Ave Maria

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Ave Maria
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Ave Maria







Impressum







1. Kapitel







2. Kapitel







3. Kapitel







4. Kapitel







5. Kapitel







6. Kapitel







7. Kapitel







8. Kapitel







9. Kapitel







10. Kapitel







11. Kapitel







12. Kapitel







13. Kapitel







Gisela Sachs







Ave Maria







Höre Kindes Flehen





Roman







Impressum







Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über



http://www.d-nb.de

 abrufbar.





Print-ISBN: 978-3-96752-111-5



E-Book-ISBN: 978-3-96752-611-0





Copyright (2020) XOXO Verlag





Umschlaggestaltung und Buchsatz: XOXO Verlag





Hergestellt in Bremen, Germany (EU)





XOXO Verlag



ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH



Gröpelinger Heerstr. 149



28237 Bremen





Alle Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden.



Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.














Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus,







flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.







J. Freiherr von Eichendorff









1. Kapitel







Aus der Kirche ertönt eine glockenreine Stimme, die das ‚Ave Maria’ singt. Die Kräuter zupfenden Nonnen im Klostergarten auf der Fraueninsel falten in Demut ihre Hände, zeigen uns, den Abtrünnigen, den Weg zur Kirche, während ihre Blicke weiterhin auf Rosmarin, Thymian, Lavendel und Zitronenmelisse fallen.



Die Eingangstüre der Kirche quietscht laut, modrige feuchtkalte Luft strömt uns entgegen. Die singende Nonne am Marienaltar lächelt, als sie sieht, wie wir andächtig auf den Steinboden sinken, die Hände falten und beten.



Klaus, mit dem ich die Nacht verbracht habe, kniet neben mir, und ich sehe Tränen über sein bewegtes Gesicht laufen. Er wischt sie mit seinem Jackenärmel weg.



Unser Begleitpersonal wartet gelangweilt neben uns. Der Oberseelenklempner lächelt spöttisch und zieht eine Augenbraue nach oben. Das hätte er lieber nicht tun sollen. Ich greife mit beiden Händen nach dem Messingleuchter vom Altar der Mutter Maria und haue ihn dem Psychologen über die Birne. Der Leuchter scheppert laut über den Steinboden. Ein ätzendes Geräusch. Die ‚Ave Maria Nonne’ will Erste Hilfe leisten. Aus ihren zuvor gütigen Augen schreit nackte Angst. Ihre Kolleginnen rufen die Polizei. Die haben tatsächlich ein Handy in der Kutte, wundere ich mich.



Es dauert lange, bis das Polizeiboot auf der Fraueninsel anlegt. Drei Männer halten mich solange im Schraubstockgriff fest. Ich schaue den hüpfenden Spektralfarben an den Kirchenwänden hinterher und schicke meine Gedanken auf Safari, bis man mich unsanft in Ketten legt. Auf dem Weg zum Polizeiboot bietet mir ein Kleinkind seinen Lolli an. Die junge Mutter zieht das Mädchen von mir weg.



Ich werde wieder ins Gefängnis nach Bernau zurückgebracht und kriege dieses Mal – Hurra – eine Einzelzelle. Man kann mich wegen meiner Gewaltbereitschaft und Unberechenbarkeit nicht mit den anderen Häftlingen zusammenlegen meint der Gefängnisleiter Dr. Schulze. Endlich bin ich allein.



Das Essen wird mir dreimal am Tag minutiös pünktlich in die Zelle gebracht, ansonsten geschieht hier kaum etwas.



Manchmal werde ich wütend über den Fraß, den man mir vorsetzt und ich knalle die Pampe an die Wand. Daraufhin bekomme ich regelmäßig Besuch von einem Psychologen und auf Verlangen auch vom Gefängnispfarrer. Für meine Unterhaltung muss ich selbst sorgen, das habe ich schnell kapiert. Manchmal klettere ich auf den Tisch, um aus dem Fenster zu spähen und schaue sehnsüchtig den fliehenden Wolkenfetzen nach. Ich will weg aus Bayern und werde heute noch einen Versetzungsantrag nach Heilbronn stellen! Ich will in der Nähe meiner Mutter sein, auch wenn ich ihr Grab nicht besuchen kann.



Ich weine oft.



Ich bin wieder im ‚Ländle’.



In Handschellen und an die Hand eines Polizisten gekettet, laufe ich zum Eingang der Vollzugsanstalt. Trotz gefesselter Hände fühle ich mich frei. Unendlich frei. Seit langer Zeit habe ich wieder den Himmel über mir.



»Lieber Gott, ich danke dir!«



Ich werde Hafterleichterung wegen guter Führung bekommen und meine Strafe fällt auch gnädiger aus, als ich gedacht habe. Weil ich nicht voll zurechnungsfähig bin!



Diese Neuigkeit erfahre ich erst jetzt. Das ‚nicht voll zurechnungsfähig sein’, löst bei mir einen hysterischen Lachanfall aus. Für die Beamten ist das die Bestätigung meines Zustandes. Meine Gedanken aber sind so klar wie der Himmel über mir.



»Lieber Gott, was wird aus mir?«



Meine Mithäftlinge sind harte Brocken. Ein Kinderschänder und ein Muttermörder sind darunter. Der Boden ist dreckig, das Fenstergitter rostig, die Scheiben sind blind und es stinkt bestialisch in dem kleinen Loch mit den üblen Gestalten.



Manchmal darf ich im Gefängnishof herumlaufen. Der hohe graue Metallzaun ist zusätzlich mit Stacheldraht abgesichert. Nahe daran führt ein Fußweg vorbei. Die vorbeilaufenden Menschen schauen mich beschämt an, wenn sie mich in meiner grünen Anstaltskleidung sehen. Das verstehe ich nicht, ich bin doch der Verbrecher und ich spucke wütend dem nächsten Menschen, der mich blöd anglotzt ins Gesicht.



»Fuck you«, schreie ich außer mir vor Wut und tobe herum wie verrückt. Daraufhin erscheinen vier Wachmänner, die mich wie ein Stück Schlachtvieh abtransportieren.



Mein Rücken schleift über den Boden, der mit vielen kleinen Steinen bedeckt ist. Sie reißen mir den Rücken auf. Ich werde von dem Gefängnisarzt fixiert und mit der Streife in die psychiatrische Landesklinik nach Weinsberg gebracht.



Ich genieße die Autofahrt durchs Ländle. Wir fahren den Weinsberger Sattel hoch, ich sehe gelbe weitflächige Rapsfelder zu meiner Rechten, links farbenprächtige Rosenfelder und direkt vor mir den Kayberg. Welch ein Anblick! Der liebe Gott hat es gut gemeint mit dieser Region.



Im Vorbeifahren schicke ich leise Grüße zum Erlöser am Kreuz auf den Kayberg hoch.



Die psychiatrische Landesklinik Weissenhof ist eine kleine idyllische Stadt für sich. In einem kleinen Streichelzoo links neben dem Eingang tummelt sich ein Hund zwischen den Ziegen, rechts wird Biogemüse angebaut. Die Köche hier kochen naturnah. Weil ich eine akute Gefahr für meine Mitmenschen bin, serviert man mir mein Essen auf dem Zimmer. Ich darf nicht raus aus dem engen Loch. Mir bleibt nur ‚aus dem Fenster gucken’.



Manchmal sehe ich einen Mann mit schwarzem Hut vor meinem Fenster auf und ab gehen. Die Art, wie er geht erinnert mich an jemanden. Ich weiß aber nicht an wen.



Meist liege ich auch einfach nur auf dem Bett und träume vor mich hin, während ich die weiß getünchte Decke anstarre.



Und ich bete.



»Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name …«



Der Klinikpfarrer besucht mich bereits in der ersten Woche meines Aufenthalts. Er spricht nicht allzu viel von Gott und dem ganzen Zeug, lässt aber immer fromme Bildchen auf dem kleinen wackligen Holztisch vor dem Fenster liegen. Ich schmücke die kahlen Zellenwände mit den heiligen Bildchen. Klebstoff habe ich nicht, jedoch ist mein Sperma Zweck erfüllend. Der gütige Herr Pfarrer setzt sich wohlwollend bei der Stationsleitung für mich ein und der Direktor ist von den zahlreichen Heiligenbildchen an den Wänden so beeindruckt, dass ich ein größeres Zimmer bekomme. Es liegt gen Süden und ich freue mich wie irre, als ich Sonnenstrahlen auf den kahlen Zimmerwänden auf und ab hüpfen sehe.



Bereits nach ein paar Monaten der Bewährung werden mir Zugeständnisse gemacht. So darf ich zum Beispiel mit Begleitung einkaufen gehen. Nach Heilbronn, Öhringen oder Mosbach. Ich kann es mir aussuchen, bietet man mir an. Auf Einkaufen habe ich keinen Bock, brauche nichts. Ich will in den Heilbronner Weinbergen herumlaufen, mache ich den Herrschaften klar!



Meine Begleiter sind der Herr Pfarrer und der Klinikdirektor höchstpersönlich. Sie demonstrieren der Öffentlichkeit die Anteilnahme an ihren Patienten. Ein Journalist und ein Fotograf müssen mit uns zwischen den Reben herumkraxeln. Den Weicheiern ist kalt und sie verschwinden, sobald sie ein paar Bilder im Kasten haben.

 



Ich sehe schemenhaft die leicht schneebedeckten Löwensteiner Berge. Mein Blick bleibt an gebogenen Reben hängen, Trester bedeckt stellenweise den Boden. Es ist sonnig, aber kalt und es weht ein eisiger Wind.



Der Artikel erscheint schon zwei Tage später in der regionalen Tageszeitung. Klinikdirektor Dr. Maier sieht mich Beifall heischend an, als er mir einen Besuch in der Zelle abstattet und den Zeitungsausschnitt der Heilbronner Stimme auf den Beistelltisch vor dem Fenster legt. Bei mir löst dieser geschriebene Blödsinn einen Lachanfall aus.



Die Bilder wurden direkt unter dem alten Gipfelkreuz unweit der Genossenschaftskellerei Heilbronn-Erlenbach aufgenommen. Den alten Rosenstock rechts neben dem Holzkreuz kann man auf dem Bild gut erkennen. Im Hintergrund sieht man nur undeutlich das Städtchen Erlenbach. Binswangen wurde bereits am 01.04.1935 zu Erlenbach eingemeindet, man darf Binswangen aber nicht erwähnen. Die Erlenbacher sind da eigen. Es ist Erlenbach. Basta!



Ich schüttle mir Klebstoff und knalle den Zeitungsartikel neben die Heiligenbildchen an die Wand.



Mein erster Weg in der Freiheit führt mich an das Grab meiner Mutter. Vor dem Heilbronner Hauptfriedhof hat sich praktischerweise eine Gärtnerei niedergelassen, wo ich einen Strauß weißer Lilien kaufe. Das waren Mamas Lieblingsblumen.



»Bin wieder da Mama«, sage ich.



»Ich bin clean, Mama!«



»Schau, ich hab dir Lilien mitgebracht.«



Als ich die Vase mit Wasser füllen will, sehe ich, wie sich eine hagere Gestalt an dem Grab der Heilbronner Ehefrau eines Münchner Prominenten zu schaffen macht. Der Mann hat seinen schwarzen Hut tief in das Gesicht gezogen. Der riesige Engel aus Stein, der das Grab bewacht, verdeckt den Mann nur unvollständig.



Mir ist mulmig, wenn ich diesen Typen sehe, der mich offensichtlich verfolgt und der immer sein Gesicht verbirgt. Unangenehme Erinnerungen steigen in mir hoch, ich kann sie aber nicht einordnen.



Am Ausgang des Friedhofs drehe ich mich nochmals um, und erst jetzt erkenne ich in der hageren Gestalt Pat.



Pat, diese Sau, die mich süchtig gemacht hatte. Pat, der Dealer, wegen dem ich in den Knast kam, weil ich klauen und mich verkaufen musste, um mir seine teuren Drogen zu kaufen. Ich renne wie von Furien gehetzt zurück, nehme seinen Kopf in meine Hände und knalle diesen wütend und mit voller Kraft an den Ahornbaum mit den silber geschlitzten Blättern. Immer wieder.



Pats laute Hilfeschreie machen mich noch wütender und sein weit aufgesperrtes Maul lässt mich verfaulte Zähne erkennen. Ich haue ein, in diese stinkende Fresse, haue ein, auf diese große Höhle der Fäulnis und Pat spuckt mit viel Blut ein paar seiner fauligen Stumpen vor mir auf den Boden. Ich kicke sie mit dem Fuß weg und mache mich aus dem Staub.



Im Bahnhofscafé des Heilbronner Hauptbahnhofs bestelle ich zur Beruhigung meiner Sinne ein Glas Fleiner-Samtrot, bediene mich an dem Tisch mit den Tageszeitungen, schaue unter Stellenanzeigen nach, was so angeboten wird, und werde schnell fündig. Es gibt viele offene Stellen im Gastronomiebereich.



Eine Anzeige macht mich besonders an. Das Restaurant ‚Zum alten Rentamt’ in Schwaigern sucht einen Mann für alle Fälle. Er sollte vom Salat putzen bis zur Straße kehren für alle anfallenden Arbeiten offen sein, über technisches Geschick verfügen, sowie unabhängig und flexibel sein. Es wird ein großzügiges Gehalt und kostenloses Wohnen bei freier Verpflegung zugesichert. Genau das, was ich brauche! Ich kann in unserem Haus nicht mehr wohnen bleiben, halte Mamas ständige Präsenz einfach nicht aus.



Ich gebe mir mit der Bewerbung für dieses edle Haus mit seiner überregional bekannten Gourmetküche große Mühe. Viel Hoffnung, dass die mich einstellen, habe ich allerdings nicht. Die finden bestimmt jemanden Besseren als mich!



Ich habe tatsächlich einen Vorstellungstermin bekommen. Ich fasse es nicht. Übermorgen schon. Das wird eng. Nur einen Tag Zeit, um angemessene Kleidung zu besorgen. Im Bekleidungshaus Röther in der Nähe des Weipert-Zentrums werde ich fündig. Ich kaufe eine schwarze Stoffhose, ein weißes Hemd und schwarze Lederschuhe. Ich will diese Stelle in dem altehrwürdigen Gebäude des Grafen von Neipperg unbedingt haben. Meine Mama im Himmel soll stolz auf mich sein!



»Lieber Gott halte deine schützende Hand über mich.«



Aufgeregt fahre ich mit nüchternem Magen schon zwei Stunden vor dem Vorstellungstermin los. Ich habe keinen Bissen heruntergebracht und in den für mich ungewohnten Klamotten komme ich mir wie verkleidet vor. Es sind nur 13 Kilometer von Heilbronn nach Schwaigern, aber nichts kann mich mehr halten.



Planlos fahre ich im Zabergäu herum, meine feuchtheißen Hände umklammern das Lenkrad wie einen Schraubstock. Von der Theodor-Heuss-Stadt Brackenheim aus fahre ich nach Neipperg. Weit und breit sind keine Menschen zu sehen, fahren keine Autos. Ich fahre steile, unebene Straßen mit überhöhter Geschwindigkeit hoch, die Kreisstraße 2151 entlang, sehe Felder, Wald, Streuobstwiesen und Weinberge, lege mich steil in die Kurven und genieße den Rausch des schnellen hochund runterFahrens dieser buckligen Gegend, wende, fahre zurück und berausche mich nochmals daran. Ich habe noch soviel Zeit. Die Minuten schleichen dahin wie in Zeitlupentempo, wollen einfach keine ganze Stunde ergeben.



Kalter Angstschweiß benetzt meine Stirn. Mein Gott, wie bin ich aufgeregt. Obwohl ich nichts gegessen habe, muss ich kotzen, stoppe an der Strombergkellerei unterhalb des Heuchelbergs, steige aus dem Auto, kotze wie ein Reiher, atme ganz langsam ein, ganz langsam wieder aus, trinke in kleinen Schlucken mein Mineralwasser und reibe mit meiner Daumenkuppe die Stelle an meinem Hals, welche Mama immer gedrückt hatte, um mich zu beruhigen, wenn ich zu aufgedreht war und nicht einschlafen konnte.



Ich sehe die Achterbahn des Freizeitparks Tripsdrill direkt vor mir. An meinen Beinen reibt sich miauend eine schwarze Katze, meine verkotzten Schuhe stören sie nicht. Als ich die Schuhe mit meinem Papiertaschentuch putze, sehe ich einen schwarzen A6 mit Heilbronner Kennzeichen auf den Parkplatz einbiegen. Am Steuer sitzt ein Mann, der seinen Hut weit in sein Gesicht gezogen hat. Ich steige schneller ein, wie ich ausgestiegen bin, starte in Windeseile den Motor, die Räder drehen durch, die Reifen quietschen laut und ich sehe im Rückspiegel, dass ich die schwarze Katze platt gefahren habe, die vor ein paar Minuten noch um meine Beine gestrichen ist und von mir gestreichelt werden wollte.



Ich wage es kaum, auf dem Parkplatz vor dem alten Rentamt auszusteigen. Meine Beine zittern wie Wackelpudding und ich bleibe erst mal wie erstarrt hinter dem Steuer sitzen. Ich habe Schiss vor dem Vorstellungsgespräch. Entsetzlich Schiss! Mein Blick verfängt sich in dem Fachwerk des alten Gemäuers. Ich sehe grüne Fensterläden und liebevoll bepflanzte Holzblumenkästen vor den Butzenglasfenstern. Viereckige Blumenkübel aus Metall begrüßen die Gäste im Eingangsbereich. Ich stolpere dagegen und haue mir granatenmäßig meine Waden daran an.



Ich sehe die Kirche hinter dem Rentamt, den riesigen Lindenbaum mit seinen zartgrünen Blättern. Und ich sehe Pat, der mit geschwollenem Gesicht und blauem Auge plötzlich neben mir steht und mich zahnlos und mit bösem Blick anstarrt.



Entsetzt stolpere ich die zehn abgetretenen Steinstufen bis zur Holztür des Eingangs hoch und ziehe ungeduldig an dem Messinggriff. Die Tür geht nicht auf. Ich läute. Die lautlose Klingel macht mich unsicher, nach gefühlten Ewigkeiten öffnet sich endlich die Tür und ich werde von einer nach grünem Apfel duftenden Dame in schwarzem Kleid und weißer Perlenkette hereingebeten.



Der historische Gasthof ist teilweise mit antiken Möbeln ausgestattet, an den Fensterbänken blühen Orchideen. Die Gediegenheit macht mich verlegen. Mein Herz klopft wie verrückt. Ich fürchte, die können es hören.



Wie benebelt laufe ich nach meiner Vorstellung nach draußen. An jeder der zehn Stufen bleibe ich kurz stehen, schaue in den Himmel.



»Danke lieber Gott. Ich habe das Gespräch überstanden.«



Ich weiß nicht mehr, was ich gefragt wurde, was ich geantwortet habe, wann ich Bescheid darüber bekomme, ob diese ehrenwerten Leute mich einstellen werden. Es gibt viele Bewerber für diese Stelle, habe ich erfahren.



Ich schaue auf die grauen Pflastersteine, staune über die Größe des Parkplatzes, sehe das evangelische Pfarramt vor mir und einen Rundbogen zu meiner Rechten. Eine träumerische Idylle. Mama würde es hier gefallen.



Das Auto von Pat steht zu meiner Erleichterung nicht mehr da. Wie in Trance laufe ich auf den Rundbogen zu, der zum Anwesen des Grafen Neipperg führt, laufe hindurch, sehe eine Kapelle und wie unter Wolkenzuckerwattegefühl höre ich eine glockenreine Stimme das Ave Maria singen.



In diesem Moment weiß ich, dass ich die Stelle bekommen werde. Der liebe Gott wird sich schon etwas dabei gedacht haben bei der Aufgabe, die er mir stellte.



Ein Abend wie alle meine Abende. Ich setze mich auf die weiße Bank vor das Grab meiner Mutter. Dort sind meine Gedanken am klarsten. Das Wetter ist unbeständig. Trotz Regen bleibe ich sitzen, schaue zu, wie Regenperlen die Messingtäubchen links und rechts der Bank benetzen. Es sieht aus, als würden die Täubchen weinen.



Das Grab rechts neben Mamas Grab ist übersät mit Löwenzahn, Springkraut und Disteln. Raben haben Walnüsse in der Erde versteckt, es wachsen viele kleine Walnussbäumchen auf dem Grab. Diese sind hartnäckig mit der Erde verwurzelt, stelle ich fest, als ich sie herausziehen will. Feuerkäfer laufen über meine Hände. So ein verwahrlostes Grab hat niemand verdient. Ich leihe mir einen Spaten bei dem Friedhofsgärtner aus und sorge für Würde und Ordnung. Ich fühle mich gut dabei. Und ich fühle, wie Mama zufrieden lächelt. Der kleine Prinz auf Mamas Grab schaut sehnsüchtig den Wildvögeln nach, die ihm zur Flucht vor der Erde geholfen haben. Sein steinerner Blick folgt ihnen Richtung Weinberge und untergehender Sonne. Mein Blick folgt dem Seinen. Es ist ein einzigartiges Erlebnis, wenn die Sonne in den Weinbergen versinkt. Ich spüre dann einen tiefen Frieden in mir.



»Heute habe ich die Zusage bekommen, Mama. Ich habe am ersten Advent meinen ersten Arbeitstag im Restaurant ‚Zum alten Rentamt’ in Schwaigern. Na, was sagst du dazu? Ich werde unser Haus vermieten, Mama. Ich bekomme ein Zimmer im Rentamt und essen darf ich dort auch. Dort kocht der Chef persönlich und der kocht gut, sagen die Leute. Herr Wolf ist kreativ, lässt sich allerhand einfallen. Stell dir vor, Mama, Herr Wolf hat eine Suppe kreiert, die er Neckarbrühe nennt. Eine Ochsenschwanzsuppe ist das und da schwimmt irgendwas darin herum, in das auch Ochsenschwanz mit eingepackt wurde. Die Brühe schmeckt gigantisch, ich durfte sie bei meinem Vorstellungsgespräch probieren.



Ich werde nicht mehr jeden Tag bei dir sitzen können, Mama. Heute bleibe ich dafür etwas länger. Ich habe mir Zeitungen vom Kiosk mitgebracht. Hör mal zu, was da steht:



Die Heilbronner Sonderkommission Parkplatz steht vor einem Rätsel. Schon wieder zeigt ein Einbruch die Spuren der gesuchten Polizistenmörderin von Heilbronn. Bereits 30 Mal wurden diese Spuren gefunden. Die ersehnte heiße Spur blieb trotz Suchmeldung im Fernsehen aus. Das Landeskriminalamt hat 150.000 Euro zur Ermittlung der unbekannten weiblichen Person angesetzt. Es geht was ab im Ländle, Mama!«



Mein neues Leben gefällt mir. Sehr sogar! Ich mag Küchenarbeit, das hatte ich gar nicht gewusst. Wir backen gerade Zimtsterne. Die müssen schon Wochen vor Weihnachten gebacken werden, damit sie schön durchziehen. Der Chef hat gelacht, als er meine ersten Zimtsterne sah. Von welchem Planeten kommen die denn, hat er mich gefragt. Der Typ ist cool drauf. Die Chefin aber nimmt es mit allem ganz genau. Vor der habe ich großen Respekt. Mit ihr gemeinsam soll ich die Außenfassade des alten Rentamts sowie den Innenhof weihnachtlich dekorieren. Ich habe großen Bammel davor und ich werde mir verdammt viel Mühe geben müssen, damit sie zufrieden mit mir ist.



Ich übe nachts Sterne basteln, statt zu schlafen nach Bastelbüchern, die ich in der überschaubaren Schwaigener Dorfbibliothek, die sich neuerdings Mediathek nennt, ausgeliehen habe. Ich will meine strenge Chefin beeindrucken, verpenne und kriege einen Rüffel ab.



Ich fühle mich verletzt, mein Hirn schaltet auf Stand-by und mit meinem vernebelten Verstand löse ich frustriert eine Fahrkarte nach Heilbronn, setze mich dort auf eine Bank vor die Gleise und beobachte das Ankommen und Abfahren der Züge. Am Bahnhofkiosk kaufe ich diverse Tageszeitungen, mache es mir mit Pappbecherkaffee in gelben Plastikstühlen bequem und staune.

 



Das Phantom von Heilbronn hat schon wieder zugeschlagen. Dieses Mal wurde eine Leiche im Saarland gefunden.



Vor dem Hauptbahnhof steigert sich das Kommen und Gehen eiliger Menschen. Die Sonne blendet mich, ich sehe nur undeutlich die S4, die nach Öhringen fährt. Es sind kaum Leute in der Bahn. Im ersten der vier Waggons macht sich der Penner breit, der gerade eben noch in den Abfalleimern vor dem Bahnhof herumgestöbert hat.



Neben mir streiten sich lautstark zwei Nutten. Sie reißen sich heftig an ihren verfilzten zotteligen Haaren, zerkratzen ihre Gesichter mit ihren dreckigen langen Struwwelpeterfingernägeln. Elend und Fäulnis riecht aus ihren Klamotten.



Ich muss zurück ins Rentamt, verschafft sich ein Geistesblitz Gehör. Das ist nicht mehr meine Welt! Ich schaffe es gerade noch per Anhalter nach Schwaigern zu kommen, bevor die Zimmerstunde zu Ende ist und meine Arbeitszeit beginnt.



Links neben dem Haupteingang des alten Rentamts führen gepflasterte Steine, terrassenmäßig angelegt, steil nach unten zu einem weiteren Eingang. An der linken Innenwand befindet sich eine Holzklappe mit zwei Verschlägen. Ich hebe die Klappe hoch. Da war einmal ein Fenster? Das Loch ist mit zwei Eisenstäben abgesichert. An den Stäben sind beigefarbene Leinenbeutel mit Anglerschnur angebunden. Das sind die Säckchen, in welchen Pat sein Dope vertickt, erkenne ich verwundert und melde meinen Arbeitgebern sofort diesen Fund. Das Pächter-Ehepaar ist irritiert und die angeforderte Polizeistreife rasch da.



Bei der späteren DNA-Analyse stellte man eindeutige Spuren des



‚Phantoms von Heilbronn’ fest. Diese Spuren fand man in der gleichen Nacht bei einem weiteren Einbruch an einem abgebissenen Stück Keks.



»Wir brauchen die Weihnachtstage über Verstärkung, meint meine Chefin. Morgen früh um zehn Uhr wird sich ein junger Mann vorstellen. Sie sind schon soweit eingearbeitet, dass sie ihn in unser Haus einführen können. Wir sind sehr zufrieden mit ihnen.«



Mann oh Mann, was geht? Geil!



Mein Herz rast, als mir am nächsten Morgen Pat als mein neuer Arbeitskollege, den ich in das Haus einweisen soll, vorgestellt wird. Er hat abgenommen. Viel. Wirkt hager. Hat neue Zähne. Seine mit Gel bearbeiteten Haare sind sehr kurz geschnitten. Er trägt eine schwarze Stoffhose, ein weißes Hemd und schwarze Lederschuhe. Der war wohl auch bei Röther, denke ich. Pat sprüht nur so vor Charme. Wie früher.



Schweigend führe ich ihn durch das alte Gemäuer, zeige ihm das ehrwürdige Haus, den Innenhof, den Weinkeller, lasse ihn fragen, reden, gebe keine Antwort. Er will mir Dope verticken, rafft es nicht, dass ich clean bin, hält mir das Zeug immer wieder unter die Nase. Mit einer raschen Bewegung schlage es ihm aus der Hand. Pat grinst hämisch, als er das Leinensäckchen vom gepflasterten Boden aufhebt und in seiner Hosentasche verschwinden lässt.



»Dich krieg ich wieder«, sagt er beim langsamen Hochgehen und fasst mir in den Schritt. Ich bekomme sofort einen Steifen und werde wütend über die Macht, die Pat immer noch über mich hat. Wenn ich ihm jetzt eine in die Fresse haue, verliere ich meinen Job. Verrate ich ihn bei meinen Arbeitgebern, verrate ich mich selbst. Ich zähle bis 100, um mich zu beruhigen.



Pat wohnt im Zimmer neben mir und ich sehe und höre diesen Mistkerl bei Tag und bei Nacht. Sein Fernseher läuft so laut, dass ich die Nachrichten durch die Wände hören kann.



Das Phantom von Heilbronn ist eine Packerin aus Bayern, höre ich erstaunt. Ganz Deutschland war auf der Suche nach dem Phantom von Heilbronn. Es hätte Flügel haben müssen, um an 40 verschiedenen, weit auseinanderliegenden Orten in Baden Württemberg, Rheinland Pfalz, dem Saarland und Österreich präsent gewesen zu sein. 32 Verbrechen, darunter drei Morde, verteilt auf drei Staaten ließ Deutschland zittern. Wie man jetzt erst herausgefunden hat, stammen die DNA-Spuren von einer Fabrikarbeiterin eines Wattestäbchenherstellers, der die Polizei beliefert.



Manchmal klopft Pat nachts an meine Tür, will zu mir ins Bett. Ich habe Angst vor ihm und schließe mich ein.



Pat und ich müssen gemeinsam Zimtsterne backen. Er stellt sich geschickter an, als ich beim ersten Mal, werkelt und werkelt den Teig mit Begeisterung hin und her, rollt ihn in seinen Händen zu einer dicken Wurst und schaut mir dabei provokant in die Augen.



Mein Herz klopft wie wild, mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen, ich spüre einen Kloß im Hals und schäme mich über die Beule in meiner Hose.



Vollmond. Ein lautes Rumsen schreckt mich aus dem Schlaf. Erschrocken hüpfe ich aus dem Bett und schaue in den Gang vor meinem Zimmer, sehe Pat, der nackt umherwandelt, zielsicher die Küche anpeilt, mit einer Hand voll Zimtsternen zurückkommt und wieder schlafen geht. Es fühlt sich an wie früher.



Ich bin jetzt hellwach, mache einen Spaziergang rund um das Rentamt, laufe unruhig das ganze Gelände des Grafen Neipperg ab. Es ist weitläufig, dicht mit Büschen bepflanzt und mit Eisenstäben umzäumt, die wie Lanzen aussehen. Nur vereinzelt kann man einen winzigen Blick in den riesengroßen Park werfen. Ich höre eine Nachtigall singen.



Hinter der Holzklappe finde ich wieder diese Säckchen aus grobem Leinen. Ich schneide das Anglergarn durch, und sie verschwinden in die dunkle Tiefe des Kellers. Ich höre Ratten davonhuschen. Auf unserem Gang ist es ruhig. Pat scheint zu schlafen.



Aufgeregtes Hin und Her, geschäftiges Treiben, dann Türen schlagen, laute Stimmen und Geklapper aus der Küche haben unsanft viel zu früh meine Träume beendet. Verschlafen schaue ich aus dem Fenster, sehe zwei Polizeiautos auf dem Parkplatz davor. Dann klopft es auch schon heftig an meiner Zimmertür. Ich soll herunterkommen, befiehlt die Chefin.



Was ich heute Nacht in der Küche gemacht habe, fragt sie mich kalt. Die örtlichen Polizisten durchsuchen das Haus und werden in meinem Zimmer fündig. Die Süßwasserperlenkette der Chefin, auf die sie ganz stolz ist, steckt in einem meiner Frotteesocken. Daneben, unter dem Stapel bunter Boxershorts, liegen drei benutzte Spritzen, ein paar Leinensäckchen mit Dope und die fehlenden Scheine aus der Küchenkaffeekasse.



Unter meinem Bett finden sich zahllose andere Gegenstände, die in letzter Zeit auf mysteriöse Weise verschwunden waren und ich mache große Augen, als ein benutzter String meines Chefs zum Vorschein kommt. Die Finger des Polizisten bleiben daran kleben und der Beamte verzieht angeekelt sein Gesicht, rennt ans Waschbecken und schrubbt seine Finger, bis sie rotblau leuchten. Mir stockt der Atem. Pat und die Chefin tauschen Blicke, die ich nicht einordnen kann.



Ich werde fristlos entlassen, darf noch im Rentamt wohnen bleiben, bis ich ein neues Zuhause gefunden habe. Zum Essen gibt es aber hier nichts mehr für mich.



»Haben Sie eine Ahnung, was hier vorgeht?«, fragt meine Chefin einen der Polizisten.



»Ich darf ihnen leider keine Antwort auf ihre Frage geben, dafür ist Hauptkommissar Meckle zuständig.«



»Können sie sich das hier erklären Herr Meckle?«, fragt Frau Wolf süffisant.



»Ahnen oder wissen sie etwas?«



Ich lausche gespannt einer Antwort. Von Harald Meckle, dem Hauptkommissar und Pressesprecher der Polizei von Heilbronn habe ich schon einiges gelesen und gehört. Er leitet die Soko der ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter, sucht verzweifelt nach dem ‚Phantom von Heilbronn’.



»Wissen sie«, sagt Kommissar Merkle und reibt sich nachdenklich die Stirn.



»Mir wisse, was mer wisse!«



Es ist verdammt schwer eine Wohnung zu finden, wenn man keine Arbeit hat.



Meine unausgefüllten Tage verbringe ich meist bis zum Sonnenuntergang auf der weißen Bank vor dem Grab meiner Mutter.



Kleiner Prinz, so nach und nach verstehe ich dein schwermütiges Leben, das du hattest. Ich habe auch nur die Lieblichkeit der Sonnenuntergänge.



»Gute Nacht Mama, bis Morgen.«



Der volle Mond hängt milchweiß über mir, als ich vor dem alten Rentamt in Schwaigern ankomme, scheint grell in mein Zimmer. Ich lege mich samt meiner Klamotten aufs Bett und lausche angespannt nach draußen auf den Gang, muss nicht lange warten, bis ich das Knarren von Pats Zimmertüre höre. Er stolpert den Gang entlang, haut sich an allen Ecken und Kanten an, sieht mich nicht, als ich das Fenster, auf das er zusteuert, öffne. Ich gehe zitternd zurück in mein Bett.



Pat war schon kalt, als ihn die Zeitungsausträgerin in den frühen Morgenstunden auf d