Loe raamatut: «UNTERNEHMEN(S)GESUNDHEIT», lehekülg 2

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In unseren Ausführungen beginnen wir zunächst mit einer gesundheitswissenschaftlichen Analyse über Hintergründe, Situation und Auswirkungen des Phänomens Psychische Störungen im Kontext Arbeit. Der Umgang mit psychisch Erkrankten, gesellschaftspolitische und unternehmensbezogene Auswirkungen sowie deren Dimensionen und Ebenen werden beleuchtet und interpretiert.

Wir wollen das Themenfeld »Psychische Störungen im Arbeitsgeschehen« nicht nur mit seinen Symptomen, sondern in Verbindung mit bereits bestehenden Strategien der Gesundheitsprävention in Unternehmen betrachten. Hier liegen unseres Erachtens Ressourcen für den Umgang mit psychischen Störungen im Arbeitsgeschehen. Den Umgang und die Ansiedlung von Gesundheitsförderung in unternehmerischen Strukturen zu hinterfragen bietet Ansatzpunkte für die Entwicklung erfolgreicher Strategien für eine gesundheitsförderliche Unternehmenskultur. Deshalb setzen wir uns anschließend mit dem konkreten Erleben von Arbeits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen auf der Grundlage der qualitativen Analyse von Sichtweisen unterschiedlicher betrieblicher Akteure deutscher Dienstleistungsunternehmen kommunikationspsychologisch auseinander. Dann verdeutlichen wir, warum das Thema (psychische) Gesundheit in einen systemischen Rahmen zu setzen ist. Im vorletzten Kapitel folgen Handlungsableitungen für die unternehmerische Praxis. Hier gehen wir zunächst auf primärpräventive Strategien ein, zeigen beispielhaft Möglichkeiten der Kommunikationsgestaltung in betrieblichen Kontexten auf und begründen die Vorteile der dargestellten Vorgehensweisen. Wir leiten Fragestellungen und Handlungsmöglichkeiten für die unterschiedlichen Ebenen, Organisationseinheiten und Akteure zur betrieblichen Auseinandersetzung mit dem Thema Gesundheit und Gesundheitsförderung ab. Da Restrukturierungsprozesse zu einem erhöhten Risiko von psychischen Störungen führen können, zeigen wir auf, wie im Rahmen von betrieblichen Veränderungsprozessen eine gesundheitsgerechte Kommunikationskultur auf der Grundlage salutogenetischer Gestaltungsprinzipien umgesetzt und psychischen Fehlbelastungen entgegengewirkt werden kann. Abschließend werden Gestaltungsmöglichkeiten einer gesundheitsgerechten Kommunikationskultur für den Umgang und die Gesprächsführung mit psychisch auffälligen Mitarbeitern vorgestellt. Mit unseren abschließenden Fragestellungen im letzten Teil möchten wir den Leser inspirieren, das bisher Gelesene an eigenen Haltungen und Werten zu spiegeln und mit sich in einen inneren Dialog zu treten.

Gesundheit in Unternehmen
Situation und Auswirkungen

Psychische Erkrankungen sind eines der drängendsten Probleme in der Arbeitswelt und kosten Unternehmen und Sozialversicherungen Milliarden

(…)

Jetzt ist es höchste Zeit, dass wir auch bei den psychischen

Belastungen voran kommen.

(Ursula von der Leyen am 29.1.2013 in Berlin, Pressemitteilung BMAS)

Anfang des Jahres 2013 forderte die ehemalige Bundesministerin für Arbeit und Soziales auf einer Tagung der Gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie Gesellschaft, Wirtschaft, Krankenkassen und Unfallversicherungsträger auf, der Zunahme psychischer Erkrankungen bei der Arbeit den Kampf anzusagen. Die fast genau ein Jahr später veröffentlichte Studie der Bundestherapeutenkammer zur Frühverrentung aufgrund psychischer Erkrankungen belegt den Handlungsdruck für präventive Maßnahmen zur Minimierung psychischer Fehlbeanspruchungen in deutschen Unternehmen. Nicht zuletzt findet das Thema der psychischen Gesundheit bei der Arbeit Eingang in den Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD nach der Bundestagswahl 2013. Die Gesundheits- und Sozialsysteme halten dem Ansturm psychisch kranker Menschen kaum stand, weder hinsichtlich finanzieller Ressourcen in den öffentlichen Kassen noch personeller und institutioneller Möglichkeiten zur Therapie und Rehabilitation der Betroffenen (vgl. BPtK 2014).

Die Begriffe »psychische Belastung«, »psychische Beanspruchung«, »psychische Fehlbeanspruchung« und »psychische Störung« werden häufig im gleichen Atemzug genannt und daher nicht selten undifferenziert verwendet. Tatsächlich unterscheiden sie sich aber in ihrer Bedeutung erheblich:

Unter Psychischer Belastung wird die »Gesamtheit der erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und auf ihn psychisch einwirken« verstanden (DIN EN ISO 100 75-1: 2000). Dies kann im Einzelnen bspw. Zeit- und Termindruck, Lärm, Raumluft, Überforderung, Unterforderung, Informationsflut, Zeitdruck, ständige Unterbrechungen, schlechtes Betriebsklima, Führungsverhalten, o. ä. sein.

Als Psychische Beanspruchung bezeichnet man die zeitlich »unmittelbare (nicht die langfristige) Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von seinen jeweiligen überdauernden und augenblicklichen Voraussetzungen, einschließlich der individuellen Bewältigungsstrategien« (DIN EN IS0 100 75-1: 2000). Dies bedeutet, dass es bei scheinbar gleichen Belastungen von außen zu sehr individuellem Belastungserleben beim Einzelnen kommt. Dieser Aspekt ist mit Blick auf das Thema »Gesundheitsgerechte Kommunikation« (auf den Begriff gehen wir auf S. 131 ff. ein) von entscheidender Bedeutung, da deutlich wird, dass eine gesundheitsgerechte Kommunikation immer auch individuell geführt werden muss. Werden psychische Beanspruchungen nicht hinreichend ausgeglichen, können während des Arbeitsprozesses oder danach negative Beanspruchungsfolgen (erhöhter Blutdruck, Ermüdung, depressive Verstimmungen, …) auftreten.

Während es sich bei den Begriffen »Psychische Belastung« und »Psychische Beanspruchung« zunächst um wertneutrale Definitionen handelt, wird unter der Psychischen Fehlbeanspruchung die Folge einer dauernden Fehlbelastung verstanden. Psychische Belastungen werden also dann als Fehlbelastungen bezeichnet, wenn sie zu negativen Beanspruchungen und Folgen führen. Es kann daher erst aufgrund der Belastungsfolgen gesagt werden, ob eine Belastung auch eine Fehlbelastung ist. Die langfristigen Folgen von psychischer Fehlbeanspruchung zeigen sich häufig in gesundheitlichen Beschwerden und Krankheiten wie bspw.:

– Herz-/Kreislauferkrankungen,

– Magen- und Darmbeschwerden und -erkrankungen,

– Muskel- und Skeletterkrankungen,

– psychische Störungen (z. B. Depressionen, Neurosen, Nervosität, Angstzustände, Konzentrationsstörungen, Suchtverhalten u. a.),

– Hörsturz,

– einem schwachen Immunsystem (begünstigt Infektionskrankheiten wie Erkältungen, aber auch Krebs),

– einem höheren Schmerzerleben (kann sich u. a. in Kopf- und Migräneattacken sowie Rückenschmerzen zeigen).

Liegt eine psychische Störung vor, dann sind viele Lebensbereiche, Verhaltens- und Erlebnismuster eines Menschen betroffen, was dazu führt, dass seine Leistungsfähigkeit und -bereitschaft stark beeinträchtigt ist. Dieser Zustand kann, muss aber nicht das Resultat von Fehlbeanspruchungen sein. Eine genaue Beurteilung und Diagnose kann daher nur von fachärztlicher Seite erfolgen. Die Bezeichnungen »psychische Erkrankung« und »psychische Störung« werden umgangssprachlich oft sinngleich verwendet, obwohl sich in der fachärztlich-psychiatrischen Diagnostik inzwischen durchgesetzt hat, nur noch von »psychischer Störung« zu sprechen (vgl. Riechert 2011, 7). Beide Begriffe sind aber keine wertneutralen Bezeichnungen, denn sie tragen den Charakter von sozialen Urteilen und Bewertungen in sich. In beiden Fällen werden eher negative Assoziationen ausgelöst, unabhängig davon ob ein Mensch als »psychisch krank« oder »psychisch gestört« bezeichnet wird.

Was führt nun zu psychischen Fehlbelastungen und auf Dauer zu psychischen Erkrankungen bei der Arbeit? Die Fehlzeitenreporte der letzten Jahre identifizieren im Wesentlichen folgende Aspekte als Ursachen:

• Führungsverhalten bzw. Kommunikationsverhalten Vorgesetzter (Badura et al. 2011),

• Flexibilisierung der Arbeitswelt (Badura et al. 2012).

Beide Faktoren existieren nicht im »luftleeren Raum«. Sie sind Ergebnis und gleichzeitig Ursache eines sich stetig im Prozess befindenden und auf höherem Niveau antreibenden Zyklus’, den berufstätige Menschen als Schnelligkeit, Kurzlebigkeit und Atemlosigkeit erleben. Ursache dafür ist eine gesellschaftliche Wirtschaftskultur, die auf Wettbewerb und (möglichst lineares) Wachstum setzt. Der Einsatz »neuer Medien« in modernen Unternehmen verändert das Kommunikationsverhalten zwischen Organisationseinheiten und auch die Beziehungsgestaltung zwischen den Interaktionspartnern enorm. Eine mangelhafte Beziehungsgestaltung zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern führt zu psychischen Beeinträchtigungen und auf Dauer zu gesundheitlichen Beschwerden.


Abb. 1: Kommunikationsverhalten Vorgesetzter als Ursache gesundheitlicher Beschwerden von Mitarbeitern (Daten für Diagramm entnommen aus wIdo 2012, 3)

Weiterhin konnte auf der Grundlage von Datenerhebungen der gesetzlichen Krankenkassen im Fehlzeitenreport 2011 unter der Schwerpunktsetzung Führung und Gesundheit folgendes nachgewiesen werden:

• Je weniger das Vorgesetztenverhalten mitarbeiterorientiert ist, desto stärker sind die Symptome Verspannungen, Kopfschmerzen, Erkältungen, Schlafstörungen, Kreislaufstörungen, Mutlosigkeit bei Beschäftigten (in diesem Ranking) ausgeprägt (vgl. Gunkel et al. 2011, 124).

• Die Auswertung von 693 Gesprächsprotokollen von Mitarbeitern, die ihre Gespräche anhand eines vorgegebenen Leitfadens selbst protokolliert hatten, ergab, dass jedes fünfte Gespräch mit dem Vorgesetzten als selbstwertbedrohlich erlebt wurde, auch wenn es nur um die Übermittlung von Informationen ging (vgl. Eillies-Matthiessen / Scherer 2011, 20).

• Ein als kalt, aggressiv, überheblich erlebter Vorgesetzter löst Wut, Empörung und Kränkung bei Mitarbeitern aus. Rachestrategien als Bewältigungsform durch Zurückhalten wichtiger Informationen, Verschwendung von Arbeitsmaterial, Diebstahl und Streuen von Gerüchten durch betroffene Mitarbeiter sind die betrieblichen Folgen (vgl. ebd.).

• Negative emotionale Situationen im betrieblichen Alltag werden intensiver erlebt als positive (vgl. ebd.).

• Glaubwürdigkeit als grundsätzlich positives Merkmal von Vorgesetzten wirkt in Verbindung mit negativer Kritik am Mitarbeiter verstärkend (vgl. ebd.). Wird beispielsweise einem Vorgesetzten aufgrund der Verlässlichkeit seines Urteilsvermögens in anderen Zusammenhängen Respekt, Achtung und Vertrauen entgegengebracht, wiegt für den betroffenen Mitarbeiter eine sachlich vorgetragene Kritik durch den Vorgesetzten umso dramatischer und kann schneller als eigenes Versagen empfunden werden. Die Vorgesetzten-Mitarbeiter-Beziehung ist kein »Nullsummenspiel«. Kränkendes Verhalten wird nicht durch anschließend positive Äußerungen wieder aufgehoben, aber Wertschätzung und Anerkennung schaffen »Puffer« (vgl. ebd.).

Die Beziehungsgestaltung zwischen Führungskräften und Mitarbeitern wird aus unserer Sicht häufig aufgrund eines mangelnden Bewusstseins über die Bedeutung der zwischenmenschlichen Interaktion für Wohlbefinden, Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit in allen Führungsebenen vernachlässigt. Ein weiterer Aspekt ist der subjektiv empfundene oder tatsächlich vorhandene Zeitmangel von Führungskräften aufgrund anderer operativer Aufgaben.

Prävalenz psychischer Störungen und Entwicklung der Arbeitsunfähigkeitstage

Ausgelöst durch die Betroffenheit bekannter Personen wie die Sportler Robert Enke, der sich im November 2009 in Folge seiner Depression suizidierte, oder Sven Hannawald und Sebastian Deisler wurde die Thematik zunehmend in den Medien und der Öffentlichkeit diskutiert. »Jeder vierte Arbeitnehmer leidet an einer psychischen Erkrankung«, so eine Titelzeile der Süddeutschen Zeitung im Dezember 2009. Ganz so dramatisch war es jedoch nicht, denn im Weiteren wurde darauf hingewiesen, dass es sich nicht um einen aktuellen Zustand handelt, sondern bei 25 Prozent der Beschäftigten mindestens einmal im Laufe des Berufslebens vorkommt.

Nicht nur für die Betroffenen, auch für die Solidargemeinschaft bekommt die Angelegenheit eine immer größere Bedeutung. Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind beträchtlich, denn »höher als die Krankheitskosten aufgrund von psychischen und Verhaltensstörungen liegen in Deutschland nur noch die Kosten für Krankheiten des Kreislaufsystems und des Verdauungssystems« (Böhm / Cordes 2010, 51). Wie schon erwähnt, sind inzwischen psychische Störungen der häufigste Grund für krankheitsbedingte Frühberentung. Bei der Verteilung der Arbeitsunfähigkeitstage nach Krankheitsarten (siehe Abb. 2) liegen sie mit 14,6 Prozent nach Erkrankungen des Muskel-/ Skelettsystems und des Atmungssystems an dritter Stelle.

Bei der Verteilung innerhalb der einzelnen Krankheitsbilder lassen sich signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede feststellen: Frauen fehlen deutlich häufiger wegen psychischer Störungen als Männer und sie sind von psychischen Belastungs- und somatoformen Störungen (unklare körperliche Beschwerden) wie affektiven Störungen (z. B. Depression) stärker betroffen als Männer. Wohingegen bei Männern psychische Verhaltensstörungen und der Gebrauch von psychotropen Substanzen, insbesondere Alkohol und Tabak, weiter verbreitet sind. Bei den vier wichtigsten Diagnosegruppen wurde für die Versicherten der AOK für das Jahr 2008 festgestellt, dass bei den »Psychischen Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (z. B. Alkoholabhängigkeit) die deutlichsten Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestehen. Der Anteil dieser Störungen an der Gesamtanzahl psychischer Störungen ist hier bei Männern um ca. viermal höher als bei Frauen, was sich leicht mit dem deutlich höheren Konsum von Alkohol und Nikotin (DHS 2010) erklären lässt.


Abb. 2: Rangfolge der Erkrankungen (Daten entnommen aus Gesundheitsreport DAK 2013)

Einen weiteren Grund für die Unterschiede bei den Diagnosen zwischen den Geschlechtern sehen Lademann und Kolip in dem unterschiedlichen Verhalten bei Diagnosestellung. Männer sprechen deutlich seltener über ihre Ängste und Sorgen als Frauen. Daher werden bei ihnen organische Ursachen eher vermutet (Lademann / Kolip 2008) und diagnostiziert. Bei Männern kommt es daher häufiger zu einer Unterdiagnostizierung von psychischen Störungen.

Insgesamt haben sich die Arbeitsunfähigkeitsfälle aufgrund psychischer Störungen von 1997 bis 2008 verdoppelt (Heyde / Macco 2010, 33). Damit einhergehend erhöhten sich auch die diesbezüglichen Kosten. Im Jahr 2006 wurden für die Behandlung von psychischen und Verhaltensstörungen in Deutschland 26,7 Mrd. Euro aufgewendet (Böhm / Cordes 2010, 52). Neben den direkten Krankheitskosten entstanden auch noch Kosten bzw. volkswirtschaftliche Verluste für verlorene Erwerbstätigkeitsjahre wegen Arbeitsunfähigkeit, Invalidität und vorzeitigem Tod der potenziell Erwerbstätigen. Diese lagen kalkulatorisch im o. g. Zeitraum bei 638.000 verlorenen Erwerbsfähigkeitsjahren und nahmen damit hinter den Verlusten in der Gruppe der Verletzungen und Vergiftungen den zweiten Rang ein. Invalidität war in 70 Prozent der Fälle bei den psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen Ursache für verlorene Erwerbsfähigkeitsjahre. Der Anteil der Frauen lag bei 41 Prozent, der der Männer bei 59 Prozent (vgl. ebd., 56 f.). Bei keiner anderen Krankheitsklassifikation lag der Anteil höher.

Bei den Krankheitskosten für psychische Störungen können ebenfalls Unterschiede festgestellt werden. Laut Angaben des Statistischen Bundesamtes entfielen im Jahr 2006 etwa 63 Prozent dieser Gesamtkosten auf Frauen und 37 Prozent auf Männer. Dieser Unterschied kam allerdings in erster Linie aufgrund der großen Populationsdiskrepanz in der Gruppe der über 65-Jährigen zustande. Angesichts der höheren Lebenserwartung gab es in Deutschland im o. g. Zeitraum 2,7 Millionen mehr Frauen als Männer (ebd., 53). Auch die unterschiedliche Inanspruchnahme des Gesundheitswesens von Frauen und Männern ist nachgewiesen (Bardehle / Stiehler 2010) und kommt als Ursache in Frage. In der Gruppe der unter 65-Jährigen konnten keine bedeutsamen Unterschiede in den Krankheitskosten für psychische Störungen bei Männern und Frauen festgestellt werden.

Insgesamt konnte in den vergangenen Jahren belegt werden, dass die Krankheitstage von Mitarbeitern eher rückläufig waren (TK 2012 33). Für den Bereich der psychischen Störungen gilt dies jedoch nicht. Hier hat sich zum Beispiel bei AOK-Mitgliedern zwischen 2004 und 2014 ein dramatischer Anstieg von 74,1 Prozent ergeben (vgl. Abb. 3).

Bei den Arbeitsunfähigkeitszeiten lässt sich eine kontinuierliche Steigerung bei den psychischen Störungen feststellen. Im Jahr 2008 wurden die durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage) pro Einzelfall mit 40,5 Tagen nur noch von Neubildungen (Krebserkrankungen) mit 42,2 Tagen übertroffen (vgl. BEK 2010 12). Während bei den Neubildungen keine Steigerungen von 2007 auf 2008 zu verzeichnen waren, lassen sich für die Gruppe der psychischen Störungen für diesen Zeitraum Steigerungsraten von 10,7 Prozent feststellen (2007 = 35,3 Tage, 2008 = 39,1 Tage). Im Jahr 2010 lag die durchschnittliche Erkrankungsdauer je Fall bei psychischen und Verhaltensstörungen erstmals über der der Neubildungen (Barmer GEK 2011, 76; DRV 2012, 88).

Damit ist die Erkrankungszeit bei diesem Störungsbild je Einzelfall inzwischen am längsten.


Abb. 3: Relative Veränderung der AU-Tage bei AOK-Mitgliedern in Prozent (Meyer et al., 2015, 370)

In Dienstleistungsberufen Tätige sind von psychischen Störungen im Vergleich zu anderen Berufsgruppen besonders betroffen. Nach Angaben der AOK, BKK und DAK lässt sich hier ein überproportional hoher Anteil an AU-Tagen verzeichnen. Dies trifft hauptsächlich auf die Arbeitsbereiche Gesundheit und Soziales sowie Banken und Versicherungen zu (vgl. Lademann et al. 2006, 126).

In vielen internationalen Studien wird auf die besondere Vulnerabilität von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen für psychische Störungen hingewiesen (WHO 2000, Lorant et al. 2003). Der Bundes-Gesundheitssurvey 1998 belegt, dass in Deutschland Menschen mit niedrigem sozialen Status häufiger an psychischen Störungen wie depressiven Erkrankungen, Angststörungen und substanzbezogenen Störungen leiden als Menschen mit einem höheren Sozialstatus (RKI 2005, 14 ff., Jacobi et al. 2004). Ähnliches wird durch die Ergebnisse der GEDA-Studie 2009 bestätigt, die einen deutlichen Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und Bildungsstand, Einkommen und beruflicher Position zeigen (RKI 2011, 9).

Über die Ursachen für den enormen Anstieg psychischer Störungen existieren überaus unterschiedliche Standpunkte und Zuschreibungen (DAK 2005, Lademann et al. 2006). Kentner (1999) verweist zunächst auf die Ungenauigkeit der Diagnostik, da es sich »im Prinzip … bei der Krankschreibung um einen Aushandlungsprozess zwischen Patient und Arzt« (ebd., 453) handelt. Er meint sogar, »bei bösartiger Interpretation kann man die Krankschreibung als kostenlose Marketing-Maßnahme für den Arzt einstufen. Sie liegt außerhalb aller Budgets und Kostendeckelungsverfahren. Auch der Patient zahlt nichts dafür« (ebd.).

Neben einer inzwischen verbesserten Diagnostik durch Hausärzte muss auch die gestiegene Sensibilität gegenüber der Thematik in der Allgemeinbevölkerung und das frühere Aufsuchen von Fachärzten durch Betroffene als Grund für die steigenden Fallzahlen angeführt werden. Dies würde jedoch bedeuten, dass die Störungsraten zuvor faktisch auch schon vorhanden waren, jedoch nur nicht als solche entdeckt wurden. Daneben gibt es aber auch eine real gestiegene Inzidenz (Neuerkrankungen), hierfür werden folgende Einflussfaktoren benannt:

– Wegfall von bislang funktionierenden sozialen Strukturen,

– steigende Arbeitslosigkeit,

– unsichere soziale Arbeitsverhältnisse,

– zeitliche und fachliche Über- oder Unterforderung,

– fehlender Handlungsspielraum,

– mangelnde Anerkennung und Wertschätzung,

– soziale Konflikte mit Kollegen und

– defizitäres Führungsverhalten (Lademann et al. 2006, 127).

Die Angaben über die Krankenstände der Beschäftigten unterscheiden sich jedoch je nach Krankenkassenart zum Teil erheblich. Die Ursachen hierfür dürften in den soziodemografischen Unterschieden der jeweiligen Mitglieder (vgl. Busch 2009, 426) und der ungleichen Erhebungsmethodik liegen. Der Krankenstand wird auf der Basis von Stichtagserhebungen der gesetzlichen Krankenkassen errechnet. An den zwölf Monatsersten und dem 1. Januar des Folgejahres wird der prozentuale Anteil der arbeitsunfähigen Pflichtmitglieder ermittelt und auf dieser Grundlage ein Jahresmittelwert errechnet. Die Daten werden vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zusammengefasst veröffentlicht. Da die statistische Erfassung der Arbeitsunfähigkeit primär auf die AU-Bescheinigung des behandelnden Arztes abgestellt ist, können bei den Kurzzeitarbeitsunfähigkeiten Untererfassungen auftreten. Ist während der ersten drei Tage eines Fernbleibens von der Arbeitsstelle wegen Krankheit dem Arbeitsgeber keine AU-Bescheinigung vorzulegen (durch Gesetz oder Tarifvertrag), so erhält die Krankenkasse nur in Ausnahmefällen hiervon Kenntnis (ebd.). Arbeitsunfähigkeitsstatistiken stellen daher eine Unterschätzung der tatsächlichen krankheitsbedingten Fehlzeiten dar. Dies gilt insbesondere für den Bereich der psychischen Störungen.