Loe raamatut: «Briefgeschichte(n) Band 2», lehekülg 2

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14. Januar 1999

Lieber Gottfried, liebe Karin,

herzlich bedanken wir uns für die Grüße zum Jahreswechsel auf der Ansichtskarte aus Teneriffa. Hier haben wir unterdessen einen halben Meter Schnee und weitere 20 Zentimeter sind uns angekündigt worden. So eine Stadt wie Toronto kommt durch diese Schneemassen fast zum Stillstand, aber hier in Georgetown ist es, für Leute wie uns, die nicht zur Arbeit gehen müssen, eigentlich ganz gemütlich. Wir sitzen am Kamin und lesen uns durch Berge von Büchern hindurch. Eines der Bücher waren die Erinnerungen des „Man without a Face“ (so ist das Buch im Englischen betitelt) von Markus Wolf. Die Welt der Spione, die einer gewissen Komik nicht entbehrt! Wie sich da die verschiedenen Länder, mittels ihrer Meisterspione, gegenseitig über´s Ohr hauen, reizt zum Lachen. Hervorragend ist der erste Band einer neuen Hitler-Biografie des englischen Historikers Ian Kershaw. Der Band beschreibt das Leben dieses schrecklichen Menschen von 1889 – 1936. Ein 2. Band soll folgen. Diese Lektüre brachte mich wieder einmal zu den Briefen meines Bruders, von denen ich Kopien einiger Seiten beilege. Man merkt denen natürlich an, dass sie von einem noch nicht 20jährigen geschrieben wurden. Den schmalzigen Leander-Film „Es war eine berauschende Ballnacht“ findet er großartig, der „totale Krieg“ kann selbstverständlich nur „siegreich“ enden, usw. usw. Man vermisst, aus heutiger Sicht, die Skepsis. Vielleicht interessieren Euch diese Beschreibungen aus dem Herbst 1939. Wäre das Archiv des Heimatvereins an Kopien dieser Briefe interessiert? Es sind 123 Schreibmaschinenseiten plus 19 Seiten Fußnoten von mir.

Herbert Strassburger schickte mir die letzten Fortsetzungen Deiner „Sommerhof“-Artikel. Wir danken dir für Deine Mühe. Was gibt es sonst an Neuigkeiten? Ist eine weitere Nordamerikareise eingeplant? Gute Wünsche und herzliche Grüße von John und Gisela

02. Februar 1999

Lieber Gottfried, liebe Karin, heute kam der große Umschlag (mit Brief, Zeitungsausschnitten, Prora-Broschüre etc.), der also genau 3 Monate unterwegs war, am 1.11.98 geschrieben, am 2.11. abgestempelt. Eine beachtliche Leistung der modernen Post. Der Umschlag hat natürlich irgendwo herumgelegen. In 10 Jahren gibt es diese Art der Postbeförderung möglicherweise gar nicht mehr. Man merkt schon jetzt, dass die Post an diesen Sendungen wenig interessiert ist. Trotzdem herzlichsten Dank. Wir freuen uns sehr, besonders über den langen Brief.

Du schreibst “dass die Zeit für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte erst noch kommen wird“. So war das auch nach 1945 in West-Deutschland. Mit den Alten konnte man über die Nazizeit nicht reden, sie wollten diese Jahre vergessen, weil sie selbst mitgespielt hatten oder ihnen in dieser Zeit übel mitgespielt wurde. Das ist auch durchaus menschlich. Die, die bei den Nazis oder den Kommunisten (in der DDR) in diesen Weltanschauungen ein Ideal gefunden hatten, standen nun vor den Trümmern ihres Lebens. Die Enttäuschung machte sie stumm oder bockbeinig. Und die, die ahnten, wohin diese Ideologien führen würden (in das Verbrechen und die Zerstörung der Gesellschaft), und deshalb von Anfang an abseits standen und nicht mitmachten, die waren im Grunde zu vornehm, um nun, da alles so gekommen war, wie sie es vorausgesagt hatten, es ständig den „Ideologen“ vorzuwerfen und sie anzuklagen. Eigentlich fing es mit dem „Aufarbeiten der Nazizeit“ erst in den 1960er Jahren an, und die, die „aufarbeiteten“, waren Leute, die nach 1935 zur Welt kamen und die Hitlerzeit hauptsächlich aus Dokumenten kannten. Selbst für meine Generation ist die Nazizeit ein heißes Eisen. Wir haben deutsche Freunde hier, in meinem Alter, wenn wir die treffen und die Sprache kommt auf die Nazizeit, dann dauert es nicht lange bis jemand ins „Fettnäpfchen“ tritt, also etwas sagt, was beweist, dass er noch immer dieser längst vergangenen Zeit verhaftet ist. Wie das so schön witzig Maxim Biller in beigelegter Kolumne beschreibt. Und vielleicht bin ja auch ich von dieser Zeit geprägt und nicht so frei, wie ich mir das einbilde. Es hilft natürlich, dass ich seit über 40 Jahren in Kanada gelebt habe. Da habe ich mir angewöhnt, nicht so schnell zu urteilen und zu verurteilen. Deshalb bin ich so gegen die Veröffentlichung der Stasiakten. Nur wirkliche Verbrechen hätte man mit Hilfe dieser Akten bearbeiten sollen. Aber all diese Treuebrüche und Spitzeleien, dieser unsagbare Klatsch, der Neid, das Kämpfen um kleine Vorteile, all das hätte man vergraben sollen. Nun vergiftet es das Leben von Menschen, die unter den Dienern Moskaus nun wirklich kein Zuckerbrot zu essen hatten.

Zu unserer „Verbannung“ auf die Insel Rügen. Ja, Prora stand im Herbst 1945 im Rohbau fertig da. Es war schon toll, allein die Ausdehnung der Anlage. Vier Kilometer entlang der Biegung des Strandes. Dazu musst Du Dir Herbstwetter vorstellen. Der Wind wehte und die Wellen der Ostsee machten einen Heidenlärm. Schon war Sand in die Gebäude geweht worden. Die Berge von Badewannen und Klobecken warteten darauf, installiert zu werden. In meiner Erinnerung wurde diese Riesenruine zum Zeichen des Größenwahns der Hitlerzeit, dieser unsäglich brutalen Angeberei. (s. Bild 12) Werde ich noch einmal nach Rügen kommen? Es ist sicherlich besser, nicht an diesen Ort zurückzukehren. Auch vor Dresden scheue ich zurück. Es war eine so völlig einmalige Stadt vor der Zerstörung. Soll man sich diese Erinnerungen durch das neue Dresden verderben?

Zum Regierungsumzug von Bonn nach Berlin: Ich glaube schon, dass Bonn die sogenannte Demokratie in Deutschland heimisch gemacht hat. Bonn hatte etwas angenehm Bescheidenes, das hoffentlich den Umzug nach Berlin überlebt. Aber nun ist ja Deutschland in die europäische Gemeinschaft eingebettet, und wenn erst einmal Ost-Europa auch noch eingegliedert worden ist, dann kommt hoffentlich Europa zur Ruhe.

Dass sich bei Euch viele nach „der guten alten Zeit“ sehnen, ist verständlich. Im Augenblick kann einem der fast unkontrollierte Kapitalismus schon Angst machen. Die Reichen, und damit Mächtigen, müssen lernen, dass die Welt nicht nur für sie da ist, sondern für uns alle. Ein System, dass nur auf Ausbeutung beruht, kann nicht von Dauer sein und trägt den Keim der Zerstörung mit sich herum.

„Die Zeit“: Es gibt leider seit einem Jahr keine nordamerikanische Ausgabe mehr und die deutsche Ausgabe kostet jetzt statt $ 80 schon fast $ 400 im Jahr! Das wollte ich natürlich nicht ausgeben. Doch schenkte mir ein lieber Freund „Die Zeit“ für ein Jahr. Seit Weihnachten erscheint sie hier im Haus jede Woche. Nun bin ich also wieder so einigermaßen über Deutschland informiert. Nach wie vor ist „Die Zeit“ Spitze. Wie da nach allen Seiten debattiert wird! Weniger schön finde ich, dass man Honecker zu Reklamezwecken in der Beilage „Zeit Magazin“ benutzt. Doch ist dieses Photo des ehemaligen DDR–Chefs interessant. Diese zweifelnden Augen. Zweifelt er an seiner Macht? War er sich seiner totalen Abhängigkeit von Russland bewusst? Eigentlich wirkt er sympathisch, wie ein Oberlehrer oder Bankdirektor in einer mittelgroßen Stadt. Von Brutalität keine Spur. Wie intelligent war er? Warum stellte er sich nicht, spätestens in den achtziger Jahren, an die Spitze einer reformierten DDR, die sich der Welt öffnete? Warum glitt ihm das Heft aus der Hand? Möglicherweise misstraute er dem Volk, das er anführte. Warum sonst diese tolle Bespitzelung praktisch aller durch die STASI? Ein Rätsel! Man würde sich gern einmal mit ihm unterhalten und ihm diese Fragen stellen. Leider ist es dazu zu spät. Der Mann ist nicht mehr am Leben. Diese Erinnerungen wären interessant gewesen.

Wie schön, dass Ihr nun bald im Ruhestand seid. Dann müsst Ihr noch einmal nach Nordamerika kommen. Ende April werden wir für drei Wochen nach England reisen. Wir hoffen, auch Virginia wieder zu sehen. Für den Rest des Jahres bleiben wir zu Hause. Wir bedanken uns sehr und wünschen Euch alles Gute und Schöne. Schreibt bald einmal wieder. Alles Neue aus Geithain und Sachsen interessiert mich.

Herzlichst John und Gisela

Geithain, 07.03.99

Liebe Gisela, lieber John, nun muss es aber nach langer Zeit wieder einmal einen Brief aus Geithain geben. Inzwischen sind schon einige Briefe von Dir hier eingetroffen. Ich werde diesen Brief per Luftpost senden, damit er nicht wieder so lange wie mein letzter unterwegs ist. Ab nächster Woche habe ich meinen neuen Computer und könnte auch eine E-Mail senden. Bisher nutzte ich immer die Möglichkeit in der Schule, um mit meinen Radfreunden von den Irland-Touren in Kontakt zu treten. Es ist schon faszinierend, wenn man so in einer Freistunde schnell ein paar Zeilen auf dem Computer schreibt, dann kurz auf "Senden" klickt und ab geht es nach Los Angeles oder wohin auch in der Welt. Wenn der Adressat in seiner mailbox rechtzeitig nachschaut, kann man in einer Stunde schon wieder Antwort erhalten. Das alles kostet ein paar Pfennige! Voriges Jahr waren in der Irland-Truppe vorwiegend Radfans aus den USA und alle gaben mir ihre E-Mail- Adresse.

Nun aber erst einmal vielen Dank für Deine Briefe bzw. Päckchen mit den Briefen. Einen Teil der Briefe Deines Bruders hatte ich ja schon damals bei Euch, so vor dem Schlafen, gelesen. Nun noch einmal, und die Wirkung ist die gleiche wie damals. Welche Gefühls- und Gedankenwelt offenbart sich! Wenn immer wieder gefragt wird, wie konnten die Deutschen der Naziideologie nur so lange und so gläubig folgen, dann helfen persönliche Briefe aus der damaligen Zeit mitunter mehr als hochwissenschaftliche historische Darstellungen, um Antworten zu finden. Die Briefe Deines Bruders und meines Schwiegervaters (gefallen 1941 vor Moskau) ähneln sich sehr. Meine Schwiegermutter gab mir alle Briefe kurz vor ihrem Tod. Der Schwiegervater war im Gegensatz zu Deinem Bruder (20 Jahre) ein gestandener Familienvater mit Frau und zwei kleinen Kindern, aber immer noch diese "Lust am Dienen", diese Freude "am straffen Dienst", diese Siegeszuversicht, die Selbstverständlichkeit und absolute Zweifelsfreiheit an allem, was geschah. Es ist kein Wunder, dass sich ganz normale Deutsche im Laufe der nächsten Kriegsjahre an heute unvorstellbaren Verbrechen beteiligt haben. Solche Briefe (ohne Namensnennung) in geeigneter Weise publik zu machen, wäre meiner Ansicht nach schon wichtig. Aber dann taucht stets die Frage auf, lesen es die, die es wirklich lesen sollten? Manche wollen nicht aus der Vergangenheit lernen und fühlen sich mit ihren Scheuklappen und dem Brett vor dem Kopf ganz wohl.

Gegenwärtig gibt es bei mir überhaupt keine Möglichkeit für geruhsames Lesen und Aufschreiben von Gedanken. Das zweite Halbjahr ab Februar ist in der Schule immer anstrengender als das erste. Nun bin ich dieses Jahr noch einmal mit fast allen Wochenstunden in den 12. Klassen eingesetzt und damit geht es von Woche zu Woche näher auf das Abitur zu. In den 10. Klassen bin ich für die Vorbereitung des Kurssystems der kommenden Schuljahre verantwortlich, das bedeutet auch viele Befragungen, Belegpläne, Gespräche mit Schülern und Elternversammlungen. Karins Fächer (Deutsch und Musik) erfordern einen ziemlich hohen Korrekturaufwand. Das ist bei mir zwar nicht der Fall, dafür kommen immer mehr Kinder und Jugendliche aus Verwandtschaft und Bekanntschaft, um Nachhilfe in Mathematik und Physik zu erhalten. Wenn es Frühling wird, gibt es draußen in Tautenhain auf den 2500 qm auch zu tun. Jetzt spüre ich deutlich meinen Muskelkater, denn gestern bin ich auf den Bäumen herumgeklettert und habe viel altes Astwerk herausgesägt. Das ist alles auch ganz schön und die Arbeit an frischer Luft tut gut - wenn aber die Zeit dafür nur „weggemaust“ wird, macht alles weniger Spaß. Der neue Computer - mit den vielen neuen Möglichkeiten des Internets, des Scanners, der E-mail - wird zunächst auch eine Menge Zeit der Einarbeitung beanspruchen. Andererseits sind diese vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten so faszinierend. Das gewöhnliche Fernsehen tritt immer mehr in den Hintergrund. Je mehr Programme ausgestrahlt werden, um so größer ist der Anteil an billigem Mist.

Dich interessiert immer wieder, wie sich in Deutschland bzw. in Sachsen alles entwickelt. Ich lege aus der heutigen Leipziger Volkszeitung etwas bei. Was allein im Norden von Leipzig mit dem neuen Flughafen, der Neuen Messe, an Straßen- und Eisenbahnbauten entstanden ist und laufend entsteht, ist beeindruckend nur einmal. Den Umbau des Hauptbahnhofes hast Du ja letztens mitbekommen. Aber auch in Geithain tut sich Vieles. Das Bürgerhaus, die frühere Filmbühne aus den 1950er Jahren, ist fertig. Gleiches gilt für eine ganz tolle, moderne Turnhalle in Geithain-West. Am Alten Rathaus wird tüchtig gearbeitet und sicher wird es nach Fertigstellung ein Schmuckstück für Geithain. Die Baracken gegenüber der Paul-Guenther-Schule sind längst verschwunden und auf dem Gelände sind fünf tadellose Häuser für Betreutes Wohnen entstanden. Elektro-Löffler in der Chemnitzer Straße hat sich gewaltig vergrößert: Kauf des Bauerngutes an der Ecke Bruchheimer/Dresdener Straße und Umbau zu Lager- und Produktionsräumen, Kauf der ehemaligen Fleischerei Irmscher mit dem Gelände bis hinunter zur Stadtmauer. In dem Gebäude ist ein großer Laden für Elektrobedarf und Haushaltsgeräte (vom Fön bis zu den größten Gefrierschränken und Waschautomaten in einer Riesenauswahl) entstanden. Überall wird gebaut, andererseits sind arbeitslose Bauarbeiter mit einem großen Prozentsatz vertreten und Meldungen über Konkurse von Baubetrieben findet man immer wieder in der Zeitung. Es ist mitunter irgendwie verwirrend. Alles schimpft - in letzter Zeit besonders die Bauern, die wegen Europa Einbußen erwarten - aber andererseits hat man den Eindruck, dass es vielen Leuten wirklich immer besser geht. Die Reiseagenturen verbuchten in der Wintersaison Maximalumsätze. Meine zwei jungen Physikkollegen an der Schule (26 und 32 Jahre alt) werden in diesem Jahr mit ihrem Hausbau fertig, eine andere junge Kollegin erzählt begeistert von ihrem Besuch der Internationalen Immobilienmesse in Chemnitz. Sie liebäugeln in der Tat mit einem "Haus in der Provence". ---- Das alles 10 Jahre nach dem Fall der Mauer!! --- Und dann noch so eine Seltsamkeit: Keiner will ernstlich wieder DDR-Verhältnisse, aber die PDS hat Zulauf! Ich bin mir zur Zeit wirklich nicht darüber klar, wer im gegenwärtigen SPD-Streit recht hat: Die einen wollen sie ausgrenzen und lehnen jegliche Koalitionen mit der PDS ab, die anderen erhoffen durch eine Regierungsbeteiligung (wie in Mecklenburg-Vorpommern) eine Zügelung der PDS, ein Nachlassen ihrer Anziehungskraft, wenn sie erst einmal in der Verantwortung steht.

Noch einmal zurück zu den alten Briefen Deines Bruders und meines Schwiegervaters. Vieles ist für uns heute nur schwer nachvollziehbar. Es ist schließlich alles vor über 50 Jahren geschehen. Für uns liegt die DDR- Zeit gerade mal 10 Jahre hinter uns. Ich frage mich heute auch manchmal, wieso man die geistige Einengung und die räumliche Einmauerung damals nicht stärker empfunden hat. Es will einem nicht mehr in den Kopf, dass beispielsweise ein Kontakt über Telefon, Post oder E-mail schon mit Menschen oder Institutionen in Westdeutschland schwer, mit Europa oder Amerika gänzlich ausgeschlossen war. An das Reisen dorthin gar nicht zu denken. Die Irlandtouren sind für mich immer wieder das Musterbeispiel. E-mail an Irish Cycling Safari in Dublin, Bezahlung über Credit-Card, Flugticket telefonisch reservieren, ein Reisebüro ist schon gar nicht mehr nötig. Oder unsere Reise mit dem Auto im Sommer nach Südfrankreich: Kenntnisnahme der vielen Anzeigen im Reiseteil der "Zeit", Anruf bei den französischen Adressen, Prospekte schicken lassen, auswählen - fertig. Oder der Umgang mit den Presseerzeugnissen, die Kunst des Auswählens, Herausfinden der für sich richtigen Zeitung, das Kennenlernen verschiedener Meinungen zu einer Sache - Du hast mich damals mit der "Zeit" sehr gut beraten! Ich möchte sie keinesfalls mehr missen und komme jetzt auch ganz gut mit ihrem Umfang zurecht. Inzwischen ist es dagegen in Kanada schwieriger geworden, "Die Zeit" zu erhalten, wie Du letztens schriebst?

Damit soll es aber für heute genug sein. Herzliche Grüße von Geithain nach Kanada! Eure Geithainer Karin und Gottfried

26. Mai 1999

Lieber Gottfried, ich las vor kurzem ein Essay von Günter Grass in der „Zeit“ mit dem Titel „Der lernende Lehrer“. Darin geht es auch um das „Prinzip Zweifel“: Ich vermisste es so in dem Bericht von Paul Hammer, des Leiters der Paul-Günther-Schule. Du hattest mir die Broschüre vor einiger Zeit geschickt. Nie in den vielen Jahren, in denen er die Schule leitete, sind ihm Zweifel aufgekommen über die Richtigkeit dessen, was die Schüler in seiner Schule lernten. Es war doch einiges schief gegangen mit dem Sozialismus in der DDR, sonst hätte man die Mauer nicht gebraucht. Grass zweifelt an den „Segnungen des Marktes“, er erhebt den Zweifel zum Prinzip, er meint, dass wir niemals uns sicher fühlen sollten über die Richtigkeit unseres Handelns. Und dann erwähnt er Hartmut von Hentig, dessen Bücher ich gern lesen würde: „Wir müssen uns entscheiden, damit fängt alle Pädagogik an. Wollen wir eine Homepage-Öffentlichkeit, in der jeder sich an jeden wendet und sich in die Folgenlosigkeit einübt, in das Nichtverantworten-Müssen dessen, was man in die Welt gesetzt hat? Wollen wir die ständige Beschleunigung, die fortgesetzte Entsinnlichung, die Preisgabe der Unmittelbarkeit, der multa statt multum? Wollen wir digitale Vernetzung mit immer mehr Unbekannten statt Verbindung und Auseinandersetzung mit denen, die uns angehen und die wir angehen? Wollen wir das Untergehen der Aufmerksamkeit im großen Geräusch und der ständigen Überblendung? Wollen wir die Zunahme von „Schein“, die Verdrängung der erfahrbaren Wirklichkeit durch die „virtuelle“, des Kostbaren und Widerständigen durch das Verfügbare und Geläufige.... Mit diesen weder rhetorischen noch ironischen Fragen sind nicht die neuen Medien angeklagt, sondern unsere Willenlosigkeit, unser Zauberlehrlingsübermut, unser Opportunismus und unsere in ihm gründende Unfähigkeit zu erziehen.“

Dieser Absatz beschreibt sehr gut, dass wir uns nicht in jedes neue technische Abenteuer stürzen müssen. Keiner kann mich davon überzeugen, dass schneller und schneller, mehr und mehr, lauter und lauter auch besser und besser ist. Vielleicht findest Du die Zeit, mit mir über dieses als „Lehrer“ ins Gespräch zu kommen.

Zu dem Bild (s. Bild 8 und 9) von uns, aufgenommen vor fast 40 Jahren: Du weißt, dass wir 1954 nach Kanada ausgewandert sind. Im Herbst 1959 erhielten wir die Kanadische Staatsbürgerschaft. Wir wohnten damals auf einem Gut in der Nähe von Richmond Hill, nördlich von Toronto. Eine Dame kam von der Lokalzeitung, um uns zu gratulieren und zu „interviewen“. Sie machte diese Aufnahme in unserem damaligen Wohnzimmer und schrieb einen langen Artikel mit unserer Geschichte.

Für heute sei das genug. Wir wünschen Euch alles erdenkliche Gute und Schöne. Greetings and much love, from John & Gisela

Geithain, 04.06.99

Lieber John, herzlichen Dank für Deine Briefe mit den Fotos. Ich habe alles erhalten und stehe wieder einmal in Deiner Schuld. Mein letzter Brief, ich sehe ihn hier auf dem Computer vor mir, war Anfang März! Ich hoffe, Du hast unsere Karte von Teneriffa sowie inzwischen auch die von England (Partnerschule in Eastbourne) erhalten. Seit Sonnabend bin ich zurück und es gab, Gott sei Dank, keine Unfälle oder andere besondere Vorkommnisse mit unseren 30 Schülern. Es war ziemlich anstrengend, andererseits aber auch überaus interessant. Die zwei Exkursionen nach London, dann je eine nach Brighton und Hevercastle (das Schloss der Astors, den Gründern der Waldorf-Astoria-Hotels) boten eine Menge an Sehenswürdigkeiten. Das eigentlich Neue aber für mich war das Kennenlernen des englischen Schulalltags: die Kinder sind von 9 Uhr am Morgen bis abends 18 Uhr, zweimal in der Woche sogar bis 19.30 Uhr, in der Schule. Auf den Sportplätzen herrschte ununterbrochen Betrieb und immer spielten welche Kricket, Basket- oder Volleyball! Neben Sport gab es eine schier unübersehbare Zahl von anderen "activities", vom Kochen über künstlerisch-musische Arbeitsgemeinschaften bis zu Computerübungen war alles vertreten und die Ergebnisse konnte man im Schulhaus an Bildern, Berichten und Ausstellungen in Ruhe betrachten. Insgesamt eine gute Atmosphäre und ein entspanntes Verhältnis der Schüler untereinander bzw. zwischen Lehrern und Schülern. Ich habe mir viel Informationsmaterial beschafft und werde in der Schule meines Enkels in Erfurt etwas Reklame machen. Ich glaube, die 14 Tage waren für unsere Peniger Schüler ganz wichtig und es hat ihnen, nach kurzer Eingewöhnungszeit, auch gut gefallen. Die St. Bedes-School in Eastbourne beherbergt das ganze Jahr über für jeweils 14 Tage Schüler aus sächsischen Gymnasien. Vielleicht klappt es noch einmal, dass ich, zwar nicht als aktiver Lehrer, aber als Rentner-Opa eine Erfurter Klasse begleiten kann. Eastbourne ist ja auch ein sehr beliebtes Seebad in England. Ein englischer Kollege lieh mir sein Fahrrad, so konnte ich an zwei Vormittagen die herrliche Gegend von Sussex bzw. West-Kent genießen! Alles gut, einerseits, aber zur Zeit bin ich krankgeschrieben. Drei Tage vor Reiseantritt zeigten sich Anzeichen einer Grippe, ich ging aber nicht zum Arzt in der Hoffnung, das Seeklima würde schon helfen. Husten und Schnupfen blieben leider, mit dem Husten wurde es sogar noch schlimmer. Nun setze ich ein paar Tage in der Schule aus - damit bleibt etwas Zeit zum Schreiben! Im Juli wird die Irland-Rad-Woche wieder Gelegenheit für das Englisch-Sprechen geben ---- English learning by cycling! Viele werden wieder aus USA kommen und fast alle kennen kein deutsches Wort! Übrigens haben die Deutschlehrer an der englischen Schule das gleiche Problem wie Frau Shuler damals in Dover: nur noch wenige Schüler lernen Deutsch!

Ehe ich es vergesse, hier erst einmal ein paar praktische Dinge aus Deinen Briefen:

a) Eine Kopie Deines Aufnahmeantrages für den Geithainer Heimatverein e.V. liegt diesem Brief bei. Ich bekam sie von Herrn Bessert, unserem Kassierer und Schriftführer. Dein Beitrag ist mit Deinem Scheck für die Jahre 1999 bis 2001 (3 x 36 DM) damit bezahlt. Bist Du so einverstanden?

b) Ein Meßtischblatt (MB) zur Umgebung von Stünzheim bei Ehrenberg in Thüringen will ich für Deine Bekannten gern besorgen. Es gibt dabei nur die Qual der Wahl. Herr Diederichs brachte mir heute einige Prospekte, die von den Vermessungsämtern herausgegeben werden, allerdings nur Sachsen betreffend. Für Thüringen gibt es sie aber analog: Eine riesige Auswahl an aktuellen, historischen, geologischen, "mundartlichen" Karten und Atlanten werden von den Ämtern angeboten. Ich habe nur gestaunt, was man sich so alles bestellen kann. Egal, woher die Bestellung kommt, die liefern das Gewünschte per Nachnahme! Herr von Larisch könnte sich doch auch an den Bürgermeister der Gemeinde Stünzheim (Postleitzahl 04603) wenden, um Bildmaterial oder Texte zu erhalten. Auf jeden Fall würde ich ihm zu einem Schreiben an das thüringische Vermessungsamt raten. Es gibt aber auch spezielle historische Karten! Ich werde in der nächsten Zeit versuchen, die homepage von Ehrenberg im INTERNET zu finden. Ich vermute, dass Stünzhain eingemeindet wurde. Die homepages sind ja eine feine Sache! Letztens fand ich im "Briefkasten" der Geithainer homepage eine Leserzuschrift aus den USA vom Enkel des Herrn Persecke. Er hat über INTERNET mit großem Interesse die Informationen über Geithain (mit vielen schönen Farbbildern) gelesen. Die Persecke & Wienand GmbH war der Nährmittelbetrieb draußen an der Wickershainer Kirche, von den Geithainern "Haferflockenbude" genannt. Vielleicht erinnerst Du Dich?

c) Meinen Briefwechsel (per E-Mail) mit der Stelle in Dresden wegen einer eventuellen Veröffentlichung Deiner "Erinnerungen 1945" findest Du ebenfalls hier als Beilage. Schreibe mir bitte, wie wir weiter verfahren wollen. Die in dem Schreiben angeführte Internetadresse muss ich mir bei Gelegenheit auch einmal anschauen.

Den Artikel von Grass in der "Zeit" vom 20. Mai d. J. habe ich noch nicht gelesen. Ich war ja in der Woche unterwegs und der "Zeit"-Stapel ist in den vergangenen Wochen bedenklich gewachsen. Demnächst ist radikales Sortieren angesagt und nur die wichtigsten Beiträge werden zum Lesen aufgehoben. Du kennst sicher auch den Artikel der Gräfin Dönhoff zum 50. Jahrestag der Bundesrepublik. Ich glaube, er erschien in der Ausgabe vom 27.05.99. Ein Genuss, ihn zu lesen, und man freut sich, wenn man seine eigenen Vorstellungen und Meinungen fast vollständig bestätigt findet. Gleichzeitig ärgert man sich, sie nicht selbst so klar und sprachlich angenehm formulieren zu können. Ihre Darlegungen zum Demokratieverständnis und zur Demokratiefähigkeit der Deutschen treffen den Kern. Sie ist insgesamt optimistisch und schließt Rückfälle in Richtung Nationalismus oder gar in totalitäre politische Strukturen absolut aus. Hoffentlich hat sie Recht. Ich bin mir darüber nach wie vor nicht so sicher. Du kennst meine Meinung, wonach obrigkeitsstaatliches Denken, Fühlen und Gebaren in Deutschland zu tief sitzen. Ich finde das zu oft im Alltag, besonders hier in Ostdeutschland, bestätigt. Hier schließt sich wohl auch der Kreis zu Deiner Meinung über Paul Hammers Buch zur Schulgeschichte von 1949 bis 1989 in Geithain: Das Absolute, das Nichterwähnen von möglichen anderen Sichtweisen oder anderen Entscheidungen, das unkritische Zurückschauen. Ich schrieb Dir schon einmal, was ich in dem Buch von Hammer ganz besonders vermisse: wenigstens einen Hauch einer Andeutung in der Richtung, dass er und seine ganze Altersgruppe in ihrem Leben gleich zweimal auf Ideologie und politische Propaganda hereingefallen sind. Und warum? Eben auch deshalb, weil sie in der jeweiligen Zeit sich und anderen ein Hinterfragen, ein Zweifeln, eine umfassendere Sicht nicht erlaubt hatten bzw. glaubten, sich das nicht erlauben zu können.

Zu einigen anderen Stichworten in Deinem Zitat aus Grass` Artikel: Homepageöffentlichkeit, Verdrängung der erfahrbaren Wirklichkeit durch eine virtuelle Welt, Preisgabe der Unmittelbarkeit, Zauberlehrlingsübermut ... Ja, es gibt bei mir auch Zeiten, wo ich die Gefahren der neuen Medien überbewerte gegenüber deren Nutzen und Faszination. Gegenwärtig - seit März habe ich die neue Computeranlage - überwiegt wohl eher das zweite. Davon aber einmal abgesehen, glaube ich, dass der ständige Umgang mit jungen Leuten davor schützt, zu schwarz zu sehen. Wenn ich täglich erlebe, wie selbstverständlich sie mit dem Computer umgehen, frage ich mich manchmal: War es nicht zu allen Zeiten so, dass die Alten gegenüber allem Neuen, Unbekannten vorsichtiger und auch ängstlicher reagierten als junge Leute? Ist dieser unser Punkt auf dem Zeitstrahl der Menschheitsentwicklung nun ein „stinknormaler“ Punkt oder doch irgendwie ausgezeichnet? Liegt er näher am Ende oder geht es von ihm aus in Zeitrichtung auch wieder unendlich weiter? Ist es nicht möglich, dass ein alter Mensch seinen persönlichen Endzeitpunkt instinktiv mit einem allgemeinen Ende gleichsetzt? Es ist keine Frage, dass die neuen Medien, die ganze neue Technik überhaupt (s. Möglichkeiten der Medizin, Gentechnik, Raumfahrt u.a.) Gefahren in sich birgt und dass ihre richtige Anwendung erlernt, erkannt, erfahren werden muss. Und dass sich Moralauffassungen immer geändert haben, dass alte Menschen Verhaltensweisen als unmoralisch, dekadent empfanden/empfinden, die für die Jungen, auch wenn diese dann selbst zu den Alten gehören, ganz selbstverständlich waren/sind - warum sollte es heute anders sein als zu allen Zeiten?

Kosovo!? NATO-Offiziere treffen in Belgrad mit Milosevic zusammen. "Schon morgen könnten die Bombardierungen aufhören!"--- Wenn es gelingt, dass die Flüchtlinge, beschützt durch UNO/NATO-Soldaten bis zum Winter zurückkehren und das serbische Militär aus dem Kosovo heraus ist - dann haben die vielen Opfer vielleicht doch noch einen Sinn: Ein bis heute grundlegendes völkerrechtliches Prinzip der "Nichteinmischung in innere Angelegenheiten eines Staates" ist relativiert. Ein potentieller Diktator kann nicht mehr machen, was er will! Hoffentlich geht alles gut. Du sagtest einmal in einem Telefongespräch, Du würdest Dich zerrissen fühlen angesichts der NATO- Bomben auf Serbien. Es war ja auch diffizil: In Leuten wie Blair oder Fischer konnte man ja nun wahrlich keine kriegslüsternen Ungeheuer sehen, von Scharping gar nicht zu reden. Ich neige zwar nach wie vor dazu, dass politisch/ diplomatische Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft waren, den Krieg zu vermeiden. Gewöhnlich sagt man, die Geschichte wird erst zeigen, ob die Entscheidung richtig war. Zweifel sind dabei auch sicher angesagt:

-Wann hätten die Westmächte nach 1933 Hitler wirksam stoppen sollen?

-Hätte Westdeutschland am 17.Juni 1953 aktiv eingreifen müssen?

-Hat sich die NATO am 13.August 1961 richtig entschieden?

Die Gräfin äußert sich in dem bewussten Artikel im Rückblick auf die letzten 50 Jahre zu einer ganzen Reihe von politischen Entscheidungen in der Deutschlandpolitik.

------- Bin gerade zurück aus Tautenhain: Gras mähen mit Sense und Wetzstein, dörfliche Sonntagsruhe mit Glockengeläut von der Jacobus-Kirche, Kuckuckrufe neben dem vielfältigen anderen Vogelgezwitscher, schweißtreibende Arbeit ja, aber angenehme Erschöpfung danach! Das Mähgeräusch rief bei mir Kindheitserinnerungen wach: Schreibweise und Aussprache des "f" führte unser Lehrer Krummbiegel in der 1. Klasse ganz geschickt ein als Sensenbaum und eben Geräusch beim Mähen mit der Sense! In solchen Stunden draußen in Tautenhain oder auf einer Radtour durch die herrliche Gegend z.B. des Muldentals sind Fernseher und Computer ganz weit weg, da "geht die Aufmerksamkeit nicht im großen Geräusch und der ständigen Überblendung unter, ....". Das Genießen des Unmittelbaren, die Naturverbundenheit und die Freude an körperlicher Betätigung, auch die Gespräche mit dem Gartennachbar - das zählt mehr als die virtuelle Computerwelt. Für unsere Generation! Der Enkel wird das ganz anders sehen, jetzt schon und erst recht, wenn er älter ist.