50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Ach, wie gut habe ich geschlafen! rief Miette. Ich habe geträumt, daß du mich küßtest. Hast du mich geküßt, sprich?

Es kann schon sein, erwiderte Silvère lachend. Mir war auch nicht warm; denn es ist eine wahre Hundekälte.

Mir ist nur in den Füßen kalt.

Nun denn, laß uns laufen… Wir haben reichlich zwei Meilen zu gehen. Dabei wird dir warm werden.

Sie stiegen den Abhang hinab und erreichten laufend die Straße. Als sie unten waren, erhoben sie den Kopf, wie um dem Felsen Lebewohl zu sagen, wo sie unter Tränen glühende Küsse gewechselt hatten. Aber sie sprachen nicht von dieser flammenden Liebkosung, die in ihrer Liebe ein neues, unbestimmtes Bedürfnis entstehen ließ, von welchem sie sich keine Rechenschaft geben konnten. Sie faßten einander nicht mehr am Arme, unter dem Vorwande, daß sie so schneller gehen könnten. Sie marschierten munter fort, ein wenig verlegen, ohne zu wissen warum, wenn sie sich von Zeit zu Zeit anblickten. Inzwischen war der Tag immer heller rings um sie her. Der junge Bursche, der im Auftrage seines Meisters häufig den Weg nach Orchères zu machen hatte, kannte die besten und kürzesten Seitenpfade. So legten sie mehr als zwei Meilen zurück, auf Hohlwegen, vorbei an Hecken und endlosen Mauern. Miette beschuldigte Silvère, sie irregeführt zu haben. Oft sahen sie viertelstundenlang nichts von der Landschaft; sie bemerkten nur über die Mauern und Hecken hinausragende Mandelbaumreihen, deren dürren Äste sich von dem bleichen Morgenhimmel abhoben.

Plötzlich standen sie vor Orchères. Lautes Freudengeschrei, das Getöse der Menge drang durch die klare Morgenluft zu ihnen. Die Bande der Aufrührer war eben in die Stadt eingezogen. Miette und Silvère betraten sie mit den letzten Nachzüglern. Niemals hatten sie eine solche Begeisterung gesehen. In den Straßen sah es aus wie an Prozessionstagen, wenn zu Ehren des unter dem Baldachin vorüberziehenden Allerheiligsten alle Fenster sich mit kostbaren Stoffen schmücken. Man feierte die Aufrührer als Befreier. Die Männer umarmten sie, die Frauen trugen Mundvorräte herbei. Auf den Türschwellen standen Greise, die vor Rührung weinten. Die südliche Lebhaftigkeit äußerte sich in geräuschvoller Weise, singend, tanzend, gestikulierend. Als Miette vorüberkam, ward sie in einem riesigen Reigen mitgerissen, der auf dem Hauptplatze tanzte. Silvère folgte ihr. Die Mutlosigkeit, die Todesgedanken waren jetzt weit von ihm. Er wollte sich schlagen, wenigstens sein Leben teuer verkaufen. Von neuem betäubte ihn der Gedanke an den Kampf. Er träumte vom Siege, von einem glücklichen Leben mit Miette im großen Frieden der allgemeinen Republik.

Dieser brüderliche Empfang seitens der Bewohner von Orcheres war die letzte Freude der Aufständischen. Sie verbrachten den Tag in strahlender Zuversicht und in grenzenloser Hoffnung. Die Gefangenen, der Major Sicardot, die Herren Garçonnet, Peirotte und die anderen, die man in einem Zimmer des Rathauses eingesperrt hatte, dessen Fenster auf den Hauptplatz gingen, sahen mit Überraschung und Schrecken diese ausgelassenen Tänze und diese Stürme von Begeisterung, die an ihnen vorüberzogen.

Welch ein Lumpenpack! brummte der Major, der sich an das Gesims eines Fensters lehnte, wie an die samtbekleidete Brüstung einer Theaterloge. Hätte ich doch nur zwei Batterien zu befehligen; wie wollte ich dieses ganze Gesindel hinwegfegen!

Als er Miette bemerkte, fügte er, zu Herrn Garçonnet gewendet, hinzu:

Schauen Sie nur jenes große, rote Mädchen, Herr Bürgermeister! Es ist fürwahr eine Schmach, daß sie sogar ihre Dirnen mitführen. Wenn das noch lange währt, werden wir schöne Dinge zu sehen bekommen.

Herr Garçonnet nickte mit dem Kopfe und sprach von den »entfesselten Leidenschaften« und von den »schlimmsten Tagen unserer Geschichte«. Herr Peirotte war bleich wie sein Hemd und schwieg. Nur einmal tat er den Mund auf, um zu Herrn Sicardot, der wieder mit lauter Stimme schimpfte, zu sagen:

Leiser, leiser, mein Herr! Sie werden es so arg treiben, daß wir alle niedergemetzelt werden.

In Wahrheit behandelten die Aufständischen ihre Gefangenen mit größter Milde. Sie ließen ihnen sogar am Abend eine vortreffliche Mahlzeit vorsetzen. Aber für Feiglinge vom Schlage des Herrn Einnehmers waren solche Aufmerksamkeiten nur um so schrecklicher; die Aufständischen – so behauptete er – behandelten ihre Gefangenen nur deshalb so gut, damit sie desto fetter und zarter seien an dem Tage, wo sie diese fressen würden.

Als der Abend dämmerte, sah sich Silvère seinem Vetter, dem Doktor Pascal gegenüber. Der Gelehrte war der Bande zu Fuße gefolgt, mit den Arbeitern plaudernd, die ihn verehrten. Anfänglich hatte er sich bemüht, sie von dem Kampfe abzubringen; dann, gleichsam durch ihre Reden gewonnen, hatte er ihnen mit einem gleichmütig wohlwollenden Lächeln gesagt:

Ihr habt vielleicht recht; schlaget euch nur; ich bin ja da, um euch die Arme und Beine wieder zusammenzuflicken.

Er hatte am Morgen ganz ruhig begonnen, längs des Weges Steine und Pflanzen zu sammeln. Er war trostlos, weil er seinen Geologenhammer und seine Botanisierbüchse nicht mitgenommen hatte. Um diese Zeit waren seine Taschen zum Reißen voll von Steinen und aus seiner Ledermappe, die er unter dem Arme trug, hingen ganze Büschel langer Gräser heraus.

Schau, bist du's, mein Junge? rief er, als er Silvère gewahrte. Ich glaubte hier der einzige von der Familie zu sein.

Er sprach die letzteren Worte mit leisem Spott über das Benehmen seines Vaters und des Onkels Antoine. Silvère war glücklich, seinen Vetter zu treffen. Der Doktor war der einzige Rougon, der ihm die Hand drückte, wenn er ihn auf der Straße traf, und ihm eine aufrichtige Freundschaft bewies. Als Silvère ihn noch mit dem Straßenstaube bedeckt sah, bekundete er eine lebhafte Freude, weil er ihn für die republikanische Sache gewonnen glaubte. Er sprach zu ihm von den Rechten des Volkes, von dessen heiliger Sache, von dem sicheren Sieg mit jugendlicher Begeisterung. Pascal hörte ihn lächelnd an; neugierig beobachtete er seine Gebärden, das lebendige Spiel seiner Züge, als habe er diese Begeisterung zerlegen können, um zu sehen, was auf dem Grunde dieses edelmütigen Eifers sei.

Wie du sprudelst, wie du dich ereiferst! Man sieht, du bist der Enkel deiner Großmutter!

Mit leiser Stimme setzte er hinzu im Tone eines Chemikers, der sich Notizen macht:

Hysterie oder Begeisterung; schmähliche Narrheit oder erhabene Narrheit. Immer diese teuflischen Nerven.

Dann schloß er gleichsam seinen Gedankengang und sagte laut:

Die Familie ist vollständig: sie wird auch ihren Helden haben.

Silvère hatte nichts gehört. Er fuhr fort, von seiner teuren Republik zu sprechen. Einige Schritte weiter war Miette stehen geblieben; sie trug noch immer ihren roten Mantel und verließ Silvère nicht mehr. Arm in Arm hatten sie den ganzen Tag die Stadt durchstreift. Dieses große, rote Mädchen zog schließlich das Interesse Pascals auf sich; er unterbrach plötzlich den Redefluß seines Vetters und fragte:

Wer ist dieses Kind, das bei dir ist?

Das ist mein Weib, erwiderte Silvère ernst.

Der Doktor machte große Augen. Er verstand nicht, was jener gesagt hatte. Da er den Frauen gegenüber sehr schüchtern war, zog er vor Miette tief den Hut und ging.

Die Nacht gestaltete sich unruhig. Ein Unglückswind jagte über die Aufständischen hinweg. Die Begeisterung und die Zuversicht von gestern schienen mit dem Dunkel der Nacht zerstoben. Am Morgen sah man düstere Mienen, traurige Blicke wurden ausgetauscht, lange Pausen der Mutlosigkeit traten ein. Schreckliche Gerüchte waren in Umlauf. Die schlimmen Nachrichten, welche die Anführer seit gestern geheimzuhalten vermochten, hatten sich verbreitet, ohne daß jemand gesprochen hätte, zugeflüstert durch jenen unsichtbaren Mund, der mit einem Atemzug den Schrecken unter die Menge wirft. Es wurden Stimmen laut, die behaupteten, Paris sei bezwungen, die Provinz habe sich auf Gnade und Ungnade unterworfen; diese Stimmen fügten hinzu, daß zahlreiche Truppen, die unter den Befehlen der Obersten Masson und Blériot von Marseille aufgebrochen waren, heranrückten, um die Aufständischen zu vernichten. Das war ein Zusammenbruch, ein Erwachen voll Zorn und Verzweiflung. Diese Männer, gestern noch in einem patriotischem Fieber glühend, erbebten jetzt in der großen Kälte, welche die schmachvolle Unterwerfung des Lanües verbreitete. So besaßen denn sie allein den Heldenmut der Pflicht. Sie waren jetzt verloren inmitten des Entsetzens aller, in der Totenstille ringsumher; sie wurden zu Aufrührern und sollten gleich wilden Tieren mit Kolbenstößen verjagt werden. Sie hatten von einem großen Kriege geträumt, von der Erhebung eines ganzen Volkes, von einem siegreichen Eroberungszuge des Rechtes. Jetzt, inmitten einer solchen Verlassenheit, einer solchen Auflösung beweinte dieses Häuflein Menschen seinen erstorbenen Glauben, seinen zerflatterten Traum von Gerechtigkeit. Es waren Leute in der Truppe, die unter Verwünschungen gegen das feige Frankreich ihre Waffen wegwarfen und am Rande der Straße sich hinsetzten mit der Erklärung, daß sie da die Kugeln des Feindes abwarten wollten, um zu zeigen, wie Republikaner sterben.

Obgleich diese Männer nur zwischen Verbannung und Tod die Wahl hatten, fanden sich nur wenige Fahnenflüchtige unter ihnen. Eine bewunderungswürdige Eintracht verband diese Horden. Der Ingrimm kehrte sich gegen die Anführer. Diese waren in der Tat unfähig. Unverbesserliche Fehler waren begangen worden; und die verlassenen, disziplinlosen Aufständischen, kaum durch einige Schildwachen geschützt, unter den Befehlen einiger unentschlossener Männer stehend, sahen sich jetzt den erstbesten Truppen, die sich zeigen würden, ausgeliefert.

Sie verweilten noch zwei Tage in Orchères, am Dienstag und Mittwoch, verloren so zwei Tage und erschwerten noch ihre Lage. Der General, der Mann mit dem Säbel, den Silvère seiner Freundin Miette auf der Straße nach Plassans gezeigt hatte, zögerte, gebeugt unter der Wucht der auf ihm lastenden furchtbaren Verantwortung. Am Donnerstag fand er, daß die Stellung in Orchères gefahrvoll sei. Gegen ein Uhr gab er den Befehl zum Aufbruch und führte seine kleine Schar auf die Höhen von Sainte-Roure. Es war dies übrigens eine uneinnehmbare Stellung für jemanden, der sie zu verteidigen wußte. Die Häuser von Sainte-Roure sind am Abhang eines Hügels erbaut; hinter der Stadt ist der Gesichtskreis von ungeheuren Felsblöcken abgeschlossen. Diese Art Hochburg ist nur von der Ebene von Nores aus zu ersteigen, die sich am Fuße des Plateaus ausbreitet. Ein Vorplatz, wo man einen mit herrlichen Ulmen bepflanzten Spazierweg angelegt hatte, beherrscht die Ebene. Auf diesem Vorplatz lagerten die Aufständischen. Die Geiseln sperrte man in dem Gasthofe »Zum weißen Maultier« ein, der mitten auf dem Vorplatz lag. Die Nacht war finster und beklemmend. Man sprach von Verrat. Der Mann mit dem Säbel, der die einfachsten Vorsichtsmaßnahmen verabsäumt hatte, hielt am frühen Morgen eine Schau über seine Truppen. Die einzelnen Abteilungen waren in langer Reihe aufgestellt mit dem Rücken gegen die Ebene in dem seltsamen Gemisch ihrer Trachten, braune Jacken, dunkle Röcke, blaue Blusen, durch rote Gürtel festgehalten; die bunt zusammengewürfelten Waffen, frisch geschliffene Sensen, breite Schaufeln, alte Jagdflinten, leuchteten in der winterlichen Sonne, als in dem Augenblicke, da der zeitweilige General seine kleine Armee abritt, ein Mann, den man in einem nahen Olivenfelde als Schildwache vergessen hatte, lebhaft gestikulierend herbeieilte, mit dem immerfort wiederholten Rufe: Die Soldaten! Die Soldaten!

 

Es entstand eine ungeheure Bewegung. Man glaubte anfangs an einen blinden Lärm. Alle Disziplin vergessend stürzten die Aufständischen vorwärts, bis zum Ende des Vorplatzes, um die Soldaten zu sehen. Die Reihen lösten sich. Und als die dunkle Linie der Truppe erschien, in gerader Haltung mit der schimmernden, breiten Linie der Bajonette hinter der Reihe grauer Olivenbäume hervorbrechend, trat eine Bewegung nach rückwärts ein, eine Verwirrung, die ein Erbeben des Schreckens durch die ganze Menge von einem Ende der Anhöhe bis zum andern jagte.

Inzwischen hatten die Abteilungen von La Palud und Saint-Martin-de-Vaux inmitten des Spazierweges sich wieder in Reih und Glied geordnet und standen in trotziger Entschlossenheit da. Ein Köhler, ein Riese, der alle seine Genossen überragte, schrie, seine rote Halsbinde schwingend: Zu uns her, ihr Leute von Chavanoz, Graille, Poujols, Saint-Eutrope! Hierher Tulettes und Plassans!

Es gab nun ein tolles Laufen auf dem Vorplatz. Der Mann mit dem Säbel, umgeben von den Leuten aus Faverolles, entfernte sich mit den Abteilungen von Vernoux, Corbière, Marsanne, Pruinas, um den Feind zu umgehen und in der Flanke zu fassen. Andere wieder, die Leute von Valqueyras, Nazère, Castel-le-Vieux, Roches-Noires, Murdaran, stürmten links davon, um sich als Schwarmlinie in der Ebene von Nores aufzulösen.

Während die Wandelbahn auf dem Vorplatze sich leerte, vereinigten sich alle die Flecken und Dörfer, die der Köhler zu Hilfe gerufen hatte, und diese Leute bildeten eine dunkle, unregelmäßige Masse, gegen alle Regeln der Kriegskunst gruppiert, aber hierhergewälzt wie ein Block, um den Weg zu versperren oder zu sterben. Plassans stand in der Mitte dieses heldenmütigen Bataillons. Unter den grauen Blusen und Jacken inmitten der bläulich schimmernden Waffen nahm sich der Mantel Miettens, die mit beiden Händen die Fahne hielt, wie ein breiter, roter Fleck aus, wie der Fleck einer frischen, blutenden Wunde.

Plötzlich war tiefe Stille eingetreten. An einem der Fenster der Herberge »Zum weißen Maultier« erschien das bleiche Haupt des Herrn Peirotte. Er sprach und gestikulierte.

Ziehen Sie sich zurück und schließen Sie die Fensterläden! riefen die Aufständischen wütend. Sie laufen Gefahr, erschossen zu werden.

Die Fensterläden wurden in aller Hast geschlossen, und man vernahm nichts mehr, als den gleichmäßigen Marsch der herannahenden Soldaten.

Eine lange, bange Minute verfloß. Die Truppe war jetzt einen Augenblick verschwunden; eine Erdfalte verbarg sie und bald bemerkten die Aufständischen von der Ebene her im Lichte der aufgehenden Sonne die Spitzen der Bajonette, die sich immer mehr näherten, immer größer werdend sich heranwälzten, gleich einem Weizenfelde mit stählernen Ährenspitzen. In diesem Augenblicke glaubte Silvère in dem Fieber, das ihn schüttelte, das Bild des Gendarmen vorbeischweben zu sehen, dessen Blut seine Hände gerötet hatte. Er hatte von seinen Kameraden erfahren, daß Rengade nicht gestorben war, daß er ihm nur ein Auge ausgestoßen hatte; und er sah ihn jetzt deutlich mit der leeren, blutigen, schrecklichen Augenhöhle. Der quälende Gedanke an diesen Menschen, den er seit seinem Aufbruch von Plassans nicht gesehen, war ihm unerträglich. Er fürchtete, daß er Angst haben könne und drückte heftig seine Waffe an sich, die Augen von einem Nebel verschleiert, vor Begierde brennend, seine Waffe abzuschießen und so das Bild des Einäugigen zu verscheuchen. Die Bajonette kamen langsam immer näher.

Als die Köpfe der Soldaten am Rande des Vorplatzes auftauchten, wandte sich Silvère mit einer instinktiven Bewegung zu Miette. Größer geworden, mit rosig glühendem Antlitze stand sie neben ihm, in die Falten der roten Fahne gehüllt. Sie stellte sich auf die Fußspitzen, um die herannahende Truppe besser zu sehen. Ihre Nasenflügel zitterten in nervöser Erwartung; ihre weißen Wolfszähnchen schimmerten zwischen den roten Lippen. Silvère lächelte ihr zu. Noch hatte er den Kopf nicht von ihr gewandt, als Gewehrfeuer knatterte. Die Soldaten, von denen man erst die Schultern sah, hatten die erste Salve abgegeben. Es schien Silvère, als sei ein heftiger Windstoß über seinen Kopf hinweggefahren, während eine Menge welker Blätter, durch die Kugeln getroffen, von den Ulmen niederfielen. Ein dumpfes Geräusch, wie wenn ein schwerer Ast zu Boden fällt, ließ ihn zur Seite blicken. Er sah den großen Köhler, den Mann, der alle übrigen überragte, am Boden liegen. Er hatte ein kleines schwarzes Loch in der Mitte der Stirne. Nun schoß Silvère seinen Karabiner ab, ohne zu spielen, lud und schoß von neuem. All das sah er wie ein Rasender, wie ein wildes Tier, das an nichts denkt, das nur töten will. Er sah die Soldaten nicht mehr; unter den Ulmen schwebte Pulverdampf gleich Fetzen grauer Musseline. Es regnete noch immer dürres Laub auf die Häupter der Aufständischen; die Soldaten schossen zu hoch. Inmitten des Geknatters vernahm der junge Mensch zuweilen einen Seufzer, ein dumpfes Röcheln; dann entstand in der kleinen Schar ein Drängen, wie um dem Unglücklichen Platz zu machen, der fiel und sich an die Schultern seiner Nachbarn klammerte. Das Feuer währte schon zehn Minuten.

Da schrie zwischen zwei Salven plötzlich ein Mann: Rette sich wer kann! Ein fürchterlicher Ausdruck des Schreckens lag in diesem Rufe. Es wurden wilde Scheltworte laut; einzelne Stimmen brummten: O, die Feiglinge! Unheilvolle Gerüchte gingen durch die Reihen; der General sei geflohen, die Kavallerie säble die in der Ebene zerstreuten Plänkler nieder. Und das Gewehrgeknatter hörte nicht mehr auf; es folgte Salve auf Salve, mit plötzlich aufblitzenden Flammen den Pulverdampf rötend.

Eine rauhe Stimme verkündete wiederholt, man müsse hier auf dem Fleck sterben. Aber die andere, die von der Furcht gepreßte Stimme, schrie lauter: Rette sich wer kann! Einzelne Männer entflohen, indem sie ihre Waffen von sich schleuderten und über die Toten hinwegsprangen. Die anderen rückten zusammen. Es waren noch zehn Aufständische da; zwei flüchteten alsbald und von den übrigen lagen bei der nächsten Salve drei getroffen am Boden.

Die beiden Kinder waren unwillkürlich da geblieben, ohne die Vorgänge zu begreifen. In dem Maße, als die Schar kleiner ward, hielt Miette ihre Fahne immer höher; mit geschlossenen Fäusten hielt sie sie wie eine große Kerze aufrecht vor sich. Die Fahne war schon von Kugeln durchlöchert. Als Silvère keine Munition mehr in der Tasche hatte, hörte er auf zu schießen und betrachtete mit blöder Miene sein Gewehr. In diesem Augenblick zog ein Schatten an seinem Antlitze vorüber, wie wenn ein Riesenvogel mit einem Flügelschlag seine Stirne gestreift hätte. Als er die Augen aufhob, sah er die Fahne den beiden Händen Miettes entsinken. Beide Hände auf die Brust gepreßt, mit zurückgesunkenem Haupte und einem furchtbaren Ausdrucke des Schmerzes drehte das Mädchen sich langsam herum. Ohne einen Schrei auszustoßen sank sie auf die rote Fahne nieder.

Auf! Erhebe dich! Komm schnell! rief Silvére ihr die Hand reichend. Er hatte nunmehr den Kopf verloren.

Allein Miette blieb mit weit geöffneten Augen auf dem Boden liegen, ohne ein Wort hervorzubringen. Er begriff und warf sich vor ihr auf die Knie nieder.

Du bist verwundet? Sprich! Wo bist du verwundet?

Sie antwortete nicht; von einem kurzen Frösteln geschüttelt, sah sie ihn mit ihren großen Augen an. Er zog ihre Hände von der Brust und fragte:

Ist's hier?

Dann zerriß er ihr Leibchen und legte ihre Brust bloß. Er suchte, sah aber nichts. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Endlich entdeckte er unter der linken Brust ein kleines rotes Loch; ein einziger Blutstropfen hing an der Wunde.

Es wird nichts sein, stammelte er. Ich will Pascal aufsuchen; er wird dich gesund machen. Wenn du nur aufstehen könntest… Kannst du dich nicht erheben?

Die Soldaten schossen nicht mehr. Sie stürzten nach links davon, um sich auf die Abteilungen zu werfen, die der Mann mit dem Säbel weggeführt hatte. Auf dem leeren Vorplatz war niemand mehr da außer Silvère, der bei Miette am Boden kniete. Mit einer Hartnäckigkeit der Verzweiflung hatte er sie in seine Arme genommen. Er wollte sie aufrichten; allein das Kind ward von dem Schmerze dermaßen geschüttelt, daß er sie wieder auf den Boden legen mußte.

Sprich zu mir, flehte er. Warum sagst du mir nichts?

Sie konnte nicht sprechen. Langsam bewegte sie die Hände, um anzudeuten, daß es nicht ihre Schuld sei. Unter der Gewalt des Todes verdünnten sich bereits ihre zusammengekniffenen Lippen. Mit aufgelöstem Haar, das Haupt in die roten Falten der Fahne gehüllt, lag sie da, und es lebten nur mehr die Augen an ihr, diese schwarzen Augen, die in dem weißen Gesichte leuchteten. Silvère schluchzte. Die Blicke dieser großen, schmerzerfüllten Augen taten ihm weh. Er las darin ein grenzenloses Bedauern um das Leben. Miette sagte ihm mit diesen Blicken, daß sie allein von hinnen scheiden müsse vor ihrer Vereinigung, noch ehe sie sein Weib geworden; sie sagte ihm weiter, daß er es so gewollt und daß er sie hätte lieben sollen, wie alle Burschen die Mädchen lieben. In ihrem Todeskampfe, in diesem schweren Ringen ihrer starken Natur mit dem Tode, beweinte sie ihre Jungfernschaft. Silvère lag über sie gebeugt und begriff das bittere Schluchzen dieses glühenden Fleisches. Er hörte aus der Ferne die drängenden Bitten der alten Gebeine; er erinnerte sich der Liebkosungen, die in der verflossenen Nacht, am Rande der Straße, ihre Lippen versengt hatten; sie hatte sich an seinen Hals gehängt und die ganze Liebe gefordert und er hatte es nicht begriffen und ließ sie als Kind von hinnen ziehen, verzweifelt darüber, die Wonnen des Lebens nicht genossen zu haben. In seiner Trostlosigkeit, daß sie nichts als das Andenken an einen Schulknaben, an einen Spielgenossen von ihm mitnehmen sollte, küßte er ihre jungfräuliche Brust, diese reine und keusche Brust, die er enthüllt hatte. Dieser bebende Leib, diese bewunderungswürdige Reife des Mädchens war ihm unbekannt geblieben. Die Zähren benetzten ihm die Lippen. Er preßte den blutenden Mund auf die Haut des Kindes. Diese Küsse des Liebhabers ließen eine letzte Freude in den Augen Miettens aufleuchten. Sie liebten sich, und ihre Idylle fand im Tode ihre Lösung.

Doch er konnte nicht glauben, daß sie sterben solle.

Nein, du wirst sehen, es ist nichts, sagte er. Sprich nicht, wenn du leidest. Wart', ich will dir den Kopf stützen, dann werde ich dich erwärmen, deine Hände sind eiskalt. In den Olivenfeldern links begann das Schießen wieder. Aus der Ebene von Nores war das dumpfe Geräusch der galoppierenden Reiterei zu vernehmen. Von Zeit zu Zeit hörte man ein Schreckensgeheul, wie von Menschen, die erwürgt werden. Dichte Rauchwolken zogen daher, unter den Ulmen des Vorplatzes hin. Allein Silvère sah und hörte nichts mehr. Pascal, der nach der Ebene hinabeilte, bemerkte ihn, wie er am Boden lag, und näherte sich, weil er ihn verwundet glaubte. Als der junge Mensch ihn erkannt hatte, klammerte er sich an ihn und zeigte ihm Miette.

 

Sehen Sie, sprach er; sie ist verwundet, da, unterhalb der Brust. Ach, wie gütig sind Sie, daß Sie gekommen sind! Sie werden sie retten.

In diesem Augenblicke ging ein leichtes Zucken durch den Leib der Sterbenden. Ein schmerzlicher Schatten flog über ihr Antlitz und zwischen ihren Lippen, die sich jetzt öffneten, stieß sie einen leichten Hauch hervor. Ihre Augen blieben weit offen auf dem jungen Manne haften.

Pascal, der sich herabgebeugt hatte, richtete sie auf und sagte:

Sie ist tot.

Tot! Silvère wankte bei diesem Worte. Er hatte sich auf den Knien aufgerichtet und sank jetzt zurück, wie umgeworfen durch den schwachen Hauch Miettens.

Tot! Tot! wiederholte er. Das ist nicht wahr; sie schaut mich doch an. Sehen Sie nicht, daß sie mich anschaut?

Er faßte den Arzt bei seinem Rocke, beschwor ihn, sich nicht zu entfernen, beteuerte ihm, daß er sich täusche, daß sie nicht tot sei und daß er sie retten werde, wenn er nur wolle. Pascal wehrte sanft ab und sagte in teilnahmvollem Tone:

Ich kann nichts mehr tun; andere heischen meine Hilfe. Laß ab, mein armes Kind; sie ist tot. Er ließ ihn ziehen und sank zu Boden. Tot! Tot! Abermals dieses Wort, das wie der Schall einer Totenglocke in seinem leeren Schädel widerhallte. Als er allein war, schleppte er sich zur Leiche hin. Miette schaute ihn noch immer an. Da warf er sich auf sie und wälzte sein Haupt auf ihrem entblößten Busen und badete ihren Leib in seinen Tränen. Er verfiel schier in Wahnsinn, drückte wütend seine Lippen auf die beginnende Rundung ihres Busens und hauchte in einem Kusse sein Fieber, sein Leben ein, wie um sie wieder zu erwecken. Aber das Kind wurde unter seinen Küssen immer kälter. Er fühlte, wie dieser Körper schlaff und leblos in seinen Armen lag. Ihn erfaßte ein Grausen; mit verstörtem Antlitz, kraftlos herabhängenden Armen hockte er da und wiederholte immerfort:

Sie ist tot, aber sie schaut mich an; sie schließt nicht die Augen, sie sieht mich immer an.

Dieser Gedanke erfüllte ihn mit unsagbarer Freude. Er rührte sich nicht mehr. Er tauschte mit Miette einen langen Blick, um noch einmal in ihren Augen, die der Tod noch vertiefte, das letzte Bedauern des Kindes zu lesen, das seine Jungfernschaft beweint.

Inzwischen hieb die Reiterei in der Ebene noch immer auf die Flüchtlinge ein; der Galopp der Pferde, das Geschrei der Sterbenden entfernte sich immer mehr und drang schwächer herüber gleich den Klängen einer Musik, die in der klaren Luft lange zu hören ist. Silvère wußte nicht mehr, daß man sich da unten schlage. Er sah seinen Vetter nicht, der den Hügel heraufkam und abermals über den Vorplatz ging. Im Vorbeigehen hob Pascal den Karabiner Macquarts auf, den Silvère weggeworfen hatte; er kannte die Waffe, weil er sie bei Tante Dide über dem Kamin hatte hängen sehen; er wollte sie vor den Händen der Sieger bergen. Kaum hatte er die Herberge »Zum weißen Maultier « betreten, wohin man eine große Anzahl von Verwundeten geschafft hatte, als ein Schwärm Aufständischer, von den Gendarmen gleich einem Rudel wilder Tiere gehetzt, den Vorplatz überflutete. Der Mann mit dem Säbel hatte Reißaus genommen; auf die letzten Abteilungen der Landleute wurde Jagd gemacht. Es gab ein entsetzliches Gemetzel. Es war vergebens, daß der Oberst Masson, sowie Blériot, von Mitleid ergriffen, den Rückzug anordneten. Die Soldaten fuhren fort wütend in den Knäuel zu schießen, die Fliehenden mit ihren Bajonetten an die Mauern zu spießen. Als sie keine Feinde mehr vor sich hatten, durchlöcherten sie mit ihren Kugeln die Mauer der Herberge »Zum weißen Maultier«. Die Fensterläden gingen in Trümmer; ein halb offen gebliebenes Fenster wurde mit lautem Klirren heruntergerissen. Im Innern riefen jammernde Stimmen: »Die Gefangenen! Die Gefangenen!« Allein die Soldaten hörten nichts; sie fuhren fort zu schießen. Einen Augenblick sah man den Major Sicardot verzweifelt auf der Schwelle erscheinen und unter lebhaften Armbewegungen sprechen. Neben ihm zeigte der Steuereinnehmer, Herr Peirotte, seinen schmächtigen Leib, sein erschrockenes Gesicht. Es ertönte noch eine Entladung und Herr Peirotte stürzte nieder, das Antlitz dem Boden zugekehrt.

Silvère und Miette betrachteten einander noch immer. Der junge Mann hatte in seiner Stellung – über die Tote gebeugt – verharrt, inmitten des Schießens und des Stöhnens der Sterbenden, ohne auch nur den Kopf zu wenden. Er merkte nur, daß Männer in der Nähe seien und von einem Gefühl der Scham ergriffen, breitete er die rote Fahne über Miette, um ihre nackte Brust zu verdecken. Dann fuhren sie fort, einander anzusehen.

Doch der Kampf war jetzt zu Ende. Die Ermordung des Steuereinnehmers hatte die Soldaten befriedigt. Einzelne suchten noch alle Winkel des Vorplatzes ab, damit ihnen kein einziger Aufständischer entgehe. Ein Gendarm, der Silvère unter den Ulmen bemerkte, lief herbei, und als er sah, daß er es mit einem Kinde zu tun habe, fragte er:

Was machst du da, Junge?

Silvère gab keine Antwort; die Augen auf Miettens offen starre Augen gerichtet, hockte er da.

Ha, der Bandit! Seine Hände sind von Pulver geschwärzt! rief der Mann, der sich herabgeneigt hatte. Auf, auf, Hundsfott! Deine Rechnung ist fertig!

Als Silvère, auf dessen Lippen ein Lächeln schwebte, sich noch immer nicht rührte, bemerkte der Mann, daß die Leiche auf der Fahne die eines Weibes sei.

Eine hübsche Dirne, fürwahr! rief er. Es ist schade um sie. Es war wohl deine Metze, Lumpenkerl?

Und er fuhr mit einem rohen Gelächter fort:

Auf! Vorwärts! Sie ist tot, du wirst doch nicht bei ihr schlafen wollen!

Er zerrte Silvère empor, brachte ihn auf die Beine und führte ihn hinweg, wie man einen Hund an einer Pfote nachschleppt. Silvère ließ sich wortlos wegführen, gefügig wie ein Kind. Er wandte sich um und betrachtete Miette. Er war trostlos, sie so allein, unter den Bäumen zurücklassen zu müssen. Aus der Ferne sah er sie ein letztes Mal. Keusch und starr blieb sie da liegen, in die rote Fahne gehüllt, das Haupt leicht vorgeneigt. Und die weit offenen Augen starrten ins Leere.