Loe raamatut: «Lipstick Traces»
GREIL MARCUS
LIPSTICK TRACES
VON DADA BIS PUNK –
KULTURELLE AVANTGARDEN
UND IHRE WEGE
AUS DEM 20. JAHRHUNDERT
Deutsch von Hans M. Herzog
und Fritz Schneider
Deutsch von Hans M. Herzog und Fritz Schneider.
»Eine Anmerkung zur Neuauflage von 2022«, »Zitierte und nachträglich aufgespürte Werke«, »Danksagungen« und »Der Autor« wurden von Fritz Schneider, einzelne Passagen von Ingo Rüdiger ins Deutsche übertragen.
Die Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel »Lipstick Traces. A Secret History of the Twentieth Century« bei Harvard University Press, Cambridge, MA. 1992 erschien bei Rogner & Bernhard, Hamburg, die deutsche Erstausgabe unter dem Titel »Lipstick Traces. Von Dada bis Punk – kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert«.
© Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, Mainz 2022
Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages. Alle Rechte vorbehalten.
In Kooperation mit Tapete Records
print-ISBN print 978-3-95575-156-2
e-ISBN 978-3-95575-620-8
Covergestaltung: Oliver Schmitt
Ventil Verlag, Boppstraße 25, 55118 Mainz
INHALT
PROLOG
Version eins:
DAS LETZTE KONZERT DER SEX PISTOLS
Version zwei:
DIE GEHEIME GESCHICHTE EINER VERGANGENEN ZEIT
— Gesichter
— Freiheitslegenden
— Die Kunst des Zusammenbruchs von gestern
— Der Zusammenbruch der Kunst von gestern
— Der Überfall auf Notre-Dame
— Der Angriff auf Charlie Chaplin
— Lippenstiftspuren (auf einer Zigarette)
EPILOG
Zitierte und nachträglich aufgespürte Werke
Quellennachweise
Personenregister
Danksagungen
Der Autor
EINE ANMERKUNG ZUR NEUAUFLAGE VON 2022
Seit dem erstmaligen Erscheinen dieses Buchs im Jahr 1989 sind etliche der darin agierenden oder zu Wort kommenden Personen verstorben. Voller Demut gedenke ich ihrer: Es sind der politische Journalist und Patriot Walter Karp, 1934–89; das Monty-Python-Mitglied Graham Chapman, 1941–89; der Fotograf Ed van der Elsken, 1925–90; der politische Philosoph Henri Lefebvre, 1901–91; der Filmemacher und Mitbegründer der Lettristischen sowie der Situationistischen Internationale Guy Debord, 1930–94; der Lautdichter, Collagist und Mitbegründer der Lettristischen Internationale Gil J Wolman, 1929–95; der Redner und Lehrer Mario Savio, 1942–96; das visionäre Mitglied der Lettristischen Internationale Ivan Chtcheglov, 1933–98; der Sänger und Mitbegründer der Clash Joe Strummer, 1952–2002; das Mitglied der Lettristischen Internationale Jean-Michel Mension, 1934–2006; der Spiritus Rector des Lettrismus Isidor Isou, 1925–2007; der Historiker Norman Cohn, 1915–2007; der Gründer von Factory Records und Betreiber des Nachtlokals Hacienda Tony Wilson, 1950–2007; der Cartoonist Ray Lowry, 1944–2008; der Herausgeber und das Mitglied der Situationistischen Internationale Christopher Gray, 1942–2009; der Sänger Michael Jackson, 1958–2009; die Sängerin Ari Up von den Slits, 1962–2010; die Sängerin Poly Styrene von X-Ray Spex, 1957–2010; der Sex-Pistols-Manager und Künstler Malcolm McLaren, 1946–2010; die Songschreiberin und Managerin der Orioles Deborah Chessler, 1923–2012; das Firesign-Theater-Mitglied Peter Bergman, 1939–2012; das Firesign-Theater-Mitglied Phil Austin, 1941–2015; der Toaster Prince Buster, 1938–2016; die Gitarristin von Kleenex und Liliput Marlene Marder, 1954–2016; der Mitbegründer des Lettrismus Maurice Lemaitre, 1926–2018; das Monty-Python-Mitglied Terry Jones, 1942–2020; und der Gitarrist und Sänger der Gang of Four Andy Gill, 1956–2020.
Im selben Zeitraum ist jede Menge Material aufgetaucht, das mit diesem Buch auf direkte oder indirekte Weise in Zusammenhang steht – obskure, ephemere, unübersetzte oder lange nicht verfügbare Bücher, Zeitschriften, Flugblätter, Filme, Videos, Gemälde, Fotografien, Collagen und Tonaufnahmen –, und in dem jetzt mit »Zitierte und nachträglich aufgespürte Werke« übertitelten Abschnitt habe ich versucht, mit dieser Entwicklung Schritt zu halten. Von einigen Fehlerkorrekturen abgesehen, ist der Haupttext des Buchs unverändert geblieben.
Für John Rockwell, der mich drauf brachte. Für das Firesign Theater und Monty Python’s Flying Circus, die mich durchbrachten.
PROLOG
Aus dem Fenster eines Londoner Cafés schauen zwei gut gekleidete Frauen naserümpfend auf eine draußen im Regen stehende Gestalt. »Schon wieder dieser heruntergekommene Alte mit der Blechpfeife!« sagt die eine. Der Mann mit dem in die Stirn gezogenen, zerbeulten Filzhut versucht, sich Gehör zu verschaffen: »Ich bin ein Antichrist!« »Siebzehn lange Jahre«, so lautet der Text unter dieser Folge von Ray Lowrys Comicstrip-Chronik der Abenteuer des ehemaligen Möchtegern-Popheilands Monty Smith, »sind vergangen, seit Monty in der Gosse vor Malcolm MacGregors Sex ’n’ Drugs-Laden gesichtet wurde …«
Wahrhaftig eine lange Zeit; doch heute, während ich dies schreibe, halten Johnny Rottens erste Momente auf »Anarchy in the U.K.« – grollendes, erdbebenartiges Gelächter, ein unterdrückter Schrei, dann uralte, irgendwie von allem Geschwafel befreite und in den Straßen der Stadt gelandete Worte
I AM AN ANTICHRIST
– immer noch jedem Vergleich stand. Wenn ich mir die Platte heute anhöre, wenn ich höre, wie Johnny Rotten an seinem Text zerrt und dann die Teile der Welt ins Gesicht schleudert, wenn mir das alles verzehrende Lächeln einfällt, das er beim Singen aufsetzte, kriege ich eine Gänsehaut; ich schrecke zurück, während auf meiner Kopfhaut der Schweiß ausbricht. »Wenn du dir die Sex Pistols anhörst, ›Anarchy in the U.K.‹ und ›Bodies‹«, sagte einmal Pete Townshend von den Who, »merkst du sofort, dass das wirklich passiert. Da steht einer, einer mit ’nem Hirn zwischen den Ohren, und erzählt etwas, von dem er ehrlich glaubt, dass es in der Welt passiert, und das sagt er richtig giftig, richtig leidenschaftlich. Das lässt dich nicht unberührt, und es macht dir Angst … dir wird ganz mulmig: Als würde jemand sagen: ›Die Deutschen kommen! Und wir können sie unmöglich aufhalten!‹«
Es ist bloß ein Popsong, ein Möchtegernhit, ein ehemaliger Hit, eine billige Ware, und Johnny Rotten ist niemand, ein anonymer Vorbestrafter, dessen größte Leistung bis zu jenem Tag, als er im Jahre 1975 vor Malcolm McLarens Sex-Boutique in der Londoner King’s Road entdeckt wurde, darin bestand, ab und zu Passanten zu ärgern. Es ist ein Witz … und doch stellt die Stimme, die den Witz erzählt, etwas Neues im Rock ’n’ Roll dar, und damit in der populären Nachkriegskultur: eine Stimme, die sämtliche gesellschaftlichen Fakten leugnete und dadurch beteuerte, dass alles möglich war.
Und sie bleibt neu, weil der Rock ’n’ Roll sie immer noch nicht eingeholt hat. Etwas Ähnliches hat man weder vorher noch nachher im Rock ’n’ Roll gehört … obwohl diese Stimme, als sie erklungen war, eine Zeit lang für jeden verfügbar zu sein schien, der sich traute, sie zu benutzen. Eine Zeit lang und wie durch Zauberkraft – die Popzauberkraft, bei der die Koppelung bestimmter gesellschaftlicher Fakten an bestimmte Sounds unwiderstehliche Symbole der Veränderung gesellschaftlicher Realität schafft – funktionierte diese Stimme wie eine neue Redefreiheit. In zahllosen neuen Kehlen sagte sie zahllose neue Dinge. Man konnte kaum das Radio einschalten, ohne überrascht zu werden; man konnte ihr kaum entkommen.
Heute klingen diese alten Stimmen noch genauso bewegend und beängstigend … teils, weil ihre Ansprüche unvermindert dieselben, teils, weil sie in der Zeit eingefroren sind. Die Sex Pistols waren ein kommerzielles Unternehmen und eine kulturelle Verschwörung mit dem Ziel, das Musikgeschäft zu verändern und an dieser Veränderung Geld zu verdienen – aber Johnny Rotten sang, um die Welt zu verändern. Das taten auch andere, die eine Zeit lang ihre Stimmen in seiner wiederfanden. In dem von ihnen hinterlassenen schmalen Œuvre hört man, wie es passiert. Beim Zuhören merkt man, wie man reagiert: »Das passiert wirklich.« Doch die Stimmen verharren in der Zeit, weil man sich nicht umdrehen und rückblickend sagen kann: »Das ist wirklich passiert.« Nimmt man Kriege und Revolutionen als Maßstäbe, hat sich nichts verändert; wir halten Rückschau aus einer Zeit, in der, wie es Dwight D. Eisenhower einmal formulierte, »die Dinge mehr so wie jetzt sind, als sie es je waren«. Gemessen an den absoluten Ansprüchen, die von den Sex Pistols für so kurze Zeit erzeugt wurden, hat sich nichts verändert. Der von den Ansprüchen der Musik ausgehende Schock wird zu dem Schock, dass etwas scheinbar so Absolutes im Lauf der Ereignisse letztlich fast unbemerkt vergehen konnte: »Das ist eigentlich doch nicht geschehen.« Die Musik strebt danach, das Leben zu verändern; das Leben geht weiter, die Musik bleibt zurück; nur darüber lässt sich noch reden.
Die Sex Pistols schlugen eine Bresche in das Popmilieu, in die Mauer überkommener kultureller Voraussetzungen, die Hörerwartungen und zu erwartende Reaktionen bestimmten. Weil überkommene kulturelle Voraussetzungen hegemonische Annahmen darüber sind, wie die Welt angeblich funktioniert – als Naturgesetze aufgefasste und erfahrene ideologische Konstrukte –, schlug die Bresche im Popmilieu auf den Bereich des Alltagslebens durch: auf das Milieu, in dem man als Pendler zur Arbeit fuhr, in der Fabrik, dem Büro oder dem Einkaufszentrum seinem Job nachging, ins Kino ging, Lebensmittel einkaufte, Schallplatten erwarb, fernsah, miteinander schlief, Gespräche führte, keine Gespräche führte oder auflistete, was man als Nächstes tun wollte, also auf die allgemeinen Lebensumstände der Menschen.
Den Ansprüchen nach zu urteilen, die eine Schallplatte der Sex Pistols an die Welt stellte, musste sie die Art verändern, wie sich jemand allmorgendlich zur Arbeit begab … mit anderen Worten, die Platte musste diese Handlung mit jeder anderen verknüpfen und dann das große Ganze in Frage stellen. So würde die Platte die Welt verändern.
Elvis Costello erinnert sich, wie es damals gelaufen war, als er noch Declan McManus hieß, Computerspezialist war und auf seinen Zug in die Londoner Innenstadt wartete. Man schrieb den 2. Dezember 1976, den Tag nach dem Werbeauftritt der Sex Pistols in einer Fernseh-Talkshow für ihre Platte, die die Welt verändern sollte: »›Mann, hast du gestern Abend die Sex Pistols gesehen?‹ Auf dem Weg zur Arbeit, ich stand morgens auf dem Bahnsteig, und alle Pendler lasen die Zeitung, als die Pistols in den Schlagzeilen auftauchten … weil sie in der Glotze FUCK gesagt hatten. Etwas so Schreckliches war offenbar noch nie dagewesen. Man sollte das nicht mit einem bedeutenden historischen Ereignis verwechseln, aber es war ein großartiger Morgen – allein mitzukriegen, wie der Blutdruck der Leute deswegen rauf und runter schnellte.« Ein alter Traum hatte sich erfüllt: Als hätten die Sex Pistols, oder einer ihrer neuen Fans, oder ein Pendler neben ihm oder das Fernsehen selbst glücklicherweise eine 1919 in Berlin von einem gewissen Walter Mehring erdachte Formel wiederentdeckt und diese Formel anschließend buchstabengetreu, wortwörtlich umgesetzt, wenn auch unter anderem Namen:
???Was istDADAyama???
DADAyama ist
vom Bahnhof nur durch ein’n Doppelsalto erreichbar
Hic salto mortale!
DADAyama bringt
das Blut in Wallung
sowie die Volksseele zum Kochen
im Melting pot
– teils Stierkampf-Arena – teils
Nationalversammlung – teils
Rot-Front-Meeting
½ Blech ½ Eisen
versilbert
gleich Mehrwert dividiert durch:
∞ + Null komma Nichts
Durch ein halbes Jahrhundert voneinander getrennt, stellen Costello und Mehring die Frage, die sich durch dieses Buch zieht: Ist es ein Fehler, das Auftreten der Sex Pistols mit einem bedeutenden geschichtlichen Ereignis zu verwechseln … und was ist überhaupt Geschichte? Bedeutet Geschichte nichts weiter als Ereignisse, die wäg- und messbare Dinge zurücklassen – neue Institutionen, neue Landkarten, neue Herrscher, neue Sieger und Verlierer –, oder ist sie auch das Resultat von Momenten, die scheinbar nichts zurücklassen, nichts als das Rätsel von mysteriösen Verbindungen zwischen räumlich und zeitlich weit voneinander getrennten Menschen, die dennoch die gleiche Sprache sprechen? Wie kommt es, dass sowohl Mehring als auch Costello, wenn sie einen markanten Bruch beschreiben, von Bahnsteigen und Blutdruck reden? Dass sie übereinstimmende Worte verwenden, ist ein Zufall, könnte aber auf eine echte Geistesverwandtschaft hindeuten. Die beiden Männer sprechen über das gleiche, suchen nach Wörtern, um einen Bruch zu markieren; das ist womöglich kein Zufall mehr. Wenn die Sprache, die sie sprechen, der Impuls, dem sie Ausdruck verleihen, eine eigene Geschichte haben, könnte uns das nicht eine andere Story erzählen als die, die wir unser Leben lang gehört haben?
DIE FRAGE
ist zu groß, um sofort in Angriff genommen zu werden … man muss sie beiseitelegen, sich selbst überlassen, damit sie zu ihrer eigenen Form findet. Was bleibt, ist Musik; hört man sich heute die Platten der Sex Pistols an, kommt es einem nicht wie ein Fehler vor, ihren Moment mit einem bedeutenden historischen Ereignis zu verwechseln. Hört man sich heute »Anarchy in the U.K.« und »Bodies« an, Elvis Costellos This Year’s Model, »Complete Control« von den Clash, »Boredom« von den Buzzcocks, »Oh Bondage Up Yours!« und Germfree Adolescents der X-Ray Spex, »Wake Up« von Essential Logic und »Fairytale in the Supermarket« der Raincoats, Chairs Missing von Wire und »Never Been in a Riot« von den Mekons, »An Ideal for Living« und Unknown Pleasures der Joy Division, »Once Upon a Time in a Living Room« von den Slits, »At Home He’s a Tourist« und »Return the Gift« der Gang of Four, »Kerb Crawler« der Au Pairs, »Ü« von Kleenex sowie (nachdem der Papiertaschentuchhersteller Kimberley-Clark die Band zu einer Namensänderung zwang) »Split« und »Eisiger Wind« von Liliput an, außerdem von den Adverts Crossing the Red Sea with the Adverts (auf dem Cover verschmierte Farbe, um die Fotocollage eines Wohnsilos sowie eine weiße Reklametafel mit dem Text »Land of Milk and Honey« in Behördenschrift: der Sound, von Anfang an chiliastisch, würde den Hörer zweifellos ins Gelobte Land oder vierzig Jahre lang in die Wildnis führen)… wenn man sich das heute anhört, und vor allem The Roxy London WC 2 (Jan–Apr 77), ein zusammengeschustertes Livealbum, auf dem man hinter Tischgesprächen und splitterndem Glas diverse Gruppen öffentlicher Stimmen vernimmt, die nicht einmal in den Köpfen ihrer Erfinder existierten, bevor Johnny Rotten sich einen Antichrist nannte … höre ich mir dieses relativ kleine Œuvre an, das heute in Cut-out-Kisten, auf Sonderangebotstische, Sammlerbörsen oder Flohmärkte verbannt ist, empfinde ich so etwas wie Hochachtung angesichts der Qualität dieser Musik, davor, wie gut sie die Zeit überdauert hat.
Was an dieser Musik überdauert, ist ihr Wunsch, die Welt zu verändern. Es ist ein offenkundiger und schlichter Wunsch, doch hinter ihm steht eine unendlich komplexe Story … so komplex wie das Zusammenspiel alltäglicher Gesten, die einem sagen, wie die Welt funktioniert. Der Wunsch beginnt mit dem Anspruch, nicht als Objekt, sondern als Subjekt der Geschichte zu leben, so zu leben, als hänge von dem, was du tust, tatsächlich etwas ab, und dieser Anspruch eröffnet neue Perspektiven. Die Musik verdammte Gott und den Staat, Arbeit und Freizeit, Heim und Familie, Sex und Vergnügen, das Publikum und sich selbst und machte es dadurch für kurze Zeit möglich, alle diese Dinge nicht als Tatsachen, sondern als ideologische Konstrukte anzusehen, als etwas Fabriziertes, das sich ändern oder völlig abschaffen ließ. Es tat sich die Möglichkeit auf, diese Dinge als schlechte Scherze zu sehen und die Musik als den besseren Scherz. Die Musik wirkte wie ein Nein, das zu einem Ja wurde, dann wieder zum Nein und erneut zum Ja: Nichts ist wahr außer unserer Überzeugung, dass alles, was wir als wahr akzeptieren sollen, falsch ist. Wenn nichts wahr war, war alles möglich. Im Popmilieu, einer Arena, die sich die Gesellschaft hielt, um Symbole zu erzeugen wie zu entschärfen, in dem einzigen Milieu, wo ein Niemand wie Johnny Rotten eine Chance hatte, gehört zu werden, waren alle Regeln außer Kraft gesetzt. In Tönen, die die Popmusik noch nie von sich gegeben hatte, waren Ansprüche zu hören, die die Popmusik noch nie erhoben hatte.
Wegen Johnny Rottens lächerlicher Proklamation – wenn man so will, war er von seinem ersten auf Platte festgehaltenen Moment an ein heruntergekommener alter Mann im Regen, der seine irren Worte ausstoßen will (»I want to destroy passers-by«, krächzt der Antichrist und liest von seinem schmierigen Blatt Papier ab, »Ich will Passanten vernichten«; am besten macht man einen großen Bogen um den Penner) – kreischten Teenager Philosophie, verfassten Schläger Gedichte, entmystifizierten Frauen das Weibliche, benannte sich ein nettes jüdisches Mädchen namens Susan Whitby in Lora Logic um und erklomm die in einen Nebel von Gewalt und Chaos gehüllte Bühne im Roxy. Jeder schrie an der Melodie vorbei, dann am Reim, dann an den Harmonien, dann am Rhythmus, dann am Beat, bis der Schrei zum Grundprinzip, manchmal zum einzigen Prinzip der Sprache wurde. Alte Flüche wurden als Übermittler vergessener Verwünschungen, die wiederum verschüttete Wünsche enthielten, zu Plastikscheiben von sieben Zoll Durchmesser gepresst, in der Hoffnung, jemand würde die Codes knacken, von denen die Sprecher selbst nicht wussten, dass sie sie übermittelten.
Langsam fragte ich mich, woher diese Stimme kam. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich ab Ende 1975, fand an einem bestimmten Ort – erst London, dann überall in Großbritannien, dann hier und da auf der ganzen Welt – eine Negation aller gesellschaftlichen Fakten statt, die eine Behauptung beinhaltete, dass alles möglich war. »Ich sah die Sex Pistols«, sagte Bernard Sumner von Joy Division (später, nach dem Selbstmord ihres Sängers, New Order). »Sie waren schauderhaft. Ich fand sie großartig. Ich wollte aufstehen und auch schauderhaft sein.« Künstler machten sich zum Narren, zogen über ihre Vorfahren her und bespuckten ihr Publikum, das zurückspuckte. Ich fragte mich, woher diese Gesten kamen. Letztlich war es nichts anderes als ein künstlerisches Statement, doch solche Statements sind selten, in welcher Form auch immer sie übermittelt und rezipiert werden. Ich wusste eine Menge über Rock ’n’ Roll, aber darüber wusste ich nichts. Kamen die Stimme und die Gesten aus dem Nirgendwo, oder gab es eine Art Initialzündung? Und wenn sie gezündet wurden, wie und wodurch?
EIN ZWANZIGJÄHRIGER
steht vor einem Mikrofon, erklärt sich zu einem alles verzehrenden Dämon und macht dann alles um sich her nieder … legt es in Schutt und Asche. Den Ansprüchen der Gesellschaft verweigert er sich mit Gelächter, und mit einer Vokalverschiebung, so gewaltsam, dass sie pure Freude auslöst, zieht er seiner Gesellschaft die Geschichte unter den Füßen weg. Die Früchte westlicher Zivilisation reduziert er auf eine Reihe von Guerilla-Abkürzungen, die grüne und liebliche Insel England zu einem Häuserblock Sozialwohnungen. »Unsere Architektur ist so banal und destruktiv für den menschlichen Geist, dass einen bereits der Gang zur Arbeit in Depressionen stürzt. Die Straßen sind schäbig, eklig und müllbedeckt, der Beton fleckig vom Regen und graffitibeschmiert, die Treppenhäuser der Experimente sozialer Ingenieurskunst von Scheiße, Junkies und Graffiti übersät. Niemand verlässt sein Zimmer. Es gibt keinerlei Gemeinschaftsgefühl, weshalb alte Leute verzweifelt und einsam sterben. Die Lebensqualität ist gesunken« – das stammt nicht von Johnny Rotten aus der Zeit, als er 1976 »Anarchy in the U.K.« aufnahm, sondern von »Saint Bob« Geldof (der als Organisator einer Kampagne von Popmusikern gegen den Hunger in Afrika 1986 beinahe den Friedensnobelpreis bekommen hätte), der damit die Gesellschaftskritik von »Anarchy in the U.K.« 1985 wiederholte. Genau das sagte dieser Song, zu einem bissigen Eintopf zusammengekocht … bloß dass es nicht weinerlich klang, wenn ihn die Sex Pistols vortrugen, sondern sardonisch-vergnügt.
Is this the em pee el ay
Or is this the yew dee ay
Or is this the eye rrrrrr ay
I thought it was the yew kay
Or just
Another
Country
Another council tenancy!
Es war der Sound der einstürzenden Stadt. Aus dem wohlüberlegten, beabsichtigten Lärm, in dem die Worte sich so überschlugen, dass man sie kaum auseinanderhalten konnte, hörte man, wie gesellschaftliche Fakten zerfielen; wenn Johnny Rotten seine Rs rollte, klang es, als hätte er nadelspitz zurechtgefeilte Zähne. Dieser Code musste nicht entschlüsselt werden: Wer kannte schon die MPLA, und wen kümmerte es? Die Welt kurz und klein schlagen, das klang nach Spaß. Es hörte sich nach Freiheit an. Es war die Freiheit, zur Feier der Nachricht, in San Diego habe ein junges Mädchen namens Brenda Spencer in ihrer High-School um sich geschossen und drei Menschen getötet, weil sie keine Montage mochte, einen Song zu schreiben – wie es Bob Geldof tat.
»I Don’t Like Mondays« war ein Hit; in den USA hätte er die Nummer Eins werden können, wäre nicht Brenda Spencers Recht auf ein faires Gerichtsverfahren dazwischengekommen. Zu schade … stand ein Song wie »I Don’t Like Mondays« nicht für alles, was »Punk« ausmachte, wie man die von den Sex Pistols hervorgebrachte, vermutlich nihilistische Musik nennen sollte? Aber was machte sie aus? Im Verlauf eines Interviews klingt Geldofs Version von »Anarchy in the U.K.« ebenso wie die Erklärungen, die Johnny Rotten 1976 und 1977 für Interviewer parat hatte, völlig rational. Aber auf Schallplatte erinnern einen sowohl Fleischfresser Johnny als auch Saint Bob an die Worte des Surrealisten Luis Buñuel; der nannte, wie die Filmkritikerin Pauline Kael schreibt, »einmal diejenigen, die Un Chien andalou lobten, ›jenen Haufen Kretins, die den Film schön oder poetisch finden, obwohl er im Grunde genommen ein verzweifelter und leidenschaftlicher Aufruf zum Mord ist‹«.
Es geht um Nihilismus … doch »Anarchy in the U.K.« war, wie ein Fan gern glauben möchte, etwas anderes: eine Farce zum Zwecke der Negation. »›Anarchy in the U.K.‹ ist ein Ausdruck von Selbstbestimmung, von höchster Unabhängigkeit, von Die-Dinge-selbst-in-die-Hand-nehmen«, sagte Malcolm McLaren, der Manager der Sex Pistols, und was immer das heißen mochte (was selbst in die Hand nehmen?), Nihilismus war es nicht. Nihilismus ist der Glaube an nichts und der Wunsch, nichts zu werden; das Vergessen ist seine Hauptleidenschaft. Seine beste Darstellung findet sich in Tulsa von Larry Clark, seinen fotografischen Memoiren über Jugendliche in den frühen sechziger Jahren, die sich lieber mit Speed zu Tode spritzen, als so zu werden, wie sie bereits aussahen: Charley Starkweathers und Caril Fugates aus Tulsa, Oklahoma. Nihilismus kann in der Kunst zwar eine Stimme, aber niemals Befriedigung finden. »Wir spielen hier nicht Theater, Larry«, sagte einer seiner Nadelkumpane zu ihm, als er einmal ein Foto zu viel geschossen hatte. »Das ist das beschissene echte Leben.« »Andere glaubten also, es sei kein Theater«, erinnerte sich Clark Jahre später, »ich schon« – obwohl er mitgemacht und einen Selbstauslöser benutzt hatte, um zu fotografieren, wie das Blut an seinem Arm runterlief.
Nihilismus bedeutet, die Welt in ihren eigenen selbstverzehrenden Impuls einzuschließen; die Negation als Tat macht jedem klar, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint … doch nur wenn diese Tat derart weitgreifend angelegt ist, dass sie die Möglichkeit offenlässt, die Welt könnte ein Nichts sein, Nihilismus wie Schöpfung könnten sich dieses plötzlich leeren Terrains bemächtigen. Ganz gleich wie viele Menschen der Nihilist (oder die Nihilistin) töten mag, sie bleiben immer Solipsisten: Keiner existiert außer dem Handelnden, und nur die Motive des Handelnden sind real. Wenn der Nihilist den Abzug betätigt, den Gashahn aufdreht, Feuer legt, die Ader trifft, endet die Welt. Negation ist immer politisch: Sie setzt die Existenz anderer Menschen voraus, ja ruft sie erst ins Leben. Dennoch sind die Werkzeuge, die zu benutzen der Negationist sich offenbar gezwungen sieht – echte oder symbolische Gewalt, Blasphemie, Ausschweifung, Verächtlichmachung, Verspottung – auch die des Nihilisten. Als Negation ließ sich »Anarchy in the U.K.« in Interviews rational übersetzen: Da er zu beweisen versucht, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint, erkennt der Negationist, dass die Welt für andere so ist, wie sie zu sein scheint. Doch als »Holidays in the Sun«, die vierte und letzte Single der Sex Pistols, im Oktober 1977 auf den Markt kam, wurden solche »Übersetzungen« weder angeboten, noch waren sie möglich.