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Donnerstag, 8. März, 13 Uhr
von Hausens Villa im Grunewald

Ludwig Müller von Hausen war es gewohnt, pünktlich zum Mittagessen daheim zu erscheinen. Von seinem Büro auf dem Kurfürstendamm bis zu seiner kleinen Villa im Grunewald waren es zwanzig Minuten Fahrzeit, die er – ganz gleich wie die Verkehrslage auch war – meist exakt einhielt, denn er kannte alle Schleichwege. Das war seine Art von Zuverlässigkeit. Seine Frau liebte seine festen Angewohnheiten, denn sie gaben ihr die Möglichkeit, ihn zielbewusst zu verletzen, wann immer ihr danach zumute war, und in letzter Zeit war ihr häufig danach zumute.

Als sie von Hausen kennenlernte, siebzehn Jahre war das nun her, da glaubte sie, das große Los gezogen zu haben. Als ob er sie je im Unklaren darüber gelassen hätte, wie er sie und ihresgleichen hasste. Aber sie fand das männlich, damals, diese ostentative Verachtung, die er ihr und ihrem Lebensstil entgegenbrachte. Ihr selbst ging es ja nicht anders. Sie stammte aus einer alten Westberliner Schauspielerfamilie und musste schon mit sechzehn ihre Abende in der Paris Bar verbringen. Ihre Mutter nutzte sie wie einen billigen Köder, um an die Regisseure und Produzenten heranzukommen. «Mein kleine süße Romy», so wurde sie angepriesen von ihr; «Ramona», korrigierte sie dann, «meine Name ist Ramona», aber den Fluch konnte sie damit nicht brechen. Sie hatte Romy Schneiders Lächeln – und eine ähnlich skrupellose Mutter, aber damit endeten auch schon die Gemeinsamkeiten. Sie wollte keine Karriere. Von der ersten Stunde an hasste sie die Film- und Fernsehleute, mit denen ihre Mutter sie bekannt machte. Sie hasste die Kokserei, sie hasste das hohle Lachen, die schlechten Manieren, den auftrumpfenden Narzissmus all dieser Ego-Darsteller. Nur – sie sah keinen Ausweg. Ihr Vater, Boulevardschauspieler der Art, die nicht mehr gebraucht wurde, deklamierte daheim vor dem Spiegel besoffen Monologe aus seiner Glanzzeit in den Achtzigern. Geld hatte er schon lange keins mehr verdient, und die wenigen Rollen der Mutter brachten gerade so viel ein, dass sie die Miete bezahlen konnten, meist jedenfalls. Für die Ernährung der Familie war seit dem sechzehnten Lebensjahr ganz allein sie zuständig. Was anfangs nicht schwerfiel. Die Rollen in den allabendlichen Soaps spielte sie mit einer Routine, die die Regisseure verblüffte, die aber für sie ganz selbstverständlich war. Sie hatte seit ihrer Kindheit eine Rolle gespielt, dagegen war der seifige Quatsch im Fernsehen ein Kinderspiel.

Mit siebzehn drehte sie den ersten abendfüllenden Spielfilm und wurde von einem der Hauptstadtredakteure zum Filmstar erklärt. Aus Dankbarkeit schlief sie mit ihm.

Das war ein Fehler, denn sie machte danach aus dem Abscheu vor seiner Person keinen Hehl. Er war nicht nur ein lausiger Liebhaber gewesen, er erwies sich vor allem als unglaublicher Dummkopf, und das nahm sie ihm persönlich übel, denn es entwertete jedes seiner Komplimente.

Ramona war sich ihrer Talente als Schauspielerin völlig sicher, nur wer sie als Mensch war, das wusste sie nicht. Nun kam dieser Zeitungsschreiber daher, erklärte sie zum Star und redete mit ihr, als wäre sie ein Kunstgeschöpf der Babelsberger Filmstudios.

Er wollte sie als Trophäe, nicht als Gegenüber. Er spürte ihre Verachtung und ließ fortan kein gutes Haar an ihr. Wer einmal zum Opfer der Regenbogenpresse gemacht wurde, erholte sich davon nur sehr schwer. Ihr war es gleichgültig, was die Blätter der Hauptstadt über sie titelten, sie wusste, er hatte die Gerüchte eingespeist in diesen Malstrom der Verleumdungen, in den sie nun geriet. Drogenkonsum war noch das Harmloseste, ein verleugnetes Kind, eine nicht zu therapierende Neigung zur Schizophrenie, pyromanische Attacken; dass sie nicht als Hauptverdächtige für die Autobrände in der Hauptstadt in Gewahrsam genommen wurde, erstaunte sie zuweilen selbst.

«Du musst aus der Schusslinie», befahl ihre Agentin und schickte sie damals vier Wochen nach Amerika, was ihr guttat. Das Elend dort machte sie zur Europäerin. Sie war plötzlich stolz auf ihre alten Heimat, auf das alte Europa. Sie empfand tatsächlich so etwas wie Patriotismus.

«So, und damit diese Journalistenkläffer dir nicht noch mal ans Bein pinkeln, besorgen wir dir einen guten Anwalt.»

So war sie mit Ludwig von Hausen bekannt geworden. Er brachte sie vom Koksen ab, das sie sich in Stresszeiten angewöhnt hatte, ohne dem verfallen zu sein, empfahl ihr eine Therapie, um das schlechte Gewissen ihren Eltern gegenüber zu lindern, und sprach mit ihr von Mensch zu Mensch. Ja, so altmodisch drückte er sich aus: «Mit Ihnen muss man von Mensch zu Mensch reden. Das hat vorher wohl noch niemand getan.» Sie diskutierten über Politik, ganz ernst und frei von Zynismus, er ging mit ihr spazieren, sie segelten auf dem Wannsee, spielten Tennis. Er war so bürgerlich, so erwachsen, sie hätte heulen können vor Glück. Er bot ihr seine Hand, lebenslang, sprach von den drei Kindern, die er sich von ihr wünschte, möglichst bald, und hielt bei ihrem Vater um ihre Hand an.

Es war ganz großes Theater, von allen Beteiligten. Sie glaubte, endlich im Leben angekommen zu sein. Sie wollte es glauben. Jetzt, im Nachhinein, war ihr klar, sie hatte sich vorsätzlich belogen, von Anfang an. Dennoch, dieser Aufbruch damals war so schön gewesen, selbst die Erinnerung daran hatte unter dem Alltag nicht gelitten.

Mit einer Energie, die durchaus mit Leidenschaft zu verwechseln war, wenn man von Menschen keine Ahnung hatte, entwarf von Hausen damals ihr gemeinsames Leben. Sie heirateten kirchlich, im Kloster Chorin, ein ganz kleiner Kreis von Menschen, die ihnen von Herzen alles Gute wünschten. So schien es ihr damals. Die Hochzeitsreise führte nach Siena, und er, der kühle Jurist, machte sie auf so leidenschaftliche Weise mit der Kunst der Toskana vertraut, mit den Bauwerken, den Plastiken, den Gemälden, dass ihr das Herz überging vor Gefühl.

Sie fühlte sich wie eine Prinzessin, die ihr neues Schloss bezog. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass er sie bewusst weich stimmte, auf dass sie schneller für Kinder bereit war. Er wollte ihre Liebe nicht für sich, es ging ihm um Kinder, drei an der Zahl, rasch geboren, deswegen tat er alles, sie romantisch zu stimmen, weich, aufnahmebereit. Er war berechnend auf eine Art, die sie nie für möglich gehalten hatte.

‹Du spinnst›, dachte sie, als ihr das erste Mal der Verdacht kam, dass er gar nicht sie meinte. ‹Du spinnst, er liebt dich, unglaublich aufrichtig altmodisch liebt er dich!›

Aber so war es nicht. Im ersten Jahr konnte sie es verdrängen. Sie wurde schwanger und die Freude über die Schwangerschaft verdrängte die Erinnerung an das körperliche Zusammensein mit ihm. Die zweite und dritte Schwangerschaft folgten rasch darauf. In den ersten fünf Jahren ihres Zusammenseins kam sie kaum einmal zum ruhigen Nachdenken.

Nach dem dritten Kind schlief er nicht mehr mit ihr. Es fiel ihr erst gar nicht auf, dann, als sie nachrechnete, wie lange er nicht mehr in ihr Schlafzimmer gekommen war, hielt sie es für normal. Väter sind zuerst Väter, dann Liebhaber. Aber er sah seine Kinder kaum an, und er sah sie nicht mehr an. Zugegeben, sie hatte keine sonderliche Freude daran gehabt, mit ihm zu schlafen. Es war nicht widerlich gewesen, wie mit dem Journalisten, es war seltsam, mit ihm intim zu sein.

Mit siebzehn war sie noch Jungfrau gewesen, dann entschloss sie sich, dem rasch ein Ende zu machen, und so war es auch gekommen. Es war die Umsetzung eines Entschlusses, mehr nicht. Ihr Freund damals war auch Schauspieler, sie selbst hatte gerade ihren ersten Auftritt in einer Daily Soap, es fiel ihnen beiden nicht schwer, eine glückliche Beziehung zu schauspielern. Aber der Sex war es nicht, er war nicht schön, er war nicht unschön, es war Gymnastik mit Wohlfühlgarantie. Er hatte Affären, sie hatte Affären, das war so verabredet und sicherte den Marktwert, aber keinen Mann hatte sie je mit Liebe berührt, und nie hatte ein Mann ihr Herz zum Beben gebracht. So wünschte sie es sich, ein wenig kitschig. Und auch wieder nicht. Eigentlich hatte sie absolut keine Vorstellung davon, was sie wirklich wollte. Als dann von Hausen in ihr Leben trat, wusste sie, sie wollte ihn. Mit ihm würde sich alles andere von selbst ergeben. Anfangs dachte sie auch wirklich, dieses Verliebtsein im Kopf würde automatisch irgendwann auch ihr Herz erreichen und ihren Körper erwärmen. Das war ein Irrtum. Mit ihm schlafen hieß intim werden. So drückte er sich aus. So gab er sich. Fehlte nur, dass er sich davor und danach in ihrer Gegenwart die Hände wusch. Anfangs schien es ihr nur eine Eigenart, dass er immer mit geschlossenen Augen dalag. Immer schien er an etwas anderes zu denken. An eine andere? Er dachte nichts, wenn er die Augen schloss. Schon gar nicht an eine andere Frau, oder an Männer, Knaben, Mädchen, was auch immer. Er dachte gar nichts. Es war ihm einfach nur zuwider. Aber das wurde ihr erst viel später klar.

Ihre Neugier wich langsam einem immer größer werdenden Groll, nicht gegen ihn, gegen die Liebe im Allgemeinen. Ihr Wille, alles gut machen zu wollen, machte sie blind für seine Reserviertheit. Sie gab sich selbst wie immer die Schuld an allem. Dank ihrer Mutter.

Er hatte von Anfang an Wert auf getrennte Schlafzimmer gelegt, die zwei Kindermädchen taten alles, um die Kinder von ihm fernzuhalten – das war sein ausdrücklicher Bescheid bei ihrer Einstellung gewesen. Und sie selbst – sie war nicht mehr da für ihn, einfach nicht existent. Anfangs tat sie das, was ihre Mutter sie gelehrt hatte. Sie zog sich hübsch an, elegant, verwegen, verrucht, streng – keine Rolle, die sie erprobte, verlockte ihn zum Applaus. Sie schmollte, zog sich zurück, begann ihm Szenen zu machen – nichts. Erst dann, nach Monaten, suchte sie das Gespräch.

 

«Warum …», sie hatte sich die Worte vorher sehr sorgfältig zurechtgelegt und die einfachsten gewählt, um sich nicht selbst zu verwirren, «warum lieben wir uns nicht mehr?»

Er stand mit dem Rücken zu ihr, am Schreibtisch, in seinem Arbeitszimmer, das einen so schönen Blick auf den Garten bot. Er drehte sich langsam um, elegant gekleidet, wie immer im dunklen Anzug, selbst an einem Samstag, da er nur zur Hause arbeiten musste.

«Was ist, mein Schatz», fragte er sie in sehr freundlichem Ton und sah sie eindringlich an. Es war klar, er hatte ihre Frage gehört, er hatte sie verstanden, er hatte sie sehr gut verstanden, aber er machte nicht die geringsten Anstalten, sie zu beantworten, er machte gute Miene zum bösen Spiel.

Sie war Schauspielerin genug, um ihn vollends zu durchschauen. Er hatte eine Rolle gespielt, er hatte sie gut gespielt, und sie war darauf hereingefallen. Sie hatte ihm vertraut, und sein Blick sagte nicht mehr und nicht weniger als: Spiel weiter! Keine Drohung, die Drohung lag nicht in seinem Blick oder seiner Gebärde, die Drohung stand im Raum, das Haus war die Drohung, alles um sie herum war Drohung, selbst ihre Kinder schienen jetzt zur Bedrohung zu werden, denn sie fesselten sie an diesen Mann, der ihr Unglück wollte. Sie spürte das erste Mal, was sie anfangs für Leidenschaft gehalten hatte, nun in seiner absoluten Reinheit: Sie spürte nur Hass in diesem Mann. Jede Faser war erfüllt davon, er war böse, so böse, dass er jeden anderen täuschen konnte, denn das war unmöglich, dass ein Mensch so ganz und gar böse war.

«Was ist, mein Schatz?» Das war die einzige Perfidie, die er sich erlaubte, ihre Frage zu wiederholen.

«Ach nichts», erwiderte sie, als hätte sie gerade nach seinen Wünschen fürs Abendessen gefragt, «nichts ist.»

Sie ging aus dem Zimmer, ohne die Tür hinter sich zu schließen, eilte in den Garten, umschlang einen Baum und rieb ihre Wange an der Rinde, bis sie Schmerz empfand.

Sie nahm den Kampf an. Mit ihrer Mutter konnte sie über ihre Gefühle nicht reden. Ihr Vater war ein Jammerlappen, was man von Ludwig wirklich nicht sagen konnte. Das war die Falle, in die ihr Stolz sie führte. Ludwig von Hausen war ein schlechter Mensch, der Teufel in Menschengestalt, so schien ihr, aber warum hatte er dann sie gewählt? Ausgerechnet sie? Die verzogene Tochter eines drittklassigen Schauspielerehepaars? Er war ein ganz besonderer Mann, anders als alle anderen, also musste sie eine ganz besondere Frau sein, anders als alle anderen Frauen. Das erfüllte sie zunehmend mit Stolz, je länger sie darüber nachdachte. Ihr Tatendrang regte sich. Sie wollte es ihm gleichtun. Anfangs nur in ihren Träumen.

Sie fragte sich zu keiner Zeit, worin denn nun seine Schuld genau bestand. Ob er Steuern hinterzog, Verbrecher deckte, in Drogen- oder Waffenkartellen tätig war, interessierte sie nicht. Sie wollte es einfach nicht wissen. Seine Schuld war in ihren Augen allein die, sie hintergangen zu haben.

Das würde sie ihm heimzahlen. Aber sie schwor sich, es – anders als ihre Mutter – nicht auf dem Rücken ihrer Kinder auszutragen. Sie tat alles, um ihren zwei Söhnen und der Tochter ein Heim zu geben. Klaus, dem Erstgeborenen, den es schon als Kleinkind zum Computer zog; Helmar, dem Introvertierten, der malte und musizierte, und Lisa, die ihr persönlich als Mädchen so fremd war, weil sie sich völlig normal entwickelte und so uneitel war. Gute Kinder, aber ein herzliches Gefühl empfand sie für keines von ihnen. Am ehesten vielleicht noch für Helmar, er war viel femininer als Lisa, aber er gab ihr auch deutlich zu verstehen, wie sehr er sie dafür verachtete, dass sie ausgerechnet diesen Mann geheiratet hatte. Seinen Vater, den er so abgrundtief hasste, dass er Akne davon bekam. Helmar begriff gar nicht, dass sie Komplizen waren. Noch nicht. Aber er würde es schon noch begreifen.

Fünfzehn Jahre hatte sie damit verbracht, die Kinder vergessen zu lassen, dass ihr Vater nicht für sie da war. Nicht weil er so viel arbeitete, sondern weil er als Vater gar nicht existierte. Es war ihr gelungen. Jetzt war es an der Zeit, an sich selbst zu denken.

Ludwig Müller von Hausen schloss die Haustür auf. Er stand still im Atrium und lauschte. Die Kinder waren noch in der Schule. Sie besuchten ein Tagesinternat in der Nähe von Potsdam und kehrten erst spätnachmittags heim. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie dort auch wohnen können – aber das wäre ihnen und seiner Frau nur schwer zu vermitteln gewesen.

Die Haushälterin kam erst gegen vier wieder, wenn es das Abendessen zu richten galt. Er stellte seine Aktentasche ab, zog den leichten Sommermantel aus und hängte ihn in die Garderobe.

Er war sich sicher, dass seine Frau zu Hause war und mit einer Überraschung aufwartete. Sie überraschte ihn gern, und er kam nicht umhin, sie für ihre Ausdauer zu bewundern. Sie schien sich immer noch als seine Partnerin zu fühlen, als Komplizin, obwohl er ihr dazu nie Anlass gegeben hatte. ‹Ein eigenwilliges Ding›, dachte er spöttisch. Er war sich gar nicht mehr sicher, ob er sie selbst töten würde, eigenhändig, das wäre ein fast zu intimer Abschied.

Er schritt langsam die Treppe hoch. Links lagen die Zimmer der Kinder. Helmars Tür stand wie immer offen. Ihm Ordnung beizubringen war völlig sinnlos. Eine Künstlernatur ohne jeden Funken von Disziplin, in einem so heruntergekommen Körper, dass es ihn jedes Mal anwiderte, seinen Sohn sehen zu müssen. Lisa war anders, sie war stolz auf ihre sportliche Gestalt, zu Recht. Sie machte immer eine gute Figur. Beim Tennis, beim Hockey, beim Reiten. Für seine Tochter empfand er so etwas wie Stolz, sie schien neben ihm der einzige Mann im Haus. Über Klaus und was aus ihm werden würde, geworden wäre, mochte er erst gar nicht nachdenken.

Rechts lagen die zwei Schlafzimmer, getrennt durch das Ankleidezimmer. Ihre Tür stand offen. Das leise Lachen war nicht mehr zu überhören. Es stammte von einem Mann.

Ludwig von Hausen ging langsam auf die leicht geöffnete Tür zu. Er war sich ziemlich sicher über das, was ihn erwarten würde. Diese Situation hatte er in den letzten Jahren schon einige Male erlebt. Sie schlief mit ihren jeweiligen Favoriten gern im Schlafzimmer, sofern die Tür offen stand. Sie tat es aber auch im Wohnzimmer, im Garten, in der Küche. Das erste Mal, als er sie ertappen sollte, hatte sie sich von einem in Berlin nicht unbekannten Preisboxer in der Garage penetrieren lassen. Er fand kein anderes Wort dafür. Denn genau so sah es auch aus, nach einem gewalttätigen Eingriff.

Er sah das gutmütig erstaunte Gesicht des Mannes noch vor sich, der Sekunden zuvor voll Stolz die Gattin des bekanntesten Anwaltes der Stadt gegen die sorgsam aufgestapelten Winterreifen gepresst hatte, den Rock gehoben, ihre langen Beine in den schwarzfelligen Pumps mit den Knien auseinandergedrückt, die eine Hand fest in ihrem Nacken, die andere auf ihrem hochgestellten Hintern.

Der Mann trug Jeans, daran erinnerte er sich noch genau, und blaue Shorts, die ihm zwischen den Beinen hingen. Er ruckelte sich mit der Besessenheit eines Spitzensportlers in sie hinein, und von Hausen war damals fast versucht gewesen zu applaudieren, so sportlich schien ihm diese Veranstaltung. Wäre da nicht der Blick seiner Frau gewesen, die ihn von unten her unverwandt anstarrte. Er erkannte in ihren Augen etwas, was er so nur von sich zu kennen glaubte, Hass, reinen Hass.

Der keineswegs ihm galt, das begriff er in der Folge, er galt dem Schicksal, das sie beide zusammengeführt hatte.

Donnerstag, 8. März, 16 Uhr
Invalidenstraße

Nun drückte sie doch die Klingel des kleinen Musikladens. Sie wollte Lotta vom Musikunterricht abholen, obwohl ihre Tochter das streng verboten hatte.

«Ich bin fünfzehn!»

Das klang sehr komisch aus dem Mund ihrer Tochter, ihres Kindes, das immer noch so zerbrechlich schien, aber sich sehr energisch jeden Erziehungsversuch verbat.

Lotta! Sie hatte so gar nichts mit dem Namen gemein. Damals hatte Becky gehofft, sie könnte ihrem Kind mit dem Namen die Stärke, die Kraft und die Unbekümmertheit einer Pippi Langstrumpf geben. Aber sie war alles andere als unbekümmert, sie machte sich über alles Gedanken, sie vernarrte sich so in Bücher, wie sie selbst es nie getan hatte. Lotta las nicht. Sie verschlang Bücher. Lebte darin. Die wirkliche Welt existierte gar nicht. Sie selbst schien für sie zuweilen nicht zu existieren. Lotta konnte minutenlang den Blick in die Ferne richten, so in sich konzentriert, dass sie keinen Zuruf wahrnahm, nicht einmal den nassen Waschlappen, den sie ihr aus schierer Verzweiflung einmal in den Nacken gepresst hatte, nur um sie aus dieser Trance zu wecken.

Becky machte das Angst.

«Du musst dir keine Sorgen machen!», ermahnte Lotta sie dann immer. Ihre Tochter war sehr streng mit ihr in letzter Zeit. Körperkontakt war verboten, dazu zählte nicht nur jede Form von Zärtlichkeit, sondern auch unabsichtliches Anfassen. Fleisch war verboten, schon lange, inzwischen auch Fisch, und jegliche Nahrung, die nicht aus ökologisch zertifizierten Ursprungsländern stammte. Schlechte Filme waren verboten, amerikanische Serien, deutsche Quizshows … Die Pubertät war eine schwierige Zeit, aber dass sie in Tyrannei ausarten würde, hätte sie nicht vermutet. Anfangs hatte sie das alles noch von der komischen Seite nehmen können, aber inzwischen machte ihr der heilige Ernst ihrer Tochter Sorgen. Zudem wirkte sie zunehmend blasser und vergeistigter in einer Art, die sie an fanatische Klosterschülerinnen erinnerte.

«Wie steht es mit den Jungs?»

Lotta hatte sie völlig entgeistert angestarrt.

«Mama, was für dumme Fragen stellst du mir immer!»

Sie hatte sich empört abgewendet und war in ihr Zimmer gerauscht. Becky sah ihr nur verdutzt hinterher. Mit fünfzehn hatte sie anderes im Kopf gehabt als Bücher. Ihr erster richtiger Kuss. Zungenkuss! Holger, sie hatte ihn fast zwingen müssen. Was für ein Dummkopf! Schade, dass sie so lange bei ihm geblieben war. Der erste Kuss hätte sie eigentlich eines Besseren belehren müssen. Das erste Mal?! Sie musste laut lachen und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Aber es waren nicht viele Passanten unterwegs. Sie sah zur Tramhaltestelle hinüber. Da saß immer noch dieser dicke Mann, völlig in sich gekehrt, ein Buddha in Jogginghosen, der schon die zweite Straßenbahn hatte passieren lassen. Er schien nicht betrunken zu sein, nur völlig teilnahmslos. Irgendwie kam ihr das Gesicht bekannt vor. Aber dicke beschäftigungslose Männer in Jogginghosen gab es in Berlin jede Menge, sie war schon froh, dass er sich nicht eingepinkelt hatte. Sie schüttelte den Kopf.

Es gab immer mehr Verrückte in der Stadt. Auch der Gedanke machte ihr Sorgen. Anfangs hatte sie darüber gelächelt. «Ich werd wohl spießig im Alter», hatte sie sich selbst ermahnt. Aber es fiel ihr immer schwerer, U-Bahn zu fahren oder S-Bahn. Sie mochte die Menschen nicht mehr, sie mochte den Dreck nicht mehr, die Gerüche, die Schmierereien an den Wänden. Am schlimmsten fand sie die falsche Toleranz alldem gegenüber. Sie konnte nicht einsehen, was hip daran war, mit einer Bierflasche durch die Gegend zu laufen und sie irgendwo abzustellen, wo Kinder gut rankamen, oder sie einfach auf den Boden zu werfen. Das war nicht mehr ihre Welt. Anfangs hatte sie noch versucht, den einen oder anderen zur Rede zu stellen. Es waren ja keine Penner. Es waren Jugendliche, chic aussehende, teuer ausgebildete, behütet aufgewachsene Jugendliche, die sie einfach nur auslachten. Sie wollte ihre Tochter hier nicht großwerden sehen. Dabei war das noch der gute Teil der Stadt, die alte Mitte, wo jetzt die jungen Erfolgreichen wohnten, young urban cannibals.

All ihre Freunde schimpften auf die jungen Reichen, die hier ihre Geländewagen auf dem Fußgängerweg parkten, Gourmettüten durch die Gegend wuchteten und spätnachmittags ihre viersprachig parlierenden Kinder von den Privatschulen in die Penthouse-Wohnungen heimführten.

«Eigentlich will ich nur noch weg!»

Es hatte sie verdammt viel Anstrengung gekostet, diesen einfachen Gedanken offen auszusprechen. Zu viel hing daran. Eigentlich ihre ganze Vergangenheit.

«Ich habe nicht versagt!» Das Mantra ihres neuen Selbstvertrauens. «Ich habe nicht versagt!»

So ganz glaubte sie sich noch nicht. Aber sie war auf einem guten Weg. Gut, sie hatte keine Beziehung, sie hatte ein altkluges Kind, das kaum noch Respekt zeigte, sie hasste ihren Job als Altenpflegerin, sie hatte kein Geld für ein neues Leben, den Mut auch nicht, und keinen Mann. Aber anderen ging es verdammt viel schlechter. Ihrer Freundin Inge zum Beispiel, mit dem kranken Vater, oder Heinz, der sich noch einmal zu einem Kind hatte überreden lassen, vermutlich weil er einen altmodischen Namen trug und immer stärker seinem Vater ähnelte.

 

Sie sah auf die Uhr. Zehn nach vier. Sie hätte längst draußen sein müssen. Lotta war nicht unpünktlich. Lotta war nie unpünktlich. Lotta war so ganggenau wie eine Schweizer Uhr. Morgens stand sie eine halbe Stunde früher auf als nötig, um nochmals ihre Hausaufgaben durchzugehen. Nie hatte sie auch nur eine Schulstunde geschwänzt, noch nicht einmal den Wunsch geäußert. Lotta war ihr unheimlich zuweilen. Sie hatte die Sorge, dass sich das Kind zu viel abverlangte. Vermutlich weil sie sich selbst die Schuld an der Scheidung gab. Das hatte die Analytikerin damals gesagt. Lehrbuchratschläge. Die Kinder geben sich die Schuld an der Trennung! Unsinn. Sie wollte die Trennung und Lotta hätte sie auch gewollt. Weil Thomas ein Idiot war. Weil sie wieder einmal auf einen Dummkopf hereingefallen war, dessen einziges Wollen im Leben sich darauf richtete, immer auf der Sonnenseite zu stehen, egal auf wessen Kosten. «Ichichich», das war die einzige Melodie gewesen, die er pfiff, weil, singen konnte er schon gar nicht. Sex erst recht nicht. Hätte sie damals nur ihr Augenmerk ein wenig mehr auf das gerichtet, was ihr heute als Erstes einfiel, wenn sie an ihn dachte. Seine Eitelkeit, seine penible Ordnungsliebe und – das Schlimmste von allem – sein Geiz.

Wie viele unglaublich peinliche Situationen hatte sie mit ihm durchleben müssen! Wenn er keine zehn Cent Trinkgeld gab, wenn er mit ihr im Restaurant darüber stritt, wer die gemeinsame Flasche Mineralwasser zahlen sollte, wenn er am Kindergeld so lange herumrechnete, bis er drei Euro einsparen konnte. Diesen Mann hatte sie geliebt. Vermutlich weil sie gehofft hatte, dass er verlässlich wäre. Verlässlicher als ihr eigener Vater, der sich erst gekümmert hatte, als das Enkelkind da war.

«Wie dumm bin ich eigentlich?» Sosehr sie über sich selbst lachen konnte – bei dieser Frage blieb ihr manchmal das Lachen im Halse stecken.

Ich klingele jetzt! Sie ermahnte sich noch einmal zur Zurückhaltung. Bis siebzehn zählen. Fünf Passanten freundlich zunicken. Drei Fahrradfahrern auf dem Gehweg streng hinterhersehen. Sie wurde ihrer Mutter immer ähnlicher. Anfangs hatte sie dieser Gedanke noch erschreckt. Das war es genau, was sie immer gehasst hatte, diese selbstgerechte Art. Anderen Fehler vorzuwerfen und die eigenen partout nicht sehen zu wollen. Aber verdammt, so viele Fehler machte sie auch wieder nicht. Zumindest fuhr sie nicht auf dem Gehweg und nervte harmlose Fußgänger. Sie zahlte Steuern, obwohl sie kaum etwas verdiente. Versuchte ihr Kind gut zu erziehen, obwohl es störrischer war als ein alter Esel, und sie mühte sich, auch sonst ein guter Mensch zu sein. Auch wenn es schwerfiel. Gerade wenn sie an ihren Vater dachte. Da war noch dieser Brief, der seit Tagen auf ihrem Schreibtisch lag, und den sie nicht öffnen wollte, weil sie genau wusste, von wem er kam. Sie kannte diese herrischen Schriftzüge nur allzu gut, Hunderte Briefe hatte sie von ihm bekommen, ein Dutzend hatte sie gelesen, dann war sie es leid geworden, seine Vorwürfe und Versprechungen, die sich so durchschaubar abwechselten, nein, sie konnte es nicht mehr ertragen. Sie mochte nicht einmal daran denken.

‹Warum geht diese verdammte Tür nicht auf?!› Sie klingelte.

Wo blieb Lotta?

Sie klingelte und klingelte.

Nichts tat sich. Sie ließ den Daumen auf der Klingel. Hörte das helle Bim-Bim-Bim im hinteren Raum. Endlich Schritte.

Der Gitarrenlehrer trat an die Tür. Ein junger Mann von so schlaksiger Art, dass man wirklich Angst hatte, er könnte jeden Moment zusammenknicken und in seine Einzelteile zerfallen.

«Frau Blumich! Hallo!»

Er war immer so freundlich und fröhlich. Ohne Drogen eigentlich nicht machbar.

«Hi, Sven!» Sie duzte ihn konsequent. Beim Siezen hätte sie lachen müssen.

«Ich wollte eigentlich Lotta abholen!»

«Die ist doch schon seit zehn Minuten weg! Die Stunde geht doch nur bis vier!»

Er sah sie sehr altklug an. Als ob schon der Verdacht auf Alzheimer bestünde.

«Das weiß ich, Sven!» Sie wusste auch, dass Lotta zuweilen den Hinterausgang benutzte, nur hatte sie diesmal nicht daran gedacht. «Lotta ist …» Sie nickte in Richtung Hof.

«Yoh! Sie wollte noch ’ne Kleinigkeit einkaufen und dann direkt nach Hause. Da ist sie jetzt auch bestimmt, im Supermarkt!» Dieser kleine Kifferaffe dachte tatsächlich, er könnte sie beruhigen. Eine wahnsinnige Wut stieg plötzlich in ihr auf, und irgendwie spürte er das, denn er trat einen Schritt zurück.

«Na, dann bis zum nächsten Mal», presste sie mühsam hervor und drehte ihm den Rücken zu. Die Tür fiel verdammt schnell ins Schloss.

‹Du leidest schon unter Verfolgungswahn›, flüsterte sie sich zu. ‹Ruhig jetzt und schimpf sie nicht aus, da gibt es keinen Grund zu.› Sie überlegte noch kurz in den Supermarkt zu gehen, um Kleinigkeiten für das Abendessen zu kaufen, aber sie traute Sven nicht so ganz. Sie wollte sicher sein, dass ihre Tochter zu Hause war. Jetzt, sofort. Lotta würde nie ohne sie in den Supermarkt gehen. Warum auch?

Beim Überqueren der Straße fiel ihr auf, dass der dicke Mann gar nicht mehr im Wartehäuschen saß. Seltsam, dachte sie, er wirkte so, als gehörte er da für immer hin.

Solche Menschen musste es auch geben, die immer wissen, wo sie hingehören.

‹Mensch, Mensch›, dachte sie, ‹Mensch, Mensch, du grübelst zu viel, das führt zu nix Gutem! Selbstgespräche auch nicht!›

«Hallo, Süße!»

Lotta saß am Tisch und studierte ihren Stundenplan.

«Morgen hab ich fünf Stunden und Sport. Sport nervt. Frau Rüdiger nervt. Ich versteh nicht, warum sie mich immer anmeckert. Das ist so ungerecht. Ich will da nicht mehr hin. In der Zeit könnte ich genauso gut was anderes machen. Mathe, oder Ethik, oder Physik.»

«Hallo!»

Jetzt endlich hob Lotta den Kopf und sah ihre Mutter einen Moment verdutzt an, weil sie das zweite Hallo für nicht sehr logisch hielt. «Ich hab doch schon Hallo gesagt!»

«Aber hast du mich dabei auch angesehen?»

«Muss ich das? Gibt’s was Neues zu sehen?»

«Werd nicht frech, Süße!»

Lotta hatte schon wieder abgeschaltet und den Kopf über ihren Stundenplan gebeugt, als gäbe es nicht Wichtigeres auf der Welt. Becky sah auf den dünnen Nacken ihrer Tochter und eine Welle mütterlicher Fürsorge durchflutete ihren Körper. Sie schien manchmal so zerbrechlich, so blass, so ganz aus Porzellan. Dann wieder dieser Sturkopf. Diese Art, sich ganz und gar einzumauern und keinen an sich heranzulassen.

Keine Ahnung, wie das weitergehen sollte.

«Hast du schon gegessen?»

Keine Regung. Sie schien die Frage einfach nicht gehört zu haben.

«Süße, hast du schon gegessen?!»

«Mannoh, jetzt nerv doch nicht dauernd!»

Lotta blickte entrüstet auf. Ihr schmales Gesicht hatte sich zu einer wütenden Grimasse verzogen. Das konnte sie gut. In null Sekunden auf hundertachtzig. Genau wie ihr Vater. ‹Was hat meine kleine süße Tochter eigentlich von mir geerbt›, fragte Becky sich, als sie in die kindliche Fratze vor ihr sah. In diesen Momenten war ihr ihre eigene Tochter fremder als jedes andere Kind auf dieser Welt. ‹Irgendwas muss sie doch von mir haben!›

«Essen! Es geht nur ums Essen. Und dass du groß und stark wirst. Also: Tofu oder Fisch?»

Lotta sah schon wieder auf ihren Stundenplan. Die Arme hatte sie weit abgewinkelt, als könnte sie so die Woche in die Länge ziehen. ‹Was für dünne Arme!›, dachte Becky und stutzte plötzlich. Sie trat näher an den Tisch und fasste die rechte Hand ihrer Tochter. Lotta sah erbost auf und versuchte sich aus dem Griff ihrer Mutter zu lösen.