren des herben Gefühls voll, das ihr Kuß in ihnen erzeugt hatte. Ein Trieb der Mitteilsamkeit drängte Worte auf ihre Lippen; sie hätten sich gegenseitig danken, sich noch einmal küssen mögen, aber sie schämten sich dermaßen ihres sengenden Glückes, daß sie lieber darauf verzichtet hätten, es ein zweites Mal zu genießen, als daß sie davon laut gesprochen hätten. Hätte nicht der lange Marsch ihr Blut in Wallung gebracht, wäre nicht die stockfinstere Nacht ihre Mitschuldige geworden: sie hätten noch lange sich nur auf die Wangen geküßt wie gute Kameraden. Die Scham erfaßte Miette. Nach dem glühenden Kusse Silvères, in dem seligen Dunkel, in dem ihr Herz sich öffnete, erinnerte sie sich der Roheiten Justins. Wenige Stunden früher hatte sie ohne Erröten den Burschen gehört, der sie als Metze behandelte; er hatte sie gefragt, wann Kindtaufe sein werde; er hatte ihr zugerufen, sein Vater werde sie mittelst Fußtritte entbinden, wenn sie es jemals wagen solle, nach dem Jas-Meiffren zurückzukehren; und sie hatte geweint, ohne ihn zu verstehen; sie hatte geweint, weil sie erriet, daß all dies schimpflich sein müsse. Jetzt, da sie Weib wurde, sagte sie sich in der letzten Regung ihrer Unschuld, daß der Kuß, dessen Brennen sie noch in sich fühlte, vielleicht genügte, um sie mit jener Schmach zu bedecken, deren ihr Vetter sie beschuldigt hatte. Da ward sie von Schmerz ergriffen und schluchzte.

Was ist dir? Warum weinst du? fragte Silvère besorgt.

Nein, laß mich, stammelte sie. Ich weiß es nicht.

Und sie fügte, in Tränen aufgelöst, unwillkürlich hinzu:

Ach, ich bin eine Unglückliche! Als ich zehn Jahre zählte, warf man mich mit Steinen; heute behandelt man mich wie das geringste der Geschöpfe. Justin hatte recht, als er mich vor aller Welt mit seiner Verachtung überschüttete. Wir haben soeben Schlimmes getan, Silvère.

Der junge Mensch war betroffen; er schloß sie in seine Arme und suchte sie zu trösten.

Ich liebe dich, flüsterte er. Ich bin dein Bruder. Warum sagst du, daß wir Schlimmes getan haben? Wir haben uns umarmt, weil wir froren. Du weißt wohl, daß wir uns jeden Abend umarmten, wenn wir voneinander schieden.

O, nicht so wie jetzt, sprach sie sehr leise. Wir dürfen das nicht mehr tun, hörst du? Das muß verboten sein, denn ich fühle mich so ganz eigentümlich. Die Männer werden mich künftig verlachen, wenn sie mich vorbeikommen sehen. Und ich werde nicht mehr den Mut haben, mich zu verteidigen, denn sie haben recht.

Der junge Mann schwieg; er fand kein Wort, um den aufgescheuchten Sinn dieses dreizehnjährigen Kindes zu beschwichtigen, das nach seinem ersten Liebeskusse am ganzen Leibe vor Angst zitterte. Er drückte sie sanft an sich; er ahnte, daß er sie beruhigen werde, wenn er ihr das wärmende Wohlbehagen ihrer Umarmung wiedergeben könne. Allein sie wehrte ab und sagte:

Wenn du willst, laß uns fortgehen und diese Gegend verlassen. Ich kann nicht mehr nach Plassans zurückkehren; mein Oheim prügelt mich; alle Leute zeigen mit Fingern auf mich…

Dann rief sie, wie in plötzlicher Gereiztheit:

Nein, ich bin verdammt! Du darfst meinethalben Tante Dide nicht verlassen. Du mußt mich irgendwo, auf der Heerstraße stehen lassen…

Miette, Miette, sage das nicht! flehte Silvère.

Doch, ich will dich freimachen von mir. Sei vernünftig. Man hat mich davongejagt wie einen Tunichtgut. Wenn ich mit dir zurückkehrte, müßtest du dich jeden Tag mit einem andern herumschlagen. Das will ich nicht.

Der junge Mann küßte sie wieder auf den Mund und murmelte:

Du wirst mein Weib; niemand soll es wagen, dich zu kränken.

O, ich bitte dich, küsse mich nicht so! flehte sie. Es tut mir weh.

Nach kurzem Stillschweigen fuhr sie fort:

Du weißt wohl, daß ich nicht deine Frau werden kann. Wir sind zu jung. Ich müßte warten und würde vor Scham sterben. Du hast unrecht, böse zu werden: Du mußt mich irgendwo in einem Winkel stehen lassen.

Jetzt begann auch Silvère zu weinen; die Kräfte hatten ihn verlassen. Das Schluchzen eines Mannes ist von ergreifender Härte. Erschrocken darüber, wie der arme Junge in ihren Armen vom Schluchzen geschüttelt wurde, küßte Miette ihn auf die Wangen, vergessend, daß dabei ihre Lippen schier verbrannten. Es sei ihr Fehler, sagte sie sich. Sie sei ein albernes Ding, daß sie den süßen Schmerz einer Liebkosung nicht ertragen könne. Sie wußte nicht, weshalb sie an traurige Dinge dachte gerade in dem Augenblicke, da ihr Geliebter sie in einer Weise küßte, wie er es noch niemals zuvor getan hatte. Und sie preßte ihn an ihre Brust, um ihn für den ihm zugefügten Kummer um Verzeihung zu bitten. Und diese weinenden, voll Angst sich umfangen haltenden Kinder erhöhten noch die Trostlosigkeit dieser finsteren Dezembernacht. Die Glocken in der Ferne ließen noch immer ihr trauriges Geläute vernehmen.

Es wäre besser zu sterben, flüsterte Silvère mitten in seinem Schluchzen.

Weine nicht, vergib mir, stammelte Miette. Ich werde stark sein und tun, was du verlangst.

Der junge Mann trocknete seine Tränen und sagte:

Du hast recht; wir können nicht nach Plassans zurückkehren. Aber wir haben jetzt keine Zeit, feige zu sein. Wenn wir als Sieger aus dem Kampfe hervorgehen, hole ich die Tante Dide ab und nehme sie mit uns, weit, weit. Wenn wir aber besiegt werden …

Er hielt inne.

Wenn wir besiegt werden? … wiederholte Miette.

Dann sei uns der Himmel gnädig! fuhr Silvère leise fort. Ich werde dann nicht mehr sein, und du wirst die arme Greisin trösten. Das wird besser sein.

Ja, du sagtest es soeben: es wäre besser zu sterben, flüsterte das Mädchen.

Bei dieser Sehnsucht nach dem Tode umarmten sie sich noch inniger. Miette wollte mit Silvère sterben; dieser hatte nur von sich selbst gesprochen, aber sie fühlte wohl, daß er sie gerne mit ins Grab nehmen wollte. Dort würden sie sich freier lieben dürfen als am hellen Tage. Tante Dide würde ebenfalls sterben und zu ihnen hinabsteigen. Es war wie ein flüchtiges Ahnen, die Sehnsucht nach einer seltsamen Lust, welche der Himmel durch die Klagetöne der Sturmglocken bald zu erfüllen verhieß. Ster–ben! ster–ben! Die Glocken wiederholten dieses Wort mit zunehmender Gewalt und die Liebenden waren bereit, diesem Ruf nach dem Schattenreiche zu folgen. Sie hatten gleichsam einen Vorgeschmack der ewigen Ruhe in dieser schlummerartigen Betäubung, in welche die Wärme ihre Glieder und die Glut ihrer Lippen, die sich wiedergefunden hatten, sie von neuem versenkten.

Miette wehrte sich nicht mehr. Jetzt war sie es, die ihren Mund auf den Silvères preßte, die mit stummer Gier jene Freude suchte, deren herben Brand sie anfänglich nicht hatte ertragen können. Der Traum von einem nahen Tode hatte ein Fieber in ihr entzündet; sie fühlte kein Erröten mehr; sie hängte sich an den Geliebten; sie schien, ehe sie ins Grab stieg, diese neuen Wonnen auskosten zu wollen, von denen sie kaum genippt hatte; es verdroß sie, daß nicht augenblicklich dieses unbekannte Etwas, das ihr ganzes Wesen aufrüttelte, sie durchdringen konnte. Außer dem Kusse ahnte sie noch etwas anderes, was sie erschreckte und zugleich anzog in dem Taumel ihrer nunmehr erwachten Sinne. Sie gab sich hin; in der schamlosen Einfalt der Jungfrauen hätte sie Silvère anflehen mögen, den letzten Schleier zu zerreißen. Er aber, schier die Besinnung verlierend infolge ihrer Liebkosung, von einem vollkommenen Glücke erfüllt, ohne Kraft, ohne andere Begierden, schien an größere Wonnen gar nicht zu glauben.

Als Miette keinen Atem mehr hatte und die herbe Freude der ersten Umarmung schwinden fühlte, flüsterte sie:

Ich will nicht sterben, ohne daß du mich liebest… ich will, daß du mich noch mehr liebest…

Ihr fehlten die Worte; nicht als ob sie das Bewußtsein der Schande gehabt hätte, sondern weil sie nicht wußte, was sie wünschte. Sie war ganz einfach von einer dumpfen inneren Regung und von einem Bedürfnis nach Unendlichem in ihrer Freude erfüllt.

In ihrer Unschuld hätte sie mit dem Fuße stampfen mögen wie ein Kind, dem man ein Spielzeug verweigert.

Ich liebe dich! Ich liebe dich! wiederholte Silvère ermattend.

Miette schüttelte den Kopf; sie schien zu sagen, es sei nicht wahr, und der junge Mensch verheimliche ihr etwas. Ihre kraftvolle und freie Natur hatte den geheimen Trieb der Fruchtbarkeit des Lebens. Darum wies sie den Tod von sich, wenn sie als Unwissende sterben sollte. Diesen Aufruhr ihres Blutes und ihrer Nerven gestand sie treuherzig durch ihre glühenden, umhertastenden Hände, durch ihr Stammeln, durch ihr Flehen.

Dann ward sie ruhiger, lehnte das Haupt an die Schulter des jungen Mannes und schwieg. Silvère neigte sich zu ihr und küßte sie lange. Sie genoß seine Küsse langsam, nach ihrem Sinn, ihrer geheimen Lust forschend. Sie hörte sie gleichsam durch ihre Adern rieseln und fragte sie, ob sie die ganze Liebe, die ganze Leidenschaft seien. Eine Mattigkeit bemächtigte sich ihrer; sie entschlief sanft, hörte aber auch im Schlafe nicht auf, die Liebkosungen Silvères zu genießen. Dieser hatte sie in den großen, roten Mantel eingehüllt, von dem er einen Zipfel auch über sich selbst gebreitet hatte. Sie fühlten die Kälte nicht mehr. Als Silvère an dem regelmäßigen Atemholen Miettens merkte, daß sie eingeschlummert sei, war er froh über diesen Schlaf, nach dem sie gestärkt wieder ihren Weg würden fortsetzen können. Er nahm sich vor, sie eine Stunde schlafen zu lassen. Der Himmel war noch immer schwarz; kaum eine weißliche Linie im Osten kündigte das Nahen des Morgens an. Hinter dem Liebespaare mußte ein Fichtenwald sein, dessen vielstimmiges Erwachen bei dem ersten Wehen der Morgenluft der junge Mensch vernahm. In der schneidenden Luft tönte das Klagen der Glocken immer schärfer, unddiese Töne wiegten Miette in den Schlummer, gleichwie sie vorhin ihr Liebesfieber begleitet hatten.

Bis zu dieser Nacht voll Aufregungen und Verwirrungen hatten die beiden jungen Leute eine jener kindlichen Idyllen durchlebt, die in der Arbeiterklasse entstehen, unter den Enterbten, Geistesarmen, bei denen man noch zuweilen die einfache Liebe der altgriechischen Sagen antrifft.

Miette war kaum neun Jahre alt, als ihr Vater auf die Galeeren geschickt wurde, weil er einen Gendarm erschossen hatte. Der Prozeß Chantegreil war in der ganzen Gegend berühmt geblieben. Der Wilderer hatte den Mord glattweg eingestanden; aber er schwor, daß der Gendarm sein Gewehr auf ihn angelegt hatte. Ich bin ihm nur zuvorgekommen, sagte er; ich habe mich nur verteidigt; es war ein Zweikampf und kein Mord. Und aus dieser Art sich zu verteidigen trat er nicht heraus. Es wollte dem Präsidenten nicht gelingen, ihm begreiflich zu machen, daß ein Gendarm wohl das Recht habe, auf einen Wilderer zu schießen, nicht aber umgekehrt. Dank seiner überzeugten Haltung und seinem unbescholtenen Vorleben entging Chantegreil dem Schafott, doch kam er auf die Galeeren. Dieser Mann weinte wie ein Kind, als man ihm seine Tochter brachte, ehe er nach Toulon abgeführt ward. Die Kleine, die noch in der Wiege gelegen hatte, als sie ihre Mutter verlor, wohnte bei ihrem Großvater in Chavanoz, einem Dorfe in den Tälern des Seillegebirges. Als der Wilderer nicht mehr da war, lebten der Alte und das Kind von Almosen. Die Einwohner von Chavanoz, sämtlich Jäger, unterstützen die armen Geschöpfe, die der Sträfling zurückgelassen hatte. Doch der Alte starb bald vor Kummer. Miette, die allein geblieben war, hätte auf den Straßen betteln müssen, wenn die Nachbarinnen sich nicht erinnert hätten, daß sie in Plassans eine Tante habe. Es fand sich eine mildtätige Seele, die Miette zu dieser Tante brachte, die das Kind ziemlich unwirsch empfing.

 

Eulalie Chantegreil, an den Krautgärtner Rébufat verheiratet, war ein langes, eigensinniges Teufelsweib, das im Hause das Regiment führte. In der Vorstadt sagte man, daß sie ihren Mann nasführe. Die Wahrheit war, daß der geizige, überaus arbeitsame und gewinnsüchtige Rébufat eine Art Respekt empfand vor diesem derben Weib, das so rüstig bei der Arbeit, so nüchtern und so sparsam war, wie wenige ihresgleichen.

Dank dem Weibe gedieh das Haus. Der Gärtner murrte, als er, abends heimkehrend, die kleine Miette in seinem Hause traf. Doch sein Weib schloß ihm den Mund, indem sie mit ihrer rauhen Stimme sagte:

Die Kleine ist kräftig, sie wird uns als Magd dienen. Wir geben ihr das Essen und sparen den Lohn bei ihr.

Diese Berechnung gefiel dem Rébufat. Er ging so weit, daß er die Arme des Kindes betastete, und erklärte mit Genugtuung, es sei für sein Alter sehr stark. Miette war damals neun Jahre alt. Schon vom nächsten Tage an machte er sie sich dienstbar. Die Arbeit der Bäuerinnen im Süden ist viel leichter als im Norden. Nur selten sieht man dort die Weiber die Erde behauen, Lasten tragen, überhaupt die Verrichtungen der Männer besorgen. Sie binden Garben und pflücken Oliven oder Maulbeerblätter. Ihre schwerste Beschäftigung ist Unkraut jäten. Miette arbeitete munter. Das Leben im Freien war ihre Freude und ihre Gesundheit. Solange ihre Tante lebte, konnte Miette ihres Daseins froh werden. Trotz ihrer rauhen Art liebte die wackere Frau das Mädchen wie ihr eigenes Kind; sie verbot ihr, die schweren Arbeiten zu verrichten, die ihr Mann ihr aufbürden wollte, und sie rief dem letzteren zu:

Du bist aber ein Pfiffikus! Siehst du nicht ein, Schwachkopf, daß, wenn du sie heute zu sehr ermüdest, sie morgen nichts wird machen können!

Dieser Grund war entscheidend. Rébufat senkte den Kopf und trug selber die Last, die er dem Mädchen hatte aufbürden wollen.

Unter dem geheimen Schutze ihrer Tante hätte Miette ein glückliches Leben führen können, wären nicht die Neckereien ihres damals sechzehnjährigen Vetters gewesen, der seine in Trägheit verlebten Tage dazu benützte, das Mädchen zu mißachten und zu verfolgen. Die besten Stunden Justins waren die, wenn es ihm durch irgendeine plumpe Lüge gelang, daß sie ausgescholten wurde. Wenn er ihr auf die Füße treten oder sie roh anrennen konnte, mit der Entschuldigung, daß er sie nicht bemerkt habe, lachte er und genoß die tückische Lust der Leute, die sich der Übel der anderen freuen. Miette schaute ihn dann mit ihren großen kindlichen Augen an, mit Blicken voll Zorn und Stolz, die dem blöden Kichern des feigen Wichtes Einhalt geboten. Im Grunde hatte er eine wilde Furcht vor seiner Base.

Das Mädchen war bald elf Jahre alt, als ihre Tante Eulalie plötzlich starb. Seit jenem Tage änderte sich alles in dem Hause. Rébufat gewöhnte sich allmählich daran, das Mädchen als Ackerknecht zu behandeln. Er bürdete ihr schwere Arbeiten auf, bediente sich ihrer wie eines Lasttieres. Sie beklagte sich nicht, sie glaubte eine Schuld abtragen zu müssen. Wenn sie des Abends müde und erschöpft auf ihr Lager sank, beweinte sie die Tante, dieses schreckliche Weib, dessen geheime Güte sie jetzt erst voll empfand. Übrigens waren ihr selbst die schweren Arbeiten nicht zu lästig; sie liebte die Kraft und war stolz auf ihre starken Arme und Schultern. Was sie kränkte, war die mißtrauische Überwachung ihres Oheim, seine fortwährenden Vorwürfe, sein Auftreten eines zornigen Gebieters.

Zu dieser Zeit war sie im Hause eine Fremde. Und selbst eine Fremde hätte man nicht so schlecht behandeln können wie sie. Ohne Gewissensbisse mißbrauchte Rébufat die arme kleine Verwandte, die er aus wohlberechneter Mildtätigkeit in seinem Hause behielt. Sie vergalt mit ihrer Arbeit zehnfach seine rohe Gastfreundschaft, und es verging kein Tag, an dem er ihr nicht das Brot vorwarf, das sie aß. Justin tat sich besonders darin hervor, sie zu kränken. Seitdem seine Mutter nicht mehr da war, verwendete er seine ganze böse Einbildungskraft darauf, dem nunmehr wehrlosen Kinde den Aufenthalt im Hause zu verleiden. Die tückischeste Marter, die er ersann, war die, wenn er dem Mädchen von dessen Vater sprach. Das arme Mädchen, das außerhalb der Welt gelebt hatte unter dem Schutze ihrer Tante, die verboten hatte, daß man vor ihr die Worte »Sträfling« und »Galeeren« ausspreche, begriff nicht den Sinn dieser Worte. Justin war es, der sie diesen Sinn lehrte, indem er ihr in seiner Weise erzählte, wie der Gendarm getötet und Chantegreil verurteilt wurde. Er hörte nicht auf, abscheuliche Einzelheiten zu erzählen: die Sträflinge schleppten eine eiserne Kugel an den Füßen nach, müßten fünfzehn Stunden arbeiten und gingen sämtlich unter dieser Plage zugrunde. Das Bagno sei ein furchtbarer Ort, den er mit all seinen Schrecknissen ausführlich schilderte. Betroffen, die Augen voll Tränen, hörte Miette ihm zu. Zuweilen ward sie von heftigen Zornesanfällen erfaßt und Justin wich vor ihren geballten Fäusten einen Schritt zurück. Dieses grausame Einweihen in die Sachlage genoß er wie ein Feinschmecker. Wenn sein Vater – was oft wegen des geringsten Versehens geschah – sich gegen das Kind erzürnte, war er gleich mit dabei und war glücklich, sie gefahrlos beschimpfen zu können. Wenn sie sich zu wehren suchte, sagte er:

Das Blut verleugnet sich nicht; du wirst im Zuchthaus enden wie dein Vater!

Ohnmächtig vor Scham und im Innersten getroffen konnte Miette nichts tun als weinen.

Zu jener Zeit entwickelte sich Miette schon zum Weibe. Frühzeitig gereift, konnte sie den Quälereien mit außerordentlicher Willenskraft Widerstand leisten. Nur in den seltenen Stunden, wenn ihr angeborener Stolz von den Beschimpfungen des Vetters gedemütigt ward, gab sie sich der Verzweiflung hin. Bald ertrug sie trockenen Auges die unaufhörlichen Beschimpfungen dieses Feiglings, der, während er mit ihr sprach, sie sorgfältig beobachtete aus Furcht, daß sie ihm ins Gesicht fahren könne. Überdies wußte sie ihn zum Schweigen zu bringen, wenn sie ihn fest ansah. Wiederholt fühlte sie sich versucht, aus dem Jas-Meiffren zu fliehen. Aber sie tat es nicht, um ihren Mut dadurch zu bekunden; sie wollte sich nicht eingestehen, daß sie den Verfolgungen erliege, die sie zu erdulden hatte. Alles in allem verdiente sie ja ihr Brot und ließ sich die Gastfreundschaft der Familie Rébufat nicht schenken. Diese Gewißheit genügte ihrem Stolze. So blieb sie denn, um zu kämpfen, machte sich stark und lebte in dem unaufhörlichen Gedanken an den Widerstand. Sie richtete ihr Verhalten danach ein, daß sie still ihre Arbeit verrichtete und für die schlimmen Worte, die sie zu hören bekam, sich durch stumme Verachtung rächte. Sie wußte wohl, daß ihr Oheim zu viel Nutzen von ihr zog, als daß er leichthin den Einflüsterungen Justins Gehör geschenkt hätte, der sie nur immer vor die Türe setzen wollte. Darum legte sie eine Art Trotz darin, nicht freiwillig das Haus zu verlassen.