50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Endlich kamen die schönen Tage wieder. Im April gab es milde Nächte; auf dem Wege sprießte das Gras üppig hervor. In diesem Lebensstrom, der vom Himmel niederfloß und aus dem Erdreiche aufstieg, inmitten des Rausches des jungen Jahres bedauerten die Liebenden manchmal ihre winterliche Einsamkeit, die Regenabende, die kalten Nächte, während der sie so verloren, so fern waren von allem Geräusch der Menschen. Jetzt ward es nicht schnell genug Abend; sie grollten der langen Dämmerung und wenn die Nacht dunkel genug geworden war, um Miette ohne die Gefahr, gesehen zu werden, das Klettern über die Mauer zu gestatten, wenn es ihnen endlich gelungen war, den teuren, einsamen Pfad zu erreichen, fanden sie daselbst nicht mehr jene Einsamkeit, die in ihrer Scheu verliebter Kinder ihnen so wohltat. Das Saint-Mittre-Feld bevölkerte sich; die Jungen der Vorstadt blieben bis elf Uhr abends da und trieben sich unter munteren Spielen auf den Balken umher; es kam auch vor, daß der eine oder andere sich hinter den Bretterstößen verbarg und dann Silvère und Miette mit der Frechheit eines zehnjährigen Taugenichts zulachte. Die Angst, überrascht zu werden, und das Erwachen des Lebens, das mit fortschreitendem Sommer immer reger und lauter wurde, verleideten ihnen ihre Begegnungen.

Überdies ward ihnen der Weg zu enge. Niemals war er in so heißen Strömungen erbebt; niemals hatte dieser Boden, wo die letzten Gebeine des alten Kirchhofes schlummerten, so sinnverwirrende Ausdünstungen entsandt. Und sie waren noch zu sehr Kinder, um den wollüstigen Reiz dieses im Fieber des Frühlings bebenden, stillen Winkels zu genießen. Das Gras reichte ihnen bis zu den Knien; sie bewegten sich nur mehr schwierig an diesem Orte, und wenn sie junge Triebe zertraten, hauchten gewisse Pflanzen scharfe Düfte aus, die sie betäubten. Von einer seltsamen Ermüdung ergriffen, verwirrt und schwankend, die Beine gleichsam durch die Gräser gebunden, lehnten sie sich dann an die Mauer, die Augen halb geschlossen, keinen Schritt wagend. Es war ihnen, als werde das ganze Schmachten des Himmels in sie eindringen.

Da ihr kindliches Ungestüm schlecht zu diesen plötzlichen Anwandlungen von Schwäche paßte, beschuldigten sie schließlich ihren Schlupfwinkel, daß es ihm an frischer Luft fehle und entschlossen sich, mit ihrer jungen Liebe ins Freie hinauszuwandern. So begannen denn neuerlich jeden Abend ihre Ausflüge. Miette kam mit ihrem Mantel; beide hüllten sich in das weite Kleidungsstück, huschten längs der Mauern fort, erreichten die Heerstraße, die weiten, freien Felder, wo die Luft mächtig dahinströmte gleich den Wogen der hohen See. Hier empfanden sie keine Beklemmung mehr; hier fanden sie ihre Kindheit wieder, fühlten sie den Taumel schwinden, die Betäubung, die das üppige Gras des Saint-Mittre-Feldes ihnen verursacht hatte.

Zwei Jahre hindurch besuchten sie diesen Winkel der Gegend. Jeder Felsenvorsprung, jede Rasenbank kannte sie bald; da war kein Gesträuch, keine Hecke, kein Dickicht, das ihnen nicht befreundet wurde. Hier machten sie ihre Träume zur Wirklichkeit; hier gab es ein tolles Rennen über die Sainte-Claire-Wiesen, Miette konnte tüchtig laufen und Silvère mußte ordentlich ausgreifen, wenn er sie einholen wollte. Sie suchten auch Elsternester; Miette, die durchaus zeigen wollte, wie sie in Chavonoz auf die Bäume geklettert war, band sich die Röcke mit einem Endchen Bindschnur und erklomm die hohen Pappeln. Silvère stand bebend am Fuße des Baumes, mit ausgebreiteten Armen, wie um sie aufzufangen, wenn sie herabgleiten sollte. Diese Spiele beschwichtigten ihre Sinne in dem Maße, daß sie eines Abends sich schier prügelten wie zwei Gassenjungen beim Verlassen der Schule. Doch fanden sich in der weiten Landschaft noch Plätze, die sie nicht kannten. Solange sie wanderten, gab es ein geräuschvolles Lachen, ein Treiben und Drängen und Stoßen; sie gingen meilenweit, manchmal bis zur Garrigues-Hügelkette, schlugen die engsten Pfade ein und schritten wohl auch querfeldein. Ihnen gehörte die ganze Gegend; sie lebten da wie in erobertem Lande, freuten sich der Erde und des Himmels. Mit dem weiten Gewissen der Frauen wollte Miette es sich nicht versagen, manchmal eine Weintraube, einen Zweig grüner Mandeln von den Bäumen abzureißen, deren Äste im Vorübergehen sie trafen. Das verstieß gegen die strengen Grundsätze Silvères; doch wagte er nicht, das Mädchen auszuschelten, weil ihr – allerdings seltenes – Schmollen ihn trostlos machte. »Ach die Schlimme!« rief er dann aus, der Lage ein ernstes Gepräge gebend, »sie wäre imstande, einen Dieb aus mir zu machen.« Darauf schob Miette ihm seinen Teil an der gestohlenen Frucht in den Mund. Die Listen, die er anwandte, um sie von diesem instinktiven Bedürfnisse, von fremdem Gute zu naschen, abzuhalten, indem er seinen Arm um ihren Leib legte, die Obstbäume mied, die Weingärten entlang sich von ihr jagen ließ; diese Listen erschöpften bald seine Erfindungsgabe. Dann nötigte er sie, sich niederzusetzen. Jetzt stellten sich bei ihnen die Beklemmungen wieder ein. Besonders die Erdmulden am Ufer der Viorne mit ihrem nächtigen Dunkel erzeugten ein Gefühl des Fiebers in ihnen. Wenn die Ermüdung sie zu dem Ufer des Flusses zurückführte, war es mit ihrer schönen, kindlichen Heiterkeit zu Ende. Unter den Weiden schwebten graue Schatten gleich den Schleiern einer Frau in Trauer. Die Kinder fühlten, wie diese Schatten, gleichsam noch durchduftet und warm von den wollüstigen Schultern der Nacht, sie um die Schläfen liebkosten, wie in eine unbesiegbare Ermattung hüllten. In der Ferne zirpten die Heimchen in den Sainte-Claire-Wiesen, die Viorne zu ihren Füßen Heß ein verliebtes Flüstern vernehmen wie das gedämpte Geräusch kußfeuchter Lippen. Vom schlafenden Himmel schien ein warmer Sternenregen herniederzurieseln. Und bei dem Erbeben dieses Himmels, dieses Flusses, dieses nächtigen Schattens suchten die Kinder, die nebeneinander im hohen Grase lagen, die verzückten Blicke im Dunkel der Nacht verloren, gegenseitig ihre Hände und tauschten einen kurzen Händedruck aus.

Silvère, der von den Gefahren dieser Verzückungen eine dunkle Ahnung hatte, sprang mit einem Satze wieder auf die Füße und schlug vor, sie möchten nach einer der kleinen Inseln hinüber gehen, die das seichte Wasser in der Mitte des Flusses bloßlegte. Und beide wagten dann nackten Fußes den Gang durchs Wasser. Miette machte sich nichts aus den Kieseln und wollte nicht dulden, daß Silvère sie stütze, und so geschah es einmal, daß sie sich mitten im Flusse niedersetzte. Doch das Wasser reichte ihr da kaum bis zu den Knien und der ganze Schaden bestand darin, daß der Unterrock ein wenig naß wurde. Wenn sie die Insel erreicht hatten, legten sie sich bäuchlings auf eine Sandzunge hin, die Augen auf die Oberfläche des Wassers gerichtet, dessen Silberschuppen fern im Mondlichte schillerten. Miette erklärte dann, daß sie im Schiffe sei und daß die Insel schwimme; sie fühlte es, wie sie fortgetragen werde. Dieser Taumel, verursacht durch das Dahinfließen des Wassers, dem sie folgten, ergötzte sie eine Weile, hielt sie fest am Rande der Insel, wo sie halblaut sangen nach Art der Schiffer, wenn sie ihre Ruder ins Wasser senken. Ein andermal, wenn auf der Insel eine kleine Böschung war, ließen sie sich daselbst nieder wie auf einer Rasenbank und ließen ihre nackten Beine ins Wasser hängen. Da plauderten sie stundenlang, spritzten mit den Fersen das Wasser in die Höhe, schaukelten ihre Beine im Wasser und vergnügten sich damit, einen kleinen Sturm in dem stillen Flüßchen hervorzurufen, dessen Kälte ihr Fieber dämpfte.

Diese Flußbäder zeitigten in Miettens Köpfchen eine Laune, die der schönen Unschuld ihrer Liebe schier ein Ende gemacht hätte. Sie wollte durchaus Vollbäder nehmen. Oberhalb der Brücke, versicherte sie, gebe es eine Vertiefung von kaum vier Fuß, wo man sicher baden könne; es sei da hübsch warm und man könne behaglich bis zu den Schultern im Wasser sitzen; sie möchte schon so lange gern schwimmen können, und Silvère solle es sie lehren. Dieser machte Einwendungen; es sei nicht vorsichtig, des Nachts solches zu tun; man könne sie sehen, und es werde schlimme Folgen für sie haben. Aber er verschwieg den wahren Grund; er war instinktiv beunruhigt bei dem Gedanken an dieses neue Spiel. Er fragte sich, wie sie sich entkleiden würden und wie er es anfangen werde, Miette in seinen nackten Armen über Wasser zu halten. Das Mädchen schien nichts von diesen Schwierigkeiten zu ahnen.

Eines Abends brachte sie einen Badeanzug mit, den sie sich aus einem alten Kleide zugeschnitten hatte. Silvère mußte zu Tante Dide zurückkehren, um seine Schwimmhose zu holen. Und die Partie gestaltete sich ganz einfach. Miette entfernte sich nicht weit; sie entkleidete sich ganz einfach im Schatten einer Weide, und dieser Schatten war so dicht, daß ihr kindlicher Körper nur einige Sekunden als ein schwacher, weißer Schimmer darin erschien. Silvère mit seiner braunen Haut erschien in der Nacht wie der dunkle Stamm einer jungen Eiche, während die Arme und Beine des jungen Mädchens, nackt und rund, den milchweißen Schäften der Birken am Flußufer glichen. Wie mit dunklen Flecken bekleidet, die das hohe Laub auf sie hernieder senkte, traten dann beide fröhlich ins Wasser, einander zurufend und von der Kälte überrascht leise Angstrufe ausstoßend. Alle Bedenken, die geheime Scheu, die uneingestandene Scham: sie waren vergessen. Sie blieben da eine volle Stunde, herumplätschernd, sich mit Wasser bespritzend; Miette tat beleidigt, um dann in ein Lachen auszubrechen; Silvère gab ihr die erste Schwimmlektion, tauchte ihr von Zeit zu Zeit den Kopf unter, um sie abzuhärten. Solange er sie mit der einen Hand am Gürtel ihres Badeanzuges festhielt, während er mit der anderen ihren Bauch stützte, arbeitete sie wütend mit Armen und Beinen und glaubte zu schwimmen; aber sobald er sie losließ, begann sie schreiend zu strampeln, streckte die Hände aus, peitschte das Wasser und hielt sich fest wo sie konnte, am Leibe des jungen Mannes, oder an einem seiner Handknöchel. Einen Augenblick überließ sie sich ihm, ruhte an seiner Brust, völlig atemlos, wassertriefend, während der nasse Badeanzug die Reize ihrer jungfräulichen Büste abzeichnete. Dann rief sie:

 

Noch einmal! Du läßt mich absichtlich los.

Kein Gefühl der Scham stieg ihnen auf aus diesen Umarmungen Silvères, der sich überneigte, um sie zu stützen, aus diesen Anstrengungen Miette zu retten, die sich erschreckt dem jungen Manne an den Hals hing. Das kalte Bad versetzte sie in eine Kristallreinheit. Es waren zwei nackte, unschuldige, lachende Kinder in warmer Sommernacht unter dem stillen Laub der Bäume. Nach den ersten Bädern machte Silvère sich im stillen Vorwürfe, daß er an Böses denken konnte. Miette kleidete sich so schnell aus und war so frisch in seinen Armen und lachte so hell!

Doch nach Verlauf von zwei Wochen konnte die Kleine schwimmen. Ihre Glieder beherrschend, gewiegt von der Flut, mit der sie jetzt spielte, überließ sie sich der weichen Schmiegsamkeit des Flusses, der Stille des Nachthimmels, der träumerischen Einsamkeit, die auf den Ufern lagerte.

Wenn beide geräuschlos dahinschwammen, glaubte Miette an den beiden Ufern das Laub sich verdichten, sich über sie neigen, ihr Versteck mit riesigen Vorhängen verhüllen zu sehen. An mondhellen Abenden glitt der Lichtschein zwischen den Baumstämmen hindurch, milde Gestalten in weißer Gewandung schienen die Ufer entlang zu wandeln. Miette hatte keine Furcht. Eine unsagbare Aufregung erfaßte sie, wenn sie den Spielen des Schattens folgte. Während sie mit verlangsamter Bewegung vorwärts schwamm, kräuselte sich das Wasser, das im Mondlichte wie ein klarer Spiegel dalag, bei ihrer Annäherung wie ein silberdurchwirkter Stoff; die Ringe wurden breiter und verloren sich im Dunkel der Ufer, unter den niederhängenden Zweigen der Weiden, woher ein geheimnisvolles Plätschern zu vernehmen war. Bei jedem Ausgreifen fand sie solche flüsternden Tiefen, dunkle Höhlungen, an denen sie rascher vorbeieilte, Sträucher, Baumreihen, deren dunkle Massen die Form wechselten, sich verlängerten, von der Höhe des Ufers ihr zu folgen schienen. Wenn sie auf dem Rücken schwamm, ward sie durch den Blick in die unendlichen Tiefen des Nachthimmels noch mehr ergriffen. Von der Landschaft, die sie nicht sah, hörte sie eine tiefe, lang aushaltende Stimme aufsteigen, gleichsam aus allen Seufzern der Nacht zusammengesetzt.

Sie war nicht von träumerischer Natur und freute sich mit ihrem ganzen Körper, mit allen ihren Sinnen des Himmels, des Flusses, der Schatten, der Lichter. Im besonderen der Fluß, dieses Wasser, dieses bewegliche Feld, trug sie mit unsagbaren Liebkosungen dahin. Wenn sie den Fluß hinaufschwamm, verursachte es ihr ein großes Vergnügen zu fühlen, wie ihr das Wasser schneller über Brust und Beine floß; es war ein anhaltender, sanfter Kitzel, den sie ohne nervöses Lachen ertragen konnte. Sie tauchte dann tiefer ins Wasser, bis dieses ihr an die Lippen reichte, damit es über ihre Schultern hinweg fließe, sie mit einem Zuge vom Kinn bis zu den Füßen in seine flüchtige Liebkosung einhüllte. Sie verfiel dann in eine Schlaffheit, in der sie unbeweglich auf der Oberfläche des Wassers liegen blieb, während es in kleinen Wellen weich zwischen dem Anzug und ihrer Haut durchfloß, wobei der Stoff sich blähte; dann wälzte sie sich in dem stillen Wasser wie eine Katze auf einem Teppich; und sie schwamm aus dem schimmernden Wasser, wo der Mond badete, in das dunkle, vom Laube in Schatten gehüllte Wasser, mit einem Frösteln, als habe sie eine sonnige Ebene verlassen und die Kühle der Zweige auf ihren Nacken fallen fühlen.

Jetzt trat sie schon beiseite, um sich zu entkleiden; sie verbarg sich. Einmal im Wasser verhielt sie sich schweigsam; sie wollte nicht mehr dulden, daß Silvère sie berühre; sie schlüpfte sachte an seine Seite und schwamm mit dem leisen Geräusch eines Vogels, der durch ein Dickicht fliegt; oder auch sie umkreiste ihn, von einer unbestimmten Furcht ergriffen, die sie sich nicht erklären konnte. Er selbst entfernte sich, wenn er an eines ihrer Glieder streifte. In dem Flusse fanden sie jetzt nur mehr einen ermattenden Taumel, ein wollüstiges Einlullen, das sie in eine seltsame Verwirrung versetzte. Besonders wenn sie aus dem Bade stiegen, hatten sie ein Gefühl der Schläfrigkeit, der Blendung. Sie waren gleichsam erschöpft. Miette brauchte eine volle Stunde, um sich anzukleiden. Zuerst warf sie nur ihr Hemd über und einen Rock; dann blieb sie da, im Grase ausgestreckt, über Müdigkeit klagend und Silvère rufend, der einige Schritte weiterhin stand, mit leerem Schädel und mit einer seltsamen, aufregenden Mattigkeit in den Gliedern. Auf dem Heimwege war dann ihre Umarmung feuriger, sie fühlten durch ihre Gewandung deutlicher ihren infolge des Bades geschmeidiger gewordenen Körper; sie blieben stehen von Zeit zu Zeit und stießen schwere Seufzer aus. Der riesige Haarknäuel Miettens, ihr Nacken, ihre Schultern hatten einen Geruch der Frische, einen Duft der Reinheit, der den jungen Mann vollends betäubte. Zum Glück erklärte das Mädchen eines Abends, daß es keine Bäder mehr nehmen werde, daß das kalte Wasser ihr das Blut zu Kopfe treibe. Ohne Zweifel gab sie diesen Grund in aller Wahrheit und Unschuld an.

Sie nahmen ihre langen Gespräche wieder auf. Von der Gefahr, die ihrer unschuldigen Liebe gedroht, war im Geiste Silvères nichts als eine große Bewunderung für die körperliche Kraft Miettens zurückgeblieben. In zwei Wochen hatte sie schwimmen gelernt und oft, wenn sie um die Wette schwammen, hatte er sie den Fluß mit ebenso kräftigen Armen teilen sehen, wie er selbst. Er, der die Kraft und die körperlichen Übungen liebte, war gerührt, wenn er sie so stark und so geschickt sah. In seinem Herzen erstand eine seltsame Achtung für ihre starken Arme. Eines Abends, nach einem der ersten Bäder, bei denen sie noch so lustig waren, hatten sie sich um den Leib gefaßt und auf einem schmalen Sandstreifen minutenlang gerungen, ohne daß es Silvère gelungen wäre, Miette zu Boden zu werfen; schließlich verlor er selbst das Gleichgewicht, fiel um und das Mädchen blieb aufrecht. Ihr Freund behandelte sie fortab wie einen Jungen und eben die langen Märsche, das tolle Jagen durch die Wiesen, das Nesterausheben auf den hohen Bäumen, ihre Kämpfe, ihre ungestümen Spiele beschützten sie so lange und hinderten sie, ihre junge Liebe zu beflecken. Nebst der Bewunderung für die Kraft und Behendigkeit seiner Freundin mischte in die Liebe des jungen Burschen sich auch noch sein Erbarmen für die Unglücklichen. Er, der keinen Verlassenen, keinen Armen, kein barfüßiges Kind im Straßenstaub sehen konnte, ohne daß das Erbarmen ihm den Atem raubte, er liebte Miette, weil niemand sie liebte, weil sie das harte Dasein eines Paria führte. Wenn ei sie lachen hörte, war er tief bewegt von dieser Freude, die er ihr verschaffte. Und dann war das Mädchen eine Wilde wie er selbst ein Wilder; sie fanden sich auch in dem gemeinsamen Hasse gegen die Klatschbasen der Vorstadt. Der Traum, den er tagsüber träumte, während er bei seinem Meister mit kräftigen Hammerschlägen die Räder bereifte – dieser Traum war voll edelmütiger Torheiten. Er dachte an Miette als Erlöser. Alles, was er gelesen hatte, stieg ihm dann zu Kopfe; er wollte eines Tages seine Freundin zu seiner Frau machen, um sie in den Augen der Welt zu erheben; er legte sich den heiligen Beruf bei, die Tochter des Sträflings zu retten, der Welt und dem Heil wiederzugeben. Er hatte den Kopf dermaßen voll mit gewissen Reden, daß er sich nicht damit begnügte, sich diese Dinge einfach vorzunehmen; er verlor sich in einem gewissen sozialen Mystizismus; er ersann eine wahre Verherrlichung, mit der das Kind der Welt wiedergegeben werden sollte; er sah im Geiste Miette auf einem am Ende der Promenade Sauvaire errichteten Throne sitzen; und die ganze Stadt verneigte sich vor ihr, bat sie um Verzeihung und sang Loblieder auf sie. Glücklicherweise vergaß er alle diese schönen Dinge wieder, sobald Miette von ihrer Mauer herabsprang und ihm auf der Heerstraße sagte:

Laß uns laufen, willst du? Ich wette, daß du mich nicht fängst.

Doch wenn der Jüngling am hellen Tage von der Verherrlichung seiner Freundin träumte, so hatte er anderseits ein so tiefes Bedürfnis nach Gerechtigkeit, daß er dem Kinde oft Tränen erpreßte, wenn er ihr von ihrem Vater sprach. Trotz der tiefen Zärtlichkeit, die die Freundschaft Silvères in ihr Herz gepflanzt, erwachten in ihr doch von Zeit zu Zeit plötzlich die alten bösen Triebe; ihre ganze heftige Natur lehnte sich auf, sie kniff die Lippen zusammen, und es erschien der harte Blick in ihren Augen wieder. Sie behauptete dann, ihr Vater habe recht getan, den Gendarm zu töten; die Erde gehöre aller Welt und man habe das Recht zu schießen, wo und wann man wolle. Silvère erklärte ihr mit ernster Stimme das Gesetz, so wie er es verstand, und mit Auslegungen, die in ihrer Seltsamkeit bei allen Richtern von Plassans ein sehr bedenkliches Kopfschütteln hervorgebracht hätten. Diese Gespräche fanden zumeist in irgendeinem verlornen Winkel der Sainte-Claire-Wiese statt. Der dunkelgrüne Rasen dehnte sich dahin, soweit das Auge reichte und kein einziger Baum war da, der einen Fleck auf dieser endlosen Fläche gebildet hätte; und der Himmel schien unermeßlich, mit seinen Sternen die nackte Rundung des Gesichtskreises füllend. Die Kinder wurden gleichsam gewiegt in diesem Meer von Grün. Miette kämpfte lange gegen Silvères Ansichten; sie fragte diesen, ob es besser gewesen wäre, wenn ihr Vater sich hätte von dem Gendarmen umbringen lassen und Silvère schwieg einen Augenblick; dann erklärte er, daß es in einem solchen Falle besser sei, das Opfer zu sein als der Mörder, und daß es immer ein großes Unglück sei, wenn man seinen Nebenmenschen töte und sei es auch im Stande berechtigter Notwehr. Ihm war das Gesetz eine heilige Sache; die Richter hatten recht, als sie Chantegreil auf die Galeeren schickten. Darob ergrimmte das Mädchen; sie hätte ihren Freund prügeln mögen und rief ihm zu, er habe ein ebenso böses Herz wie die anderen. Als er fortfuhr, seine Gedanken über die Gerechtigkeit standhaft zu verteidigen, brach sie schließlich in Tränen aus und stammelte, daß er ohne Zweifel sieh ihrer schäme, da er sie immer wieder an das Verbrechen ihres Vaters erinnere. So endigten diese Erörterungen in einem Strom von Tränen, in gemeinsamer Aufregung. Doch wenn das Kind auch weinte, wenn sie auch anerkannte, daß sie vielleicht unrecht habe, bewahrte sie im Innern doch ihre Wildheit, ihre leichte Erregbarkeit. Einmal erzählte sie laut lachend, wie ein Gendarm in ihrer Gegenwart vom Pferde gefallen sei und ein Bein gebrochen habe. Übrigens lebte Miette nur mehr für Silvère. Wenn dieser sie über ihren Oheim und ihren Vetter befragte, antwortete sie, »daß sie nichts wisse«; und wenn er in sie drang aus Besorgnis, daß man sie im Jas-Meiffren vielleicht zu sehr quäle, sagte sie, daß sie viel arbeite und sich nichts geändert habe. Doch glaubte sie, daß Justin schließlich dennoch erfahren habe, weshalb sie jeden Morgen so lustig sei und was den Ausdruck ihrer Augen so sehr gemildert habe. Doch sie fügte hinzu:

Was tut's? Wenn er uns jemals stören wollte, werden wir ihm einen Empfang bereiten, daß ihm die Lust vergehen soll, sich wieder in unsere Angelegenheiten einzumengen.

Indes wurden sie durch die langen Märsche im Freien oft ermüdet. Sie kehrten dann immer wieder nach dem Saint-Mittre-Felde zurück, in dem engen Weg, aus dem sie durch die geräuschvollen Sommerabende, durch die allzu starken Gerüche der Gräser, durch die heißen, sinnverwirrenden Ausströmungen verjagt worden waren. Aber an manchen Abenden war der Aufenthalt auf dem Wege lieblicher; es strich ein erfrischender Wind hindurch; sie konnten da bleiben, ohne einen Taumel zu empfinden. Sie genossen dann eine köstliche Erholung. Auf dem Grabstein sitzend, die Ohren geschlossen für das Getümmel der Kinder und der Zigeuner, fühlten sie sich da wieder heimisch. Silvère hatte wiederholt Knochenreste, Bruchstücke von Schädeln gesammelt, und sie gefielen sich jetzt darin, von dem alten Kirchhofe zu sprechen. Mit ihrer regen Einbildungskraft sagten sie sich im stillen, daß ihre Liebe wie eine kräftige, fette Pflanze in diesem vom Tode befruchteten Boden gediehen sei. Sie war aufgeschossen wie diese wilden Gräser; sie war aufgeblüht wie die Klatschrosen, die der leiseste Wind auf ihren Stengeln bewegt und die offenen, blutenden Herzen glichen. Und sie erklärten sich die lauen Ausströmungen, die über ihre Stirnen hinwegzogen, das Geflüster, das sie im Schatten hörten, das anhaltende Frösteln, in welchem der Weg erbebte. Es waren die Toten, die ihnen ihre zerstobenen Leidenschaften ins Gesicht hauchten, ihnen ihre Brautnacht erzählten und sich im Grabe umwandten, gepackt von einer wilden Begierde zu lieben, die Liebe von neuem zu beginnen. Diese Gebeine – das fühlten sie wohl – waren voll Zärtlichkeit für sie; die geborstenen Schädel erhitzten sich von neuem an den Flammen ihrer Jugend; die kleinsten Bruchstücke umgaben sie mit einem entzückten Geflüster, einer ruhelosen Sorgfalt, einer angstvollen Eifersucht. Wenn sie sich entfernten, schien der alte Kirchhof zu weinen. Diese Gräber, die in den heißen Nächten ihnen die Füße banden, daß sie nur wankend gehen konnten: es waren lange, schmale Finger, die aus dem Erdreich nach ihnen langten, um sie festzuhalten, um sie einander in die Arme zu werfen. Dieser scharfe, durchdringende Geruch, den die zertretenen und gebrochenen Stengel aushauchten: es war der befruchtende Geruch, der mächtige Saft des Lebens, den allmählich die Gräber ausschwitzen und in den Verliebten, die auf den einsamen Pfaden wandeln, betäubende Begierden wachrufen. Die Toten, die alten Toten, heischten die bräutliche Vereinigung von Miette und Silvère.

 

Niemals wurden die Kinder von Furcht ergriffen. Es rührte sie die Zärtlichkeit, die sie in der Luft schweben fühlten; sie gewannen die unsichtbaren Wesen lieb, deren Berührung sie gleich einem leichten Flügelschlag oft zu fühlen glaubten. Sie wurden nur manchmal von einer milden Traurigkeit ergriffen und begriffen nicht, was die Toten von ihnen wollten. Sie fuhren fort, ihrer unschuldsvollen Liebe zu leben, inmitten dieses Überquellens der Säfte, in diesem Winkel eines aufgelassenen Kirchhofes, wo das von Leichen gesättigte Erdreich Leben ausschwitzte, und der gebieterisch ihre Verbindung heischte. Die summenden Stimmen, die in ihren Ohren klangen, die plötzlichen Anflüge von Hitze, die über ihr Antlitz huschten: sie kündeten ihnen nichts Bestimmtes. Es gab Tage, an denen der Schrei der Toten so laut wurde, daß Miette, die fiebernd, erschöpft auf dem Grabstein lehnte, mit ihren in Tränen schwimmenden Augen Silvère anblickte wie um ihn zu fragen: »Was wollen sie denn? Warum blasen sie Flammen in meine Adern?« Und Silvère, der selbst gebrochen, außer sich war, wagte nicht zu antworten, wagte nicht die flammenden Worte zu wiederholen, die er in der Luft zu vernehmen glaubte, die unsinnigen Ratschläge, die die hohen Gräser, die Flüsterstimmen des ganzen Weges, diese schlecht geschlossenen Gräber ihm gaben, die sich gleichsam als Lagerstätte anboten für die junge Liebe dieser Kinder.

Oft befragten sie sich über die Gebeine, die sie entdeckten. Miette mit ihrem weiblichen Instinkte sprach gern von traurigen Gegenständen. Bei jedem neuen Funde gab es ein Raten ohne Ende. War es ein kleiner Knochen, dann sprach Miette von einem jungen Mädchen, das brustkrank gewesen, oder am Vorabende seiner Hochzeit von einem Fieber hinweggerafft worden; war es ein großer Knochen, dann träumte sie von einem hochgewachsenen Greise, einem Soldaten, einem Richter, irgendeinem furchtbaren Manne. Besonders der Grabstein beschäftigte sie lange. An einem schönen, mondhellen Abende entdeckte Miette auf einer der Flächen halb verwitterte Schriftzeichen. Silvere mußte mit seinem Messer das Moos wegkratzen. Und nun lasen sie die verstümmelte Inschrift: » Hier liegt … Marie … gestorben … « Miette war ganz betroffen, als sie ihren Namen auf dem Grabsteine fand. Silvère schalt sie eine alberne Grete, aber sie vermochte ihre Tränen nicht zurückzuhalten. Sie sagte, sie habe es wie einen Stoß in die Brust empfunden, daß sie bald sterben werde und daß der Grabstein für sie sei. Jetzt fühlte der Bursche sein Blut erstarren; aber es gelang ihm dennoch, dem Kinde so weit Vernunft einzureden, daß es sich schämte. Was? Sie, die so mutig war, konnte solche Kindereien träumen? Und schließlich lachten sie. Dann redeten sie nicht mehr von diesem Gegenstande. Aber in den Stunden der Schwermut, wenn unter dem umwölkten Himmel der Weg traurig dalag, konnte Miette nicht umhin, diese Tote zu nennen, diese unbekannte Marie, deren Grab so lange ihre Zusammenkünfte begünstigt hatte. Vielleicht lagen noch die Gebeine des armen Mädchens da. Eines Abends hatte sie die seltsame Laune, zu verlangen, daß Silvère den Grabstein umwende, damit sie sehen können, was darunter sei. Er weigerte sich, als sei es eine Heiligtumsschändung, was sie verlange, und diese Weigerung nährte nur die Träume Miettens über dieses teure Gespenst, das ihren Namen trug. Sie behauptete durchaus, daß jene in ihrem Alter, mit dreizehn Jahren, mitten in ihrer Liebe, gestorben sei. Sie bedauerte selbst den Grabstein, diesen Stein, auf den sie so hurtig herabstieg, auf dem sie so oft gesessen, diesen Stein, den der Tod eiskalt gemacht, und den sie mit ihrer Liebe wieder erwärmt hatten. Sie fügte hinzu; Du wirst sehen, das wird uns Unglück bringen. Wenn du stürbest, möchte ich, daß ich hier stürbe und man diesen Stein über mich wälze.

Silvère war beklommen bei solchen Reden und schalt sie aus, weil sie an so traurige Dinge dachte.

So liebten sie sich fast zwei Jahre lang auf dem engen Wege und in der weiten Landschaft. Ihre Liebe überdauerte die eisig kalten Niederschläge des Dezember und die glühenden Aufregungen des Juli, ohne zur Schmach der gemeinen Liebschaften herabzusinken; sie bewahrte den köstlichen Reiz einer griechischen Schäferidylle, ihre flammende Reinheit, alle die kindlichen Wahnvorstellungen des Fleisches, das begehrt und unwissend ist. Selbst die alten Toten flüsterten ihnen vergeblich zu. So nahmen sie aus dem alten Friedhofe nichts mit als eine rührende Schwermut, das unbestimmte Vorgefühl eines kurzen Lebens; eine geheime Stimme sagte ihnen, daß sie von hinnen scheiden würden mit ihrer jungfräulichen Liebe vor ihrer bräutlichen Vereinigung an dem Tage, an dem sie sich einander würden geben wollen. Ohne Zweifel hatten sie hier, auf diesem Grabstein inmitten der Gebeine, die in den fetten Gräsern umherlagen, jene Liebe zum Tode eingesogen, jenes gierige Verlangen, zusammen in der Erde zu liegen, das sich auf ihre stammelnden Lippen drängte am Rande der Straße nach Orcheres, in dieser Dezembernacht, während die zwei Kirchturmglocken sich ihr klagendes Gewimmer zusandten.

Miette schlief ruhig, das Haupt an die Brust Silvères gelehnt, während dieser der fernen Zusammenkünfte gedachte, der schönen Jahre beständigen Zaubers. Bei Tagesanbruch erwachte das Kind. Vor ihnen dehnte das helle Tal unter dem winterlichen Himmel sich dahin. Die Sonne war noch hinter den Bergen. Eine kristallreine Helle, durchsichtig und eisig wie Quellwasser, floß von dem bleichen Gesichtskreise hernieder. In der Ferne verlor sich die Viorne, einem Bande von weißem Satin gleichend, zwischen den roten und gelben Feldern. Es war eine schier grenzenlose Weite; graue Meere von Olivenpflanzungen, Weingärten, die breiten, gestreiften Stoffen glichen, eine ganze Landschaft, noch vergrößert durch die Klarheit der Luft und die winterliche Ruhe. Der Wind, der in kurzen Stößen dahinfegte, hatte die Gesichter der Kinder schier zu Eis erstarren lassen. Sie erhoben sich jetzt munter, des hellen Morgens sich freuend. Da mit der Nacht auch ihre Traurigkeit und ihr Schrecken geschwunden waren, betrachteten sie entzückten Auges den ungeheuren Kreis der Ebene und lauschten dem Gebimmel der beiden Glocken, das ihnen jetzt das fröhliche Frühläuten eines Festtages schien.