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Loe raamatut: «Die verlorene Handschrift»

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Erster Theil

Erstes Buch

1.
Eine gelehrte Entdeckung

Es ist später Abend in unserm Stadtwald, leise wispert das Laub in der lauen Sommerluft und aus der Ferne tönt das Geschwirr der Feldgrillen bis unter die Bäume.

Durch die Gipfel fällt bleiches Licht auf den Waldweg und das undeutliche Geäst des Unterholzes. Der Mond besprengt den Pfad mit schimmernden Flecken, er zündet im Gewirr der Blätter und Zweige verlorene Lichter auf, hier läuft es vom Baumstamme bläulich herab wie brennender Spiritus, dort im Grunde leuchten aus tiefer Dunkelheit die Wedel eines Farnkrautes in grünlichem Golde, und über dem Wege ragt der dürre Ast als ungeheures weißes Geweih. Dazwischen aber und darunter schwarze, greifbare Finsterniß. Runder Mond am Himmel, deine Versuche den Wald zu erleuchten sind unordentlich, bleichsüchtig und launenhaft. Bitte, beschränke deine Lichter auf den Damm, der zur Stadt führt, wirf deinen falben Schein nicht allzuschräge über den Weg hinaus, denn linker Hand geht es abschüssig in Sumpf und Wasser.

Pfui, du Lügner! da ist der Sumpf, und der Schuh blieb darin stecken. Aber dir ist das gerade recht, Täuschen und Betrügen ist deine liebste Arbeit, du Phantast unter den Sternen. Man wundert sich allgemein, daß die Menschen der Vorzeit dich als Gott verehrten. Einst hat das griechische Mädchen dich Selene gerufen und sie hat dir die Schale mit purpurnem Mohn bekränzt, um durch deinen Zauber den treulosen Geliebten zu ihrer Thürschwelle zu locken. Damit ist es für immer vorbei. Wir haben die Wissenschaft und Photogen, und du bist herabgekommen zu einem armen alten Gaukler, der fern von Menschen im Walde umherflackert. Zu einem Gaukler! Man erweist dir noch allzuviel Ehre, wenn man dich überhaupt als lebendes Wesen behandelt. Was bist du denn eigentlich? eine Kugel ausgebrannter blasiger Schlacke, luftlos, farbenlos, wasserlos. Bah! eine Kugel? Unsere Gelehrten wissen, daß du nicht einmal rund bist, auch darin lügst du. Wir von der Erde haben dich nach unserer Seite in die Länge gezogen. Du bist gewissermaßen zugespitzt, und deine Gestalt ist erbärmlich und unregelmäßig. Du bist nichts als eine Art großer Erdrübe, welche sich in ewiger Sklaverei um uns herumwälzt.

Der Wald lichtet sich, zwischen der Stadt und dem Wanderer liegt noch eine weite Rasenfläche mit ihrem Weiher. Sei gegrüßt, du grüner Thalgrund; wohlgepflegte Kieswege ziehen sich über die Waldwiese, hier und da erhebt sich lustiges Gebüsch und eine Gartenbank. Auf der Bank rastet bei Tage der wohlhäbige Bürger; die Hände auf das spanische Rohr gestützt, sieht er stolz nach den Thürmen seiner guten Stadt hinüber. Ist heut auch die Flur verwandelt? Vor dem Wanderer breitet sich’s wie eine wogende Wasserfläche, und es wallt, brodelt und ballt sich um die Füße, in endlosen Nebelmassen soweit das Auge reicht. Welches Geisterheer wäscht hier seine grauen Gewänder? Sie flattern von den Bäumen, sie ziehen durch die Luft, mattscheinend, zerfließend, sich wieder verwebend. Und höher erheben sich die dämmrigen Gebilde. Sie schweben dem Wanderer über das Haupt, die düstern Massen der Bäume verschwinden, auch den Himmel verbirgt die Dämmerung, jeder Umriß löst sich auf in ein Chaos von bleichem Licht und wogender Unform. Noch dauert die feste Erde unter den Füßen des Schreitenden, und doch wandelt er geschieden von allen wirklichen Gestalten der Erde unter leuchtenden körperlosen Schatten. Hier sammelt sich’s und dort wieder zu schwebendem Scheine. Langsam schweifen die Luftgebilde an dem Flor, der den Wanderer umhüllt. Hier dringt eine gebeugte Gestalt heran, einem knieenden Weibe vergleichbar, das vor Schmerz zusammenbricht, dort ein Zug in langen wallenden Gewändern wie römische Senatoren, an ihrer Spitze ein Kaiser mit der Strahlenkrone, aber die Krone und das Haupt zerfließen, kopflos und gespenstig gleitet der große Schatten vorüber. – Dunst der feuchten Wiese, wer hat dich so verwandelt? Wetter! das that wieder der Alte dort oben, der gaukelnde Mond.

Weicht hinterwärts, täuschende Bilder der Dämmerung. Das Thal ist durchschritten, vor dem Wanderer schimmern erleuchtete Fenster, hier ragen die nächsten Häuser der Stadt, zwei stattliche Häuser und zwei Hausbesitzer! Hier wohnen Menschen, Steuerzahler, rührig Schaffende; sie hüllen sich zur Nacht in warme Decken und nicht in deine wässrigen Gespinste, o Mond, welche als rollende Tropfen von Haar und Bart träufeln; sie haben ihre Launen und ihre Biederkeit und schätzen deinen Werth, Mond, genau nach den Summen, die du der Stadtkasse an Gaslicht ersparst.

In dem Hause zur linken Hand glänzt aus der obern Fensterreihe eine Lampe nahe den Scheiben. Vergeblich mühst du dich, bleiches Wolkenlicht, deine trügenden Strahlen auch dort hineinzuwerfen. Denn ihn, der dort wohnt, sollst du mit deinen Possen nicht kränken, er ist ein Kind der Sonne und ein Held dieser Geschichte. Es ist der Professor Felix Werner, ein gelehrter Philolog, noch ein junger Herr, aber von wohlverdientem Ruf. Da sitzt er an seinem Arbeitstisch und blickt auf verblichene alte Schrift; ein ansehnlicher Mann; wenn er aufsteht, von guter Mittelgröße, dunkles gelocktes Haar umgibt ihm ein großes Antlitz von kräftiger Bildung, nichts Kleines darin, helle treue Augen unter dunklen Brauen, die Nase leicht gebogen, die Muskeln des Mundes stark entwickelt, wie bei einem beliebten Lehrer der studirenden Jugend natürlich ist. Jetzt gerade fährt ein feines Lächeln darüber und die Wangen sind ihm von der Arbeit oder geheimer Aufregung geröthet. Verschwinde hinter einer Wolke, Mond, die Gesellschaft meines Professors ist mir lieber.

Der Professor sprang von seinem Arbeitstisch auf und durchschritt einige Male eifrig das Zimmer, dann trat er an ein Fenster, welches auf das Nachbarhaus hinsah, stellte zwei große Bücher auf das Fensterbrett, legte ein kleineres darüber und brachte dadurch eine Figur hervor, welche einem griechischen P ähnlich sah und durch den Lichtschein dahinter für die Augen im Nachbarhause sichtbar wurde. Nachdem er dies telegraphische Zeichen gezimmert hatte, eilte er wieder an den Tisch und beugte sich von neuem über sein Buch.

Der Diener trat leise ein, das Abendessen wegzuräumen, welches auf einem Seitentisch zurechtgestellt war. Da er die Speisen unberührt fand, blickte er mißbilligend auf den Professor und blieb lange hinter dem leeren Stuhl stehen. Endlich rückte er sich in militärische Haltung: »Der Herr Professor haben das Abendbrot vergessen.«

»Räumen Sie ab, Gabriel,« befahl der Professor.

Gabriel bewies keinen guten Willen. »Der Herr Professor sollten wenigstens ein Stück kalten Braten zu sich nehmen. Aus Nichts wird Nichts,« fügte er wohlwollend hinzu.

»Es ist nicht in der Ordnung, daß Sie hereinkommen, mich zu stören.«

Gabriel nahm den Teller und trug ihn zum Professor. »Nehmen der Herr Professor wenigstens ein paar Bissen.«

»So geben Sie,« sagte der Professor und aß.

Gabriel benutzte die Pause, in welcher sein Herr widerstandslos bei verständlicher Thätigkeit verweilte, zu einer respectvollen Anmahnung: »Mein seliger Hauptmann hielt sehr auf ein gutes Abendessen.«

»Jetzt aber sind Sie ins Civile übersetzt,« versetzte der Professor lächelnd.

»Es ist aber auch nicht in der Ordnung,« fuhr Gabriel hartnäckig fort, »wenn ich allein den Braten esse, den ich für Sie hole.«

»Ich hoffe, Sie sind jetzt zufrieden,« versetzte der Professor und schob ihm den Teller zurück.

Gabriel zuckte die Achseln. »Es ist zum wenigsten guter Wille. Der Herr Doctor war nicht zu Hause.«

»Ich sehe. Sorgen Sie dafür, daß die Hausthür geöffnet bleibt.«

Gabriel machte Kehrt und entfernte sich mit den Tellern.

Wieder war der Gelehrte allein, das goldene Licht der Lampe fiel auf sein Antlitz und die Bücher, welche um ihn lagen, schneller rauschten die weißen Blätter unter der Hand des Nachschlagenden und in starker Spannung arbeiteten seine Züge.

Da pochte es an die Thür, der erwartete Besuch trat ein.

»Guten Abend, Fritz,« rief der Professor dem Eintretenden entgegen, »setze dich auf meinen Platz und sieh hierher.«

Der Gast, eine zarte Gestalt, mit feinen Zügen und einer Brille vor den Augen, rückte sich gehorsam zurecht und ergriff ein kleines Buch, welches Mittelpunkt eines Kreises von aufgeschlagenen Werken in jedem Alter und Format war. Mit Kennerblicken musterte er zuerst den Deckel: geschwärztes Pergament mit alten Noten und darunter geschriebenem Kirchentext, er warf einen spähenden Blick auf das Innere des Einbands und suchte nach den Pergamentstreifen, durch welche der übelerhaltene Rücken des Buches mit dem Deckel verbunden war. Dann erst sah er auf das erste Blatt des Inhalts, auf die vergilbten Buchstaben des geschriebenen Textes. »Das Leben der heiligen Hildegard – die Hand des Schreibers aus dem fünfzehnten Jahrhundert,« – sprach er, und sah den Freund fragend an.

»Nicht deshalb zeige ich dir das alte Buch.« Sieh weiter. Der Lebensgeschichte folgen Gebete, eine Anzahl Recepte und Wirthschaftsregeln von verschiedenen Händen bis über die Zeit Luthers hinaus. Ich hatte diese Blätter für dich gekauft, du konntest darin vielleicht etwas für deine Sagen oder Volksaberglauben finden. Bei der Durchsicht aber traf ich auf einer der letzten Seiten diese Stelle, und ich muß dir jetzt das Buch noch vorenthalten. Es scheint, daß mehre Generationen eines Mönchsklosters das Buch benutzt haben, um Bemerkungen einzuzeichnen, denn auf diesem Blatt ist ein Verzeichniß von Kirchenschätzen des Klosters Rossau. Es war ein dürftiges Kloster, das Verzeichniß ist nicht groß oder nicht vollständig. Es wurde von einem unwissenden Mönch, soweit man aus seiner Schrift schließen kann, etwa um 1500 gemacht. Sieh, hier Kirchengeräth und wenige geistliche Gewänder, und hier einige theologische Handschriften des Klosters, für uns gleichgültig, darunter aber zuletzt folgender Titel: »Das alt ungehür puoch von ußfart des swigers.«

Der Doctor prüfte neugierig die Worte. »Das klingt wie Ueberschrift eines Rittergedichts. Und was bedeuten die Worte selbst: Ist der Ausfahrende ein Schwieger oder ein Schweigender?«

»Versuchen wir das Räthsel zu lösen,« fuhr der Professor mit glänzenden Augen fort, und wies mit dem Finger auf dasselbe Blatt. »Eine spätere Hand hat in lateinischer Sprache dazugeschrieben: ›Dies Buch ist latein, fast unlesbar, fängt an mit den Worten: lacrimas et signa und endet mit den Worten: Hier schließt der Geschichten – actorum – dreißigstes Buch.‹ Jetzt rathe.«

Der Doctor sah in das erregte Gesicht des Freundes: »Laß mich nicht warten. Die Anfangsworte klingen vielversprechend, aber ein Titel sind sie nicht, es mögen im Anfange Blätter gefehlt haben.«

»So ist es,« versetzte der Professor vergnügt. »Nehmen wir an: ein, zwei Blätter haben gefehlt. Im fünften Kapitel der Annalen des Tacitus stehen die Worte lacrimas et signa hintereinander.«

Der Doctor sprang auf, auch ihm flog ein freudiges Roth über das Antlitz.

»Setze dich,« fuhr der Professor fort, den Freund niederdrückend. »Der alte Titel vor den Annalen des Tacitus lautete wörtlich übersetzt: ›Tacitus vom Ausgange des göttlichen Augustus‹, besser Deutsch: ›Vom Hinscheiden des Augustus ab.‹ Wohlan, ein unwissender Mönch entzifferte auf irgendeinem Blatte die ersten lateinischen Worte der Ueberschrift: ›Taciti ab excessu‹ und versuchte sie ins Deutsche zu übersetzen. Er war froh zu wissen, daß tacitus schweigsam bedeutet, hatte aber nie etwas von dem römischen Geschichtschreiber gehört, und übertrug also wörtlich: Vom Ausgange des Schweigenden.«

»Vortrefflich,« rief der Doctor. »Und der Mönch schrieb seine gelungene Uebersetzung des Titels auf die Handschrift. Triumph! Die Handschrift war ein Tacitus.«

»Höre noch weiter,« ermahnte der Professor. »Im dritten und vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung bestanden die beiden großen Werke des Tacitus, die Annalen und Historien, in einer Sammlung vereint unter dem Titel: Dreißig Bücher Geschichten. Wir haben dafür mehre alte Zeugnisse, sieh her.«

Der Professor schlug bekannte Stellen auf und legte sie vor den Freund. »Und wieder am Ende der verzeichneten Handschrift stand: ›Hier schließt das dreißigste Buch der Geschichten.‹ Dadurch schwindet, wie mir scheint, jeder Zweifel, daß diese Handschrift ein Tacitus war. Und um das Ganze zusammenzufassen, war das Sachverhältniß folgendes: Zur Zeit der Reformation befand sich eine Handschrift des Tacitus im Kloster Rossau, der Anfang fehlte. Es war eine alte Handschrift, sie war durch die Zeit und ihre Schicksale für Mönchsaugen fast unlesbar geworden.«

»Es muß aber an dem Buch noch etwas Besonderes gehangen haben,« unterbrach der Doctor, »denn der Mönch bezeichnet es mit dem Ausdruck: ungeheuer, welches etwa unserm Wort unheimlich entspricht.«

»So ist es,« bestätigte der Professor. »Man darf muthmaßen, daß entweder eine Klostersage, die sich daran geheftet hatte, oder ein altes Verbot, das Buch zu lesen, oder wahrscheinlicher eine ungewöhnliche Beschaffenheit des Deckels oder Formats diese Bezeichnung verursacht hat. Die Handschrift enthielt beide Geschichtswerke des Tacitus, welche durch fortlaufende Bücherzahl verbunden waren. Und wir,« fuhr er fort und warf in der Aufregung das Buch, welches er in der Hand hielt, auf den Tisch, »wir besitzen diese Handschrift nicht mehr. Keines von den beiden Geschichtswerken des großen Römers ist uns vollständig erhalten; uns fehlt, wenn wir die Lücken zusammenrechnen, wohl mehr als die Hälfte.«

Der Freund durchschritt hastig das Zimmer. »Das ist eine von den Entdeckungen, die das Blut schneller in die Adern treibt. Dahin und verloren! Aber es überläuft Einen heiß, wenn man deutlich empfindet, daß so wenig fehlte, einen kostbaren Schatz des Alterthums für uns zu retten. Er hat Völkermord, Brand und Zerstörung von anderthalb Jahrtausenden überdauert, er liegt noch zu der Zeit, wo das Morgenroth der neuen Bildung bei uns hereinbricht, glücklich verborgen und unbeachtet in einem deutschen Kloster, wenige Wegstunden von der großen Völkerstraße, auf welcher die Humanisten hin und her wandern, die Bilder römischer Herrlichkeit im Haupte, begierig nach jeder Ueberlieferung aus der Römerzeit suchend. Und kaum eine Tagreise entfernt erblühen Universitäten, auf denen die Jugend sich begeistert in lateinischen Versen und Prosa übt. Es lag so nahe, daß irgendein Mönch aus Rossau einem Ordensbruder davon erzählte, der die Kunde nach Mainz oder Köln trug. Es scheint unbegreiflich, daß nicht einer von den lateinischen Schullehrern, die sich damals über das ganze Land verbreiteten, Nachricht von dem Buche erhielt und den Brüdern etwas von dem Werth eines solchen Denkmals sagte. Und wie natürlich war, daß der geistliche Herr, welcher die Oberaufsicht über das Kloster übte, von dem geheimnißvollen Bande erfuhr und neugierig die verblichenen Blätter umschlug. Selbst dann wäre doch eine Kunde in die Welt gedrungen und die Handschrift uns wahrscheinlich irgendwo erhalten. Aber nichts von alledem. Und im besten Fall hat ein Zeitgenosse von Erasmus und Melanchthon, ein armer hungernder Mönch, die Handschrift an den Buchbinder verkauft, und abgeschnittene Streifen kleben noch irgendwo an alten Einbänden. Sogar dafür ist diese Nachricht wichtig. Das war eine schmerzliche Freude, die dir das kleine Buch bereitet hat.«

Der Professor faßte die Hand des Freundes, die beiden Männer sahen einer dem andern in das treue Gesicht. »Nehmen wir an, der alte Erbfeind erhaltener Schätze, das Feuer, habe auch diese Handschrift verzehrt,« schloß der Doctor traurig. »Wir sind Kinder, daß wir den Verlust empfinden, als hätten wir ihn heut erlitten.«

»Wer sagt uns, daß die Handschrift unwiederbringlich verloren ist?« entgegnete der Professor in unterdrückter Bewegung. »Noch einmal setze dich vor das Buch, es weiß uns auch von den Schicksalen der Handschrift zu erzählen.«

Der Doctor sprang an den Tisch und ergriff das Büchlein von der heiligen Hildegard.

»Hier hinter dem Verzeichniß,« sprach der Professor und wies auf die letzte Seite des Buches, »steht noch mehr.«

Der Doctor starrte auf das Blatt, lateinische Buchstaben ohne Sinn und Wortabsatz waren in sieben Zeilen zusammengeschrieben, darunter stand ein Name: F. Tobias Bachhuber.

»Vergleiche diese Buchstaben mit jener lateinischen Bemerkung neben dem Titel der unheimlichen Handschrift. Es ist unzweifelhaft dieselbe Hand, feste Züge des siebzehnten Jahrhunderts, hier das s, r, das f

»Es ist dieselbe Hand,« rief der Doctor vergnügt.

»Die Buchstaben ohne Sinn sind kindliche Geheimschrift, wie man sie im siebzehnten Jahrhundert übte. Diese hier ist leicht zu lösen, jeder Buchstabe ist mit seinem folgenden vertauscht. Auf einen Zettel habe ich die lateinischen Worte des Textes zusammengestellt. Die Worte lauten auf Deutsch: Beim Herannahen des wüthenden Schweden habe ich, um den verzeichneten Schatz unseres Klosters den Nachstellungen des brüllenden Teufels zu entziehen, dies alles an einer trocknen und hohlen Stelle des Hauses Bielstein niedergelegt. Am Tage Quasimodogeniti 37. Also am 19. April 1637. – Was sagst du nun, Fritz? Es scheint doch, die Handschrift war bis in den dreißigjährigen Krieg nicht verbrannt, denn Frater Tobias Bachhuber – sein Andenken sei gesegnet – hat sie in dieser Zeit noch einer Betrachtung gewürdigt, und da er ihr in dem Verzeichniß eine besondere Anmerkung gönnt, wird er sie zuverlässig bei der Flucht nicht zurückgelassen haben. Die geheimnißvolle Handschrift war also bis zum Jahre 1637 im Kloster Rossau, und der Frater hat sie im April dieses Jahres mit anderer Habe in der hohlen und trocknen Stelle des Schlosses Bielstein vor Baners Schweden verborgen.«

»Jetzt wird die Sache Ernst,« rief der Doctor.

»Ja, es ist Ernst, mein Freund; nicht unmöglich, daß die Handschrift noch irgendwo verborgen dauert.«

»Und Schloß Bielstein?«

»Es liegt nahe bei dem Städtchen Rossau. Das Kloster hat unter dem Schutze des geistlichen Schirmherrn bis zum dreißigjährigen Kriege in dürftigen Verhältnissen fortbestanden; im Jahre 1637 wurde Stadt und Kloster durch die Schweden verwüstet. Die letzten Mönche verloren sich, das Kloster wurde nicht wieder eingerichtet. Das ist alles, was ich zur Zeit erfahren konnte. Für das Weitere erbitte ich deine Hilfe.«

»Die nächste Frage ist, ob das Schloß den Krieg überdauert hat,« versetzte der Doctor, »und was bis jetzt daraus geworden. Schwerer wird zu ermitteln sein, wo Bruder Tobias Bachhuber geendet hat, und am schwersten, durch welche Hände sein kleines Buch auf uns gekommen ist.«

»Das Buch fand ich heut bei einem hiesigen Antiquar, es war neuer Erwerb und noch nicht in sein Verzeichniß aufgenommen. Die weitere Auskunft, welche der Verkäufer etwa geben kann, werde ich morgen holen. Es lohnt doch, nachzufragen,« fuhr er kühler fort, bemüht, einen Strom verständiger Erwägung über die aufbrennende Glut seiner Hoffnungen zu leiten. »Seit jener geheimen Notiz des Fraters sind mehr als zweihundert Jahre verflossen, die zerstörenden Kräfte waren in dieser Zeit nicht weniger thätig als früher, vor andern Krieg und Raub der Jahre, in denen das Kloster zu Grunde ging. So sind wir zuletzt nicht weiter, als wenn die Handschrift einige hundert Jahre früher verloren wäre.«

»Und doch steigt mit jedem Jahrhundert die Wahrscheinlichkeit, daß die Handschrift bis zur Gegenwart erhalten ist,« warf der Doctor ein, »selbst wenn man für jedes Jahrhundert eine gleiche Zahl von Angriffen auf das Bestehende annimmt. Aber die Zahl der Menschen, welche das Merkwürdige eines solchen Fundes ahnen, ist seit jenem Kriege so groß geworden, daß wenigstens eine Zerstörung durch rohe Unwissenheit fast undenkbar wird.«

»Wir dürfen darin auch dem Wissen der Gegenwart nicht zu viel vertrauen,« warf der Professor ein. »Wenn es aber wäre,« fuhr er auf, und seine Augen strahlten, »wenn uns die Kaisergeschichte des ersten Jahrhunderts, wie sie Tacitus geschrieben, durch ein günstiges Geschick zurückgegeben würde, es wäre ein Geschenk, so groß, daß der Gedanke an die Möglichkeit einen ehrlichen Mann wohl berauschen darf, wie römischer Wein.«

»Unschätzbar,« bestätigte der Doctor, »für unsre Kenntniß der Sprache, für hundert Einzelheiten römischer Geschichte.«

»Für die älteste Geschichte deiner Germanen,« rief der Professor.

Beide maßen wieder mit schnellen Schritten die Stube, schüttelten einander die Hände und sahen einer den andern fröhlich an.

»Und wenn ein günstiger Zufall auf dieser Spur zu der Handschrift leitete,« begann Fritz, »wenn sie durch dich dem Tageslicht zurückgegeben würde, du, mein Freund, du bist auch der beste Mann, sie herauszugeben. Der Gedanke, daß deinem Leben eine solche Freude und so ruhmvolle Arbeit werden könnte, macht mich glücklicher als ich sagen kann.«

»Finden wir die Handschrift,« versetzte der Professor, »so kann sie nur von uns beiden zusammen herausgegeben werden.«

»Von uns?« frug Fritz verwundert.

»Von dir mit mir,« entschied der Professor, »das soll deine Tüchtigkeit in weiteren Kreisen bekanntmachen.«

Fritz trat zurück. »Wie kannst du glauben, daß ich so etwas annehmen würde?«

»Widersprich mir nicht,« rief der Professor, »du bist vollkommen dafür geeignet.«

»Das bin ich nicht,« versetzte Fritz fest, »und ich bin zu stolz, etwas zu unternehmen, wobei ich deiner Güte mehr verdankte als meiner Kraft.«

»Das ist ungeschickte Bescheidenheit,« rief der Professor wieder.

»Ich werde es nie thun,« entgegnete Fritz. »Du verleugnest dein Zartgefühl, wenn du nur einen Augenblick daran denkst, daß ich mich vor dem Publicum mit fremden Federn schmücken könnte.«

»Ich weiß besser als du,« rief unwillig der Professor, »was du vermagst und was dir frommt.«

»Jedenfalls frommt mir nicht, dir, der du bei der Arbeit selbst den Löwenanteil haben würdest, den Lohn dafür heimlich abzunagen. Nicht meine Bescheidenheit, sondern meine Selbstschätzung verbietet das. Und dies Gefühl sollst du ehren,« schloß Fritz mit großer Energie.

»Nun,« lenkte der Professor ein, die auflodernde Empfindung bändigend, »vorläufig geberden wir uns wie der Mann, welcher Haus und Acker vom Erlös eines Kalbes kaufte, das ihm noch nicht geboren war. Sei ruhig, Fritz, nicht du, nicht ich werden die Handschrift herausgeben.«

»Und niemals werden wir erfahren, was römische Kaiser an Thusnelda und Thumelicus gefrevelt haben,« sagte Fritz und trat wieder teilnehmend zu dem Freunde.

»Aber es sind doch nicht Einzelheiten, welche uns den größten Gewinn brächten,« begann der Professor ruhiger, »und nicht, daß wir diese missen, macht uns den Verlust der Handschrift empfindlich. Denn für die Hauptsachen versagen andere Quellen nicht. Das Wichtigste wäre immer, daß Tacitus der erste und in mancher Hinsicht der einzige Geschichtschreiber ist, der höchst auffallende, unheimliche Seiten der menschlichen Natur dargestellt hat. Seine Werke sind uns zwei geschichtliche Tragödien, Scenen des Julischen und des Flavischen Kaiserhauses, markerschütternde Bilder der ungeheuren Umwandlung, welche durch ein Jahrhundert der größte Staat des Alterthums, die Seelen der Gehorchenden, die Charaktere der Herrscher erfahren; die Geschichte einer Tyrannenherrschaft, welche die edlen Geschlechter vertilgt, eine hohe und reiche Bildung heraustreibt und verdirbt, vor allem die Herrschenden selbst mit wenigen Ausnahmen entmenschlicht. Wir haben bis zur Gegenwart kaum ein anderes Werk, dessen Verfasser so spähend in die Seelen einer ganzen Reihe von Fürsten blickt, so scharf und genau die Verwüstungen schildert, welche die dämonische Krankheit der Könige in den verschiedensten Naturen hervorgebracht hat.«

»Mich hat immer geärgert,« sagte der Doctor, »wenn man ihm vorwarf, daß er zumeist Kaiser- und Hofgeschichte geschrieben. Wer darf Trauben von einer Cypresse verlangen und behagliche Freude an dem großartigen Staatsleben von einem Manne, der durch einen großen Theil seines Mannesalters täglich Messer und Giftbecher eines wahnsinnigen Despoten vor seinen Augen sah.«

»Ja,« fuhr der Professor beistimmend fort, »er gehörte zu den Aristokraten, deren Häupter hoch über die Menge herausragen, eine Körperschaft, unfähig zum Regieren, unwillig im Gehorsam. In dem Gefühl einer bevorzugten Stellung waren sie die unentbehrlichen Diener, die stillen Feinde und Rivalen der Fürsten, in ihnen bildeten sich die Tugenden und Laster einer gewaltigen Zeit zu ungeheuren Erscheinungen. Wer sollte die Geschichte römischer Fürsten schreiben als ein Mann aus diesem Kreise? Durch Palastintriguen und stillen Einfluß dunkler Nebengestalten entwickeln sich die Thatsachen, die schwärzeste Missethat verbirgt sich hinter den steinernen Wänden des Palastes, das Gerücht, das leise Gemurmel des Vorzimmers, der lauernde Blick versteckten Hasses sind oft die einzigen Quellen des Geschichtschreibers. Uns bleibt vor solcher Zeit nichts übrig, als bescheiden das Urtheil des Mannes zu schätzen, der uns von diesen fremdartigen Zuständen Kunde überliefert hat. Wer die erhaltenen Bruchstücke des Tacitus ehrlich und gescheidt betrachtet, der wird seinen sichern Blick in die tiefsten Falten eines römischen Gemüthes bewundernd ehren. Es ist ein erfahrener Staatsmann, ein kräftiger und wahrhafter Geist, der uns die geheime Geschichte seiner Zeit so erzählt, daß wir die Menschen und all ihr Thun verstehen, als ob wir selbst Gelegenheit hätten, ihnen in das Herz zu sehen. Wer das vermag für spätere Jahrtausende, der ist nicht nur ein großer Geschichtschreiber, er ist auch ein bedeutender Mensch. Und vor solcher Gestalt habe ich immer eine tiefherzliche Ehrfurcht empfunden, und ich halte für eine Pflicht ernster Kritik, das Mäkeln der Kleinen von solchem Bilde fern zu halten.«

»Schwerlich hat einer seiner Zeitgenossen,« bestätigte der Doctor, »so tief die Schwächen der eigenen Zeitbildung gefühlt als er. Immer hat mich gerührt, wie er das Schwerflüssige seiner Sprache, das Vieldeutige des Ausdrucks mit der Scheu und Vorsicht entschuldigt, welche unter der Herrschaft des Scheusals Domitian auch in die Seelen der Besten geschlagen wurden.«

»Ja,« schloß der Professor, »er ist ein Mann, soweit das in seiner Zeit noch möglich war, und das ist zuletzt die Hauptsache. Denn was uns am meisten fördert, ist doch nicht die Summe des Wissens, die wir einem großen Manne verdanken, sondern seine eigene Persönlichkeit, die durch das, was er für uns geschaffen, ein Theil unseres eigenen Wesens wird. Der Geist des Aristoteles ist für uns noch etwas Anderes als die Summe seiner Lehren, welche wir aus den erhaltenen Büchern zusammensuchen. Und Sophokles bedeutet uns etwas ganz Anderes als sieben erhaltene Tragödien. Die Art, wie er dachte, fühlte, das Schöne empfand, das Gute wollte, die soll ein Stück von unserm Leben werden. Dadurch vor allem wirkt das Wissen aus vergangener Zeit befruchtend auf unser Sein und Wollen. In diesem Sinne ist auch die schwermüthige, trauervolle Seele des Tacitus für mich weit mehr als selbst seine Schilderungen des Kaiserwahnsinns. – Sieh, Fritz, und deshalb sind mir dein Sanskrit und deine Inder nicht recht, ihnen fehlen die Männer.«

»Sie sind wenigstens für uns schwer erkennbar,« erwiederte der Freund. »Aber wer, wie du, die homerischen Gesänge den Studenten erklärt, der darf nicht verkennen, welcher Reiz darin liegt, in die geheimnißvollsten Tiefen des menschlichen Schaffens hinabzusteigen, in die Periode der Menschheit, wo noch die junge Volkskraft den Einzelnen, welcher in ihr arbeitet, unserm Blicke verdeckt, und das Volk selbst in Poesie, Sage, Recht, wie ein Einzelwesen Lebendiges gestaltend, vor uns tritt.«

»Wer sich nur damit beschäftigt,« versetzte der Professor eifrig, »der wird leicht phantastisch und weich. Das Studium solcher Urzeiten wirkt wie orientalischer Mohnsaft. Die Arbeit unter diesen schillernden, undeutlichen Gebilden, welche im Dunkel aufleuchten und wieder verschwinden, verführt zu ungeregeltem Combiniern; wer sein Lebtag darüber verweilt, wird auch in den Gesichtspunkten, durch die er sein eigenes Leben bestimmt, schwerlich Willkür fernhalten.«

Fritz stand auf. »Das ist unser alter Streit. Ich weiß, du willst mir nichts Hartes sagen, aber ich empfinde, daß du dabei an mich denkst.«

»Und habe ich Unrecht?« fuhr der Professor fort, »wahrlich ich habe Respect vor jeder geistigen Arbeit, aber meinem Freund möchte ich die gönnen, welche für ihn am segensreichsten ist. Dein Suchen im indischen Götterglauben und deutscher Mythologie lockt dich von einem Räthsel zu dem andern; in dem endlosen Gebiet von unklaren Anschauungen und Bildern unter wesenlosen Schatten soll eine junge Kraft nicht immer weilen. Zwinge dich zu einem Abschluß. Auch aus äußern Gründen. Es taugt dir nicht, Privatgelehrter zu sein, das Leben ist zu bequem, der äußere Zwang, ein bestimmtes Gebiet von Pflichten fehlen dir. Du hast mehre von den besten Eigenschaften eines Lehrers. Sitze nicht im Hause der Eltern, du mußt Universitätslehrer werden.«

Dem Freunde stieg eine dunkle Röthe langsam über die Wangen. »Es ist genug,« rief er gekränkt, »wenn ich zu wenig an meine Zukunft gedacht habe, du sollst mir darüber keine Vorwürfe machen. Es war mir vielleicht zu große Freude, an deiner Seite zu leben und der stille Vertraute deiner kräftigen Arbeit zu sein. Etwas von dem Segen, den das Leben eines Mannes allen mittheilt, die an seinem geistigen Schaffen theilnehmen, habe ich in deiner Nähe doch auch empfunden. Gute Nacht.«

Der Professor ging auf ihn zu und faßte seine beiden Hände. »Bleibe,« rief er, »bist du mir böse?«

»Nein,« erwiederte Fritz, »aber ich gehe.« Er schloß leise die Thür.

Der Professor ging mit starken Schritten auf und ab, machte sich Vorwürfe über seine Heftigkeit und sorgte um die Stimmung des Freundes. Endlich warf er die Bücher, welche Telegraphendienste verrichtet hatten, heftig auf die Bretter zurück und trat wieder an den Arbeitstisch.

Gabriel leuchtete dem Doctor die Treppe hinab, öffnete die Hausthür und schüttelte den Kopf, als sein Nachtgruß bei dem Herrn nur kurze Erwiederung fand. Er löschte das Licht und horchte nach dem Zimmer seines Herrn. Als er die Schritte des Professors hörte, entschloß er sich, noch einige Züge lauer Abendluft zu schöpfen und stieg in den kleinen Hausgarten. Dort stieß er auf den Hausbesitzer Herrn Hummel, welcher wahrscheinlich in derselben Absicht unter den Fenstern des Professors spazierte. Herr Hummel war ein breitschultriger Mann mit einem großen Kopfe und eigensinnigem Gesicht, wohlhäbig und gut erhalten, von ehrbarem und altfränkischem Anstrich. Er rauchte aus seiner langen Pfeife mit einer sehr dicken Spitze, an welcher eine Reihe kleiner Kirchthurmsknöpfe hinter einander stand.

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Ilmumiskuupäev Litres'is:
06 detsember 2019
Objętość:
1020 lk 1 illustratsioon
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Public Domain
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