Das letzte Schwurgericht

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
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»Scheint mir so eine Art Spessartvoodoo zu sein«, kommentierte Brunner Kerners Bericht etwas scherzhaft. Er maß der Sache keine Bedeutung bei.

Kerner machte eine abschließende Handbewegung und stellte fest: »Jetzt sitzen wird doch wirklich sehr selten zusammen und was machen wir? Wir reden nur über dienstlichen Kram. Wir sind wirklich unverbesserlich.«

»Simon, du hast Recht, komm, erzähl mal, was macht die Liebe? Hält es deine Steffi noch immer mit dir aus?«

Kerner lachte. »Ich kann nicht klagen. Die Tatsache, dass ich nun jeden Abend ziemlich pünktlich nach Hause komme, hat unserer Beziehung sehr gut getan. Du weißt schon, regelmäßig essen, Gespräche … etc.« Er schmunzelte.

»Und, läuten irgendwann die Hochzeitsglocken? Ich war schon lange nicht mehr auf einer zünftigen Hochzeit.«

»Da wirst du dich wohl noch einige Zeit gedulden müssen«, gab Kerner zurück. »Es liegt wirklich nicht an mir. Ich hätte mich schon getraut, aber Steffi findet es schön, so wie es gerade ist. Sie sieht keinen Grund zur Eile.«

»Ja, ja, Steffi war schon immer eine sehr selbstbewusste, emanzipierte Frau. Pass bloß auf, dass sie dir kein anderer wegschnappt!«

Kerner machte eine wegwerfende Handbewegung.

Die beiden saßen noch einige Schoppen lang beisammen, ehe sie sich auf den Heimweg machten. Den Weg in die Sanderau zu Brunners Wohnung bewältigten sie zu Fuß. Dort nahmen sie noch einen letzten, einen allerletzten und einen allerallerletzten Absacker. Gegen drei Uhr morgens legten sie sich dann schlafen.

Mitten in der Nacht wachte Kerner auf, weil er auf die Toilette musste. Als er wieder im Bett lag, hatte er leichte Probleme, wieder in den Schlaf zu finden. Plötzlich fiel ihm der alte Richter ein, der einen derart grausamen Tod sterben musste. Er konnte sich noch gut an ein Gespräch erinnern, das er damals mit dem Leitenden Oberstaatsanwalt geführt hatte. Es war im Kollegenkreis allgemein aufgefallen, dass Dr. Kürschner seit etwa einem Jahr mehr oder weniger auffällige Verhaltensweisen zeigte. Seine Strenge, die ihm schon immer eigen gewesen war, bekam in den Verhandlungen einen immer mehr aggressiven Touch. Unter dem Gesichtspunkt, dass seine Pensionierung bevorstand, wurde über dieses Verhalten hinweggesehen.

7

Simon Kerner verließ das Justizgebäude in der Erthalstraße in Aschaffenburg gegen 14 Uhr. Über zwei Stunden hatte das Gespräch mit seinem Amtskollegen Schmiedinger gedauert. Gegenstand der Unterredung war ein Personalproblem. Das Amtsgericht Gemünden hatte massiven Personalbedarf im Rechtspflegerbereich, während das Amtsgericht in Aschaffenburg nach der Personalstatistik hier einen leichten Überhang verzeichnete. Die Personalabteilung beim Oberlandesgericht Bamberg hatte den beiden Direktoren freigestellt, sich über einen möglichen Personaltransfer zu einigen. Nach Abwägung aller Möglichkeiten hatte man schließlich einen gangbaren Kompromiss gefunden. Kerner war darüber sehr erleichtert. Sein Defender parkte in der Tiefgarage der Stadthalle am Schlossplatz, zu Fuß nur wenige Gehminuten vom Justizgebäude entfernt. Kerner überlegte einen Augenblick, ob er in der Fußgängerzone noch eine Kleinigkeit essen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Über die Einfahrt Treibgasse betrat er das Parkhaus und zahlte am nächsten Parkautomaten die Gebühr. Kerner näherte sich seinem Auto von der Rückseite, da er nach vorne eingeparkt hatte, öffnete die hintere Fahrzeugtür und warf seinen Aktenkoffer auf den Rücksitz. Diesem folgte die Krawatte, die er sich aufatmend mit einer zügigen Bewegung vom Hals zog. Heute würde er nicht mehr ins Büro fahren. Gerade als er die Fahrertür öffnen wollte, nahm er an der Windschutzscheibe eine dunkle Silhouette wahr. Mit wenigen Schritten war Kerner an der Frontseite. Über seinen Rücken fuhr ein Schauer. Mitten auf der Windschutz scheibe hing, mit ausgebreiteten Schwingen und mit breitem, durchsichtigen Klebeband dort befestigt, eine Rabenkrähe!

Kerner stieß einen Fluch aus. Was hatte das, verdammt noch mal, zu bedeuten? Hastig ließ er seinen Blick durch den einsehbaren Bereich der Tiefgarage gleiten. Wurde er beobachtet? Es musste ihm ja jemand gefolgt sein, woher sonst hätte der Täter wissen sollen, dass er hier parkte. Das Parkdeck um ihn herum war aber im Augenblick menschenleer. Wütend hastete er die Parkreihe entlang und starrte durch die Windschutzscheiben der abgestellten Fahrzeuge. Alle Wagen waren verlassen.

Kerner lief zu seinem Defender zurück. Mit zusammengebissenen Zähnen beugte er sich über den Motorraum und kratzte mit den Fingernägeln das gut haftende Klebeband los. Einige Minuten später hielt er die tote Krähe in den Händen. Im Zwielicht der Garagenbeleuchtung musterte er den Vogel. Wie bei der ersten Krähe waren auch diesem Tier die Augen ausgestochen worden, und es hatte ein kleines Einschussloch. Das Blut war völlig eingetrocknet, am Gefieder haftete Erde, und der Vogel roch ziemlich streng nach Verwesung. Kerner befiel ein schwerer Verdacht. Das sah ja ganz so aus, als wäre das dieselbe Krähe, die er vor ein paar Tagen an der Jagdhütte eingegraben hatte. Das bedeutete aber doch … Wieder sah er sich in der Tiefgarage um. Es gab offenbar jemanden, der ihn im Wald beobachtet und, nachdem er gegangen war, die Krähe wieder ausgegraben hatte. Außerdem musste ihm derjenige hierher nach Aschaffenburg gefolgt sein, um ihm in einem geeigneten Moment das Tier an die Windschutzscheibe zu kleben. Wie pervers war das denn? Bei der Leere dieses Parkhauses war das Risiko der Entdeckung für den Unbekannten allerdings recht gering. Kerner packte den Vogel, öffnete seinen Kofferraum und warf den Kadaver hinein. Dann setzte er sich hinter das Steuer. Nachdem sein Zorn wieder einer gewissen Ernüchterung gewichen war, zwang er sich zu rationalem Denken. Mit Spessarter Bauernvoodoo hatte das nichts zu tun. Hinter der Sache steckte mehr! Kein verärgerter Spessartbewohner würde sich die Mühe machen, diesen Aufwand zu betreiben. Es sei denn … Ob ihm ein Stalker auf der Fährte saß? Mit einem äußerst unguten Gefühl startete Kerner den Motor des Geländefahrzeugs und lenkte es aus der Tiefgarage. Auf dem Weg zur Ausfahrt sah er ständig in den Rückspiegel, ob ihm jemand folgte. Für die Heimfahrt nach Partenstein wählte er bewusst die Landstraße. Auf dieser relativ wenig befahrenen Strecke wäre ihm ein Verfolgerfahrzeug sicher aufgefallen. Kerner hatte keine Ahnung, was er von diesen beiden Aktionen halten sollte. Wer auch immer dahintersteckte, hatte jedenfalls erreicht, dass er ein unterschwelliges Gefühl der Bedrohung empfand.

8

Es war später Nachmittag. Der Reiter war vor zehn Minuten am Stall des Würzburger Reitvereins losgeritten und hatte nun, aus Richtung Sebastian-Kneipp-Steg kommend, die Fußgängerampel an der Mergentheimer Straße erreicht. Der Mann stieg vom Pferd, hielt es fest am Zügel und drückte den Ampelknopf. Mit leiser Stimme beruhigte er die braune Stute, die sichtlich nervös neben ihm auf der Stelle tänzelte. Die Ohren angelegt, beobachtete sie misstrauisch den vorbeisausenden Strom der Fahrzeuge. Der ungewohnte Motorenlärm weckte ihren Fluchtinstinkt. Nur das Vertrauen in den Reiter hinderte sie daran, auszubrechen. Es war erst der fünfte Ausritt dieser Art, den er allein mit der unerfahrenen Stute unternahm. Zuvor war er nur in der Gruppe ausgeritten. Leila hatte einen gehörigen Schuss Araberblut in den Adern, was eine gewisse Sensibilität zur Folge hatte. Auf der anderen Seite schätzte der Reiter ihre Ausdauer, Schnelligkeit und Wendigkeit. Sie würde sich schon an den Verkehr gewöhnen.

Die Ampel schaltete von Rot auf Grün. Mit beruhigender Stimme führte er Leila über die Straße. Wenige Meter weiter erreichten sie den Reitweg, der parallel zur Straße ins Steinbachtal durch das Grün des Guttenberger Forstes führte. Der Mann tätschelte kurz den Hals der Stute, dann schwang er sich in den Sattel. Geschickt glich er einen kleinen, übermütigen Bocksprung des jungen Pferdes aus. Man konnte sehen, dass er ein erfahrener Reiter war. Mit sanftem Schenkeldruck und mit relativ langen Zügeln veranlasste er die Stute, im Schritt anzutreten. Gekonnt passte er seine Bewegungen dem schwingenden Pferderücken an.

»Brave Leila«, sagte er leise, beugte sich nach vorne und tätschelte ihr lobend den Hals. Ohne sein Zutun fiel das Pferd plötzlich in einen munteren Trab. Als die Stute kurz darauf vom Trab in den Galopp sprang, ließ er sie gewähren.

Am Wendeplatz der Buslinie 8 im hinteren Steinbachtal angekommen, lenkte er Leila auf einen Waldweg, der in der Verlängerung nach etwa drei Kilometern auf das Forsthaus Guttenberg traf.

Nach etwa einem Drittel der Strecke verließ der ausgeschilderte Reitpfad den breiten Weg und mündete in einen schmaleren Waldpfad. Der Reiter zügelte sein Pferd in den Schritt. Der niedere Unterwuchs, der beidseitig des Pfads wuchs streifte an den Flanken der Stute entlang und berührte die Stiefelschäfte des Reiters. Hier war das Blätterdach sehr dicht, und das Licht, das durch den Schirm der majestätischen Altbuchen drang, hatte nur noch die Intensität einer beginnenden Dämmerung.

Bruno Müller stellte seinen kleinen japanischen Geländewagen mit der Vorderfront in einen Weg am Hang der Forstabteilung Hohenkamm und stieg aus. Der Forstbeamte beabsichtigte, sich ein paar ruhige Stunden auf der Jagd zu gönnen. Dabei kam es ihm gar nicht so sehr darauf an, Beute zu machen. Nach einem stressigen Tag stand für ihn die Erholung im Vordergrund. Selbstverständlich hatte er trotzdem seine Jagdwaffe dabei. Im Wald wusste man nie, ob man nicht auf Wild traf, das zu erlegen war.

 

Müller warf von seinem erhöhten Standort einen Blick hinunter auf die viel begangene Forststraße, die parallel zum Weg verlief, an dem er parkte. Als er von der Bundesstraße in den Wald abgebogen war, hatte er einen Augenblick lang gedacht, es sei ihm ein Fahrzeug gefolgt. In Stadtnähe war es kein ungewöhnlicher Vorgang, wenn Menschen Forstwege als Abkürzung benutzten. Das war natürlich verboten, aber Müller hatte im Augenblick absolut keine Lust, den Waldsheriff zu spielen und sich mit irgendwelchen Leuten anzulegen. Daher ging er der Sache nicht weiter nach.

Er schnappte sich seinen Rucksack und sein Gewehr, schloss den Wagen ab und marschierte in Richtung Hochsitz. Er war nur gute hundertfünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo er sein Fahrzeug abgestellt hatte.

Die Stille des Waldes wurde nur durch das gelegentliche Rufen vereinzelter Ringeltauben und dem Zwitschern von Vögel unterbrochen. Müller merkte, wie er langsam ruhiger wurde und der Stress des Tages von ihm abfiel.

Plötzlich fühlte er einen recht schmerzhaften Stich am Oberarm. Er zuckte zusammen und griff instinktiv an die Stelle. Seine Hand traf auf einen länglichen Gegenstand. Der Forstbeamte blieb stehen. Verstört betrachtete er eine Art Pfeil, der tief in der Muskulatur seines Arms steckte. Ehe er diesen jedoch entfernen konnte, überfiel ihn schlagartig eine lähmende Müdigkeit, die jegliche Entschlusskraft zum Erliegen brachte. Fast übergangslos schwanden ihm die Sinne, und er brach auf dem Trampelpfad zusammen.

Einige Minuten später löste sich ein Mann in einem Tarnanzug aus dem Schatten einer Fichte. Während er sich dem betäubten Förster näherte, zerlegte er das zusammenschraubbare Blasrohr und schob es in seinen Rucksack. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck betrachtete er sein Opfer, dann zog er Müller den Betäubungspfeil aus dem Arm und ließ ihn dem Blasrohr folgen. Der Angreifer tastete den Jäger nach Waffen ab. Seine Hände waren dabei mit dünnen Lederhandschuhen geschützt, denn Spuren wollte er keine hinterlassen. Das Messer am Gürtel ließ er an Ort und Stelle. Er wusste, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Das Mittel war, natürlich in entsprechend höherer Dosierung, in der Lage, Elefanten zu betäuben. Dieser Förster würde für geraume Zeit ausgeschaltet sein. Er durchsuchte seine Taschen nach Autoschlüsseln und wurde fündig. Dann griff er sich das Gewehr. Routiniert öffnete er das Patronenlager der Waffe und überzeugte sich davon, dass sie geladen war; dann warf er sie sich mit dem Gewehrriemen über den Rücken und marschierte davon.

Als der Pfad nach zehn Minuten wieder in einen etwas breiteren Waldweg mündete, schnalzte der Reiter leise mit der Zunge und presste die Absätze gefühlvoll gegen Leilas Flanken. Die sensible Stute reagierte freudig auf die Ermunterung und sprang in Galopp. Das Tempo ließ er sie selbst bestimmen.

Durch das dumpfe Trommeln der Pferdehufe auf dem Waldboden hörte der Reiter das Motorengeräusch ziemlich spät. Plötzlich, wie aus dem Nichts, schoss nur einen Steinwurf entfernt ein Geländewagen hinter einer dichten Fichtenkultur hervor, lenkte mit durchdrehenden Reifen auf den Waldweg und raste frontal auf Pferd und Reiter zu. Instinktiv ließ sich der Mann auf dem Pferderücken nach hinten in den Sattel fallen und riss heftig am Zügel. Die harte Parade übertrug sich schmerzhaft auf das Pferdemaul. Mit einem lauten, panischen Wiehern sackte die Stute auf die Hinterläufe herunter und rutschte ein Stück schlitternd über den Waldboden. Der Fahrer war mittlerweile nur noch wenige Meter entfernt. Plötzlich ertönte die Hupe des Geländewagens, und das Fahrzeug wurde abgebremst.

Das war zu viel für Leila. Sie stieg vorne steil in die Höhe und schlug mit den Vorderhufen in die Luft. Ihre Ohren waren furchtsam angelegt, ihre Augen traten erregt aus den Höhlen. Da ertönte der Knall eines Schusses. Nun verlor der Reiter endgültig die Kontrolle. Wie eine Katze warf sich die Stute fast auf der Stelle auf der Hinterhand herum und stürmte panisch auf dem Waldweg davon. Der Reiter wurde seitlich aus dem Sattel geschleudert, blieb aber fatalerweise mit einem Stiefel im Steigbügel hängen. Wie eine Puppe wurde er von dem Pferd seitlich mitgezerrt, wodurch Leila noch kopfloser wurde. Mit schrecklicher Wucht knallte der Reiter gegen Baumstämme und Holzstümpfe, die den Weg säumten, und wurde durch Dornengestrüpp gerissen. Schon nach wenigen Metern schlug er mit dem Kopf gegen eine an der Seite liegende gefällte Eiche und wurde ohnmächtig. Er verlor den letzten Halt und wurde wie eine menschliche Marionette unter die Hufe der Stute geschleudert. Das massive Hufeisen der linken Hinterhand traf seinen Körper und zerschmetterte dabei seinen Hüftknochen. Durch den hierdurch ausgelösten Ruck wurde der Stiefel aus dem Steigbügel gerissen, und der Mann blieb nach wenigen Metern regungslos auf dem Waldweg liegen. Leila galoppierte, von ihrer Last befreit, noch schneller davon. Ihr Fluchtinstinkt würde sie nicht eher anhalten lassen, bis sie den Reiterhof erreicht hatte.

Der Mann im Tarnanzug war mit dem Erfolg des in die Erde abgegebenen Schusses zufrieden. Er hatte die Reaktion des Pferdes richtig eingeschätzt. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte er die Flucht des Tieres und die menschliche Last, die es hinter sich herzerrte. Langsam legte er den Gang ein und folgte dem davonstürmenden Tier. Früher oder später würde es seinen Ballast abschütteln. Er sollte recht behalten. Gute hundert Meter weiter sah er die verkrümmte menschliche Gestalt auf dem Waldweg liegen. Langsam stieg er aus und trat an den wie leblos erscheinenden Mann heran. Dessen Gesicht war von Dornen blutig gezeichnet. Aus einer großen Platzwunde an der Stirn strömte reichlich Blut. Bei genauem Hinsehen konnte man erkennen, dass sich der Brustkorb des Verletzten leicht hob und senkte. Er lebte also noch. Der Mann zog eine Pistole mit Schalldämpfer aus dem Holster am Gürtel, entsicherte sie und gab ohne Zögern zwei Schüsse ab. Nachdem er alles Notwendige erledigt hatte, entfernte er sich. Den Geländewagen und die Jagdwaffe ließ er an Ort und Stelle stehen. Verwertbare Spuren hatte er keine hinterlassen.

Mit herabhängenden Zügeln und lose pendelnden Steigbügeln galoppierte Leila zwanzig Minuten später auf den Reiterhof in der Mergentheimer Straße. Mit Schaum vor den Nüstern und bebenden, schweißnassen Flanken blieb die Stute schließlich vor dem Eingang zu den Stallungen stehen. Sofort liefen mehrere Mitglieder des Reitstalles und zwei Pferdepfleger zusammen. Einer der Männer fing die Stute ein. Selbstverständlich hatte sich ihr Besitzer abgemeldet, als er den Ausritt antrat. Leila musste ihrem Reiter irgendwie ausgebüxt sein. Da aber auch ein Unfall die Ursache sein konnte, musste man nachsehen. Da die Strecke bekannt war, eilten zwei Reiter in den Stall und sattelten die zwei schnellsten Pferde. Sie würden den Reitweg absuchen. Wahrscheinlich war der Reiter zu Fuß auf dem Heimweg. Zwei weitere Mitglieder des Reitvereins, einer davon Arzt, setzten sich ins Auto des Mediziners und fuhren die Strecke auf der Straße ins Steinbachtal ab. Für alle Fälle! Man wollte sich über Handys verständigen. Die Zeit drängte, denn langsam stellte sich die Dämmerung ein.

Nachdem die berittenen Helfer den Reitweg jenseits der Mergentheimer Straße erreicht hatten, spornten sie ihre Pferde sofort zum Galopp an. Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Das Auto begleitete sie parallel auf der Straße.

Nach weniger als einer halben Stunde hatten sie den Gestürzten erreicht. Nur unter Aufbietung aller Selbstbeherrschung behielten sie beim Anblick der schrecklichen Verletzungen die Nerven. Sofort informierten sie ihre Kollegen im Wagen, die daraufhin, so weit es vom Weg her möglich war, mit dem Auto in den Wald fuhren. Den Rest des Weges legten sie rennend zu Fuß zurück.

Der Arzt sah in die zwei dunklen Blutseen, die dort standen, wo sich die Augen seines Reitkameraden befunden hatten. Es war klar, hier kam jede Hilfe zu spät. Dies war eindeutig ein Fall für die Polizei. Mühsam zwang er sich zur Professionalität und wählte die 110, die Notrufnummer der Polizeieinsatzzentrale.

9

Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen. Die grausige Szenerie im Wald wurde von mehreren Scheinwerfern beleuchtet, die die Männer der Mordkommission und der mittlerweile eingetroffenen Spurensicherung rund um den Tatort aufgestellt hatten. Ein langes Stromkabel führte zu einem etwas entfernter stehenden Kleinbus, in dem der Motor eines leistungsfähigen Aggregats zu hören war.

Die vier Personen aus dem Reiterclub, die den Toten gefunden hatten, hielten sich ein Stück abseits auf. Der Horror stand ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. Ihre beiden Pferde waren an Bäumen angebunden. Ein Kriminalbeamter nahm gerade ihre Personalien auf.

Der Rechtsmediziner hatte bereits seine Untersuchung abgeschlossen. Seiner Meinung nach lag der ungefähre Todeszeitpunkt weniger als zwei Stunden zurück. Er stellte fest, dass die beiden Schüsse durch die Augen in den Kopf den Mann auf jeden Fall getötet hatten. »Ohne dem Ergebnis der Obduktion vorgreifen zu wollen, liegt hier ohne Zweifel ein Tötungsdelikt vor«, erklärte er und zog seine Gummihandschuhe aus. »Herr Brunner, wenn Sie mit der Leiche fertig sind, kann sie in die Rechtsmedizin abtransportiert werden.« Er grüßte und verließ den Tatort.

Kriminalhauptkommissar Brunner beugte sich über den Toten und untersuchte die Taschen seiner Reithose und seiner Jeansjacke. Außer einigen Münzen und einem Schlüsselbund fand er jedoch nichts, was die Identität des Mannes erklärt hätte.

Dr. Merker, der Arzt und Reitkollege, der den Toten als Erster untersucht hatte, kam ein paar Schritte näher.

Brunner sah ihn an. »Der Tote ist ein Reitkamerad von Ihnen? Können Sie mir sagen, wer das ist?«

Merker nickte. »Das ist Manfred Großberger. Soweit ich weiß, ist er Richter hier am Gericht in Würzburg. Ich kenne ihn aber nicht näher. Nur so, wie man halt einen Reiterkollegen kennt, den man beim Sport trifft. Er war ein angenehmer, recht geselliger Zeitgenosse. Dieser Unfall ist einfach schrecklich! So wie es aussieht, hat ihn seine Stute ein ganzes Stück weit hinter sich her gezerrt. Wahrscheinlich ist er im Steigbügel hängen geblieben. Dabei müssen sich Äste in seine Augen gebohrt haben. Schlimm! Hoffentlich hat er es nicht mehr gespürt.«

Brunner ließ ein Brummen hören, das alles Mögliche bedeuten konnte. Dass es sich um Schussverletzungen handelte, erwähnte er nicht.

»Was ist mit dem Pferd geschehen, nachdem es zum Stall zurückgekommen war?«

»Die Pferdepfleger haben es sicher abgesattelt und herumgeführt, bis es wieder trocken war. Das ist das übliche Prozedere. Genau kann ich es aber nicht sagen, weil wir ja sofort losgefahren sind, um Herrn Großberger zu suchen.«

»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, entgegnete Brunner ohne weiteren Kommentar, »bitte kommen Sie in den nächsten Tagen ins Kommissariat, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können.«

Kaum hatte sich der Arzt abgewandt, winkte Brunner einen uniformierten Polizisten zu sich. »Fahren Sie bitte in den Reitstall und stellen Sie den Sattel und das Zaumzeug von Großbergers Pferd sicher. Fragen Sie die Pferdepfleger, ob sie an den Sachen etwas verändert haben. Dann bringen Sie das Zeug in die Kriminaltechnik.« Der Beamte nickte und entfernte sich eilig.

Brunner sah nachdenklich auf die mittlerweile mit einer Papierdecke verhüllte Gestalt des Toten. An der Stelle, wo sich die blutigen Augenhöhlen befanden, tränkten zwei blutrot verlaufende Punkte das Papier. Der Kriminalbeamte war sehr nachdenklich. Offenbar handelte es sich hier um einen eiskalten Mord. Die Parallelen zu dem Fall von Dr. Kürschner waren unübersehbar. Brunner rieb sich das unrasierte Kinn. Wie es aussah, handelte es sich in beiden Fällen um denselben Täter. Zweimal Schüsse in die Augen. Der Begriff Ritual drängte sich auf. Er atmete schwer ein. Serientäter!, schlich sich in seine Gedanken. Brunner würde das sicher nicht laut aussprechen, weil er damit, falls es bekannt würde, einen Pressesturm auslösen würde. Er zwang sich zur Vernunft: Zwei Leichen machten noch keinen Serientäter. Aber sicher war hier ein Psychopath am Werk … oder es sollte zumindest so aussehen. Wenn seine geheimen Befürchtungen zutrafen, musste man mit weiteren Morden dieser Art rechnen. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, dass in seiner Stadt ein Serienkiller sein Unwesen trieb! Das Problem war, dass er noch keinerlei Vorstellung hatte, welches Motiv hinter diesen Taten steckte.

 

In diesem Augenblick wurde er von Kriminalhauptmeister Siebert, einem seiner Assistenten, angesprochen, der auf ihn zugelaufen kam. »Herr Brunner, Sie müssten mal mitkommen. Ich habe die Strecke zurückverfolgt, die der Tote von seinem Pferd geschleppt wurde. Dort vorne steht mitten auf dem Waldweg ein verlassener Geländewagen.«

Alarmiert eilte Brunner hinter seinem Mitarbeiter her. Da das Licht der Scheinwerfer nicht so weit reichte, waren sie auf Taschenlampen angewiesen. In ihrem Schein konnten sie im weichen Waldboden eine deutliche Schleifspur erkennen. Seitlich des Weges waren vom Unterwuchs Blätter und Äste abgerissen. Eine Strecke weiter tauchten aus der Dunkelheit die reflektierten Frontscheinwerfer eines Autos auf. Brunner und sein Kollege umrundeten das Fahrzeug und leuchteten ins Innere. Sofort fiel ihnen das Gewehr auf, das im Fußraum des Beifahrersitzes stand, mit dem Lauf gegen die Sitzfläche gelehnt. Im Kofferraum befanden sich verschiedene Jagdutensilien. Eindeutig das Auto eines Jägers. Vom Fahrer war allerdings keine Spur zu sehen. Brunner, der noch immer Gummihandschuhe trug, betätigte den Türgriff. Das Fahrzeug war überraschenderweise nicht abgeschlossen, es ließ sich unproblematisch öffnen.

»Siebert, holen Sie bitte die Spurensicherung her. Das Fahrzeug und insbesondere die Waffe müssen sichergestellt und untersucht werden. Und dann nehmen Sie sich zwei Männer und suchen nach dem Fahrer. Der Wagen hat sich ja nicht allein hierhergefahren. Ein Jäger wird wohl kaum seine Waffe im unverschlossenen Auto mitten im Wald stehen lassen.«

Kriminalkommissar Siebert nickte, griff zum Mobiltelefon und gab eine Reihe von Anweisungen.

Brunner untersuchte währenddessen die Spuren am Boden. So wie es aussah, überlappten die Reifenspuren eine ganze Strecke die Schleifspuren des abgeworfenen Reiters. Das konnte bedeuten, dass das Fahrzeug hierhergefahren wurde, nachdem der Reiter hier vorbeigezerrt worden war. Es war aber auch nicht auszuschließen, dass das Pferd womöglich vom Geländewagen gejagt worden war. Das wiederum würde bedeuten, der Sturz des Reiters war beabsichtigt gewesen.

Plötzlich hörte Brunner aus dem Dunkel des Waldes, von dort, wo sich der Waldweg in der Finsternis verlor, das laute Geräusch eines brechenden Astes. Der Kriminalbeamte fuhr herum und richtete den Strahl seiner Taschenlampe in die Nacht. Gleichzeitig zog er seine Dienstwaffe aus dem Gürtelholster. Im Lichtkegel der starken Lampe zeichnete sich die Gestalt eines Mannes mittleren Alters ab, der sich leicht schwankend am Stamm einer jungen Birke abstützte und mit der anderen Hand seine Augen vor der Blendwirkung des Lichts schützte.

Brunner erfasste sofort, dass der Mann Jagdkleidung trug. Offensichtlich handelte es sich um den Besitzer des Geländewagens. Der Mann verhielt sich auffällig, entweder war er betrunken oder verletzt. Jedenfalls hatte er sichtlich Mühe sich auf den Beinen zu halten.

»Brunner, Kriminalpolizei«, rief ihm Brunner entgegen und senkte etwas den Lichtstrahl, um die Blendwirkung abzuschwächen.

Siebert näherte sich dem Mann von schräg vorn. »Bleiben Sie bitte stehen und lassen Sie mich Ihre Hände sehen«, forderte der Kriminalbeamte in scharfem Ton, wobei er den Mann keine Sekunde aus den Augen ließ.

Der Unbekannte gab plötzlich einen unverständlichen Laut von sich, dann brach er mitten auf dem Waldweg zusammen. Brunner und Siebert sahen sich an.

»Rufen Sie den Arzt, der sich bei den Reitern befindet. Er soll herkommen und sich den Mann ansehen.« befahl Brunner, und Siebert griff zum Mobiltelefon.

Brunner kniete sich neben den Liegenden und tastete ihn schnell nach Waffen ab. In einer Lederscheide am Gürtel steckte ein feststehendes Jagdmesser. Brunner nahm es ihm ab. Ansonsten war er unbewaffnet. In der Oberschenkeltasche seiner Jagdhose steckte eine Lederhülle. Darin befand sich ein Dienstausweis. Der Mann hieß Bruno Müller und war Förster. Der Forstmann war nicht völlig weggetreten. Mit rollenden Augen gab er mehr oder weniger verständliche Laute von sich. Der Kriminalbeamte kniete sich neben dem Mann nieder und beugte sich zu seinem Mund herab.

»Pfeil … betäubt«, waren die einzigen Worte, die er mit viel Geduld aus dem Gestammel herausfiltern konnte. Plötzlich begann der Mann zu würgen. Brunner drehte ihn schnell auf die Seite und hielt ihm den Kopf. Gurgelnd erbrach er sich.

In diesem Augenblick traf der Mediziner ein. Brunner schilderte ihm kurz, was in den letzten Minuten geschehen war. »Er hat etwas von einem Pfeil und einer Betäubung gesagt. Wenigstens habe ich das so verstanden.«

Der Arzt holte ein Blutdruckmessgerät aus seiner Tasche und legte dem Liegenden die Manschette um den Oberarm. Kurz darauf verkündete er: »Der Mann muss sofort ins Krankenhaus, sein Blutdruck ist extrem niedrig.«

»Wir veranlassen das Nötige«, erwiderte Brunner und gab seinem Assistenten ein Zeichen. Siebert nickte und forderte über die Einsatzzentrale einen Rettungswagen an.

Einer der Männer der Spurensicherung, die den Geländewagen untersucht hatten, kam zu Brunner. Er hielt das Jagdgewehr in der Hand, das in einer transparenten Plastikhülle steckte.

»Aus dem Gewehr wurde vor kurzem geschossen«, stellte der Beamte fest. »Im Fahrzeug liegt auch eine leere Patronenhülse. Es handelt sich eindeutig um eine gebräuchliche Jagdwaffe in einem gängigen Kaliber. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass die Schüsse in die Augen des Toten mit dieser Waffe abgegeben wurden. Bei der Größe des Kalibers wäre vom Kopf des Mannes definitiv nicht mehr viel übrig geblieben.«

Brunner bedankte sich und ordnete an, die Waffe und das Fahrzeug in die Kriminaltechnik zu transportieren, damit man sie dort gründlich untersuchen konnte. Nachdenklich betrachtete er den am Boden liegenden Mann. Er war noch immer nicht bei klarem Verstand, also nicht vernehmungsfähig. Brunner erhoffte sich von seiner Aussage, etwas Licht ins Dunkel dieser Tat zu bringen. Er musste so schnell wie möglich vernommen werden. Zehn Minuten später näherte sich ein großes Fahrzeug über den Waldweg. Seine Scheinwerfer bohrten sich durch die Dunkelheit. Ein Stück entfernt musste es stehen bleiben, weil es nicht mehr weiter kam. Es handelte sich um das angeforderte Rettungsfahrzeug. Eine Minute später beugten sich die Sanitäter über den Förster.