Gustav Schwab
Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil
Die schönsten Sagen des klassischen Altertums sind eine Sammlung überlieferter Mythen aus dem Griechenland der Antike.
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Impressum neobooks
Inhalt
Zweiter Teil
Die Sagen Trojas
Erstes Buch
Trojas Erbauung
Priamos, Hekabe und Paris
Der Raub der Helena
Die Griechen
Botschaft der Griechen an Priamos
Agamemnon und Iphigenia
Abfahrt der Griechen. Aussetzung des Philoktetes
Die Griechen in Mysien. Telephos
Paris zurückgekehrt
Die Griechen vor Troja
Zweites Buch Ausbruch des Kampfes. Protesilaos. Kyknos
Palamedes und sein Tod
Taten des Achill und Ajax
Polydoros
Chryses, Apollo und der Zorn des Achill
Versuchung des Volkes durch Agamemnon
Paris und Menelaos
Drittes Buch Pandaros
Die Schlacht. Diomedes
Glaukos und Diomedes
Hektor in Troja
Hektor und Ajax im Zweikampf
Waffenstillstand
Sieg der Trojaner
Botschaft der Griechen an Achill
Dolon und Rhesos
Zweite Niederlage der Griechen
Kampf um die Mauer
Kampf um die Schiffe
Die Griechen von Poseidon gestärkt
Hektor von Apollo gekräftigt
Tod des Patroklos
Jammer Achills
Viertes Buch Achill neu bewaffnet
Achill und Agamemnon versöhnt
Schlacht der Götter und Menschen
Kampf des Achill mit dem Stromgotte Skamander
Schlacht der Götter
Achill und Hektor vor den Toren
Der Tod Hektors
Leichenfeier des Patroklos
Priamos bei Achill
Hektors Leichnam in Troja
Penthesilea
Memnon
Der Tod des Achill
Leichenspiele zu Ehren Achills
Fünftes Buch Der Tod des großen Ajax
Machaon und Podaleirios
Neoptolemos
Philoktet auf Lemnos
Der Tod des Paris
Sturm auf Troja
Das hölzerne Pferd
Die Zerstörung Trojas
Menelaos und Helena. Polyxena
Abfahrt von Troja. Ajax des Lokrers Tod
Dritter Teil Erstes Buch
Die letzten Tantaliden Agamemnons Geschlecht und Haus
Agamemnons Ende
Agamemnon gerächt
Orestes und die Eumeniden
Iphigenia bei den Tauriern
Zweites Buch
Odysseus ‐ Erster Teil Telemach und die Freier
Telemach bei Nestor
Telemach zu Sparta
Verschwörung der Freier
Odysseus scheidet von Kalypso und scheitert im Sturm
Nausikaa
Odysseus bei den Phäaken
Odysseus erzählt den Phäaken seine Irrfahrten
Odysseus erzählt weiter
Odysseus erzählt weiter
Odysseus erzählt weiter
Odysseus verabschiedet sich von den Phäaken
Drittes Buch
Odysseus ‐ Zweiter Teil Odysseus kommt nach Ithaka
Odysseus bei dem Sauhirten
Telemach verläßt Sparta
Gespräche beim Sauhirten
Telemach kommt heim
Odysseus gibt sich dem Sohne zu erkennen
Vorgänge in der Stadt und im Palast
Telemach, Odysseus und Eumaios kommen in die Stadt
Odysseus als Bettler im Saal
Odysseus und der Bettler Iros
Penelope vor den Freiern
Odysseus abermals verhöhnt
Odysseus mit Telemach und Penelope allein
Die Nacht und der Morgen im Palaste
Der Festschmaus
Der Wettkampf mit dem Bogen
Odysseus entdeckt sich den guten Hirten
Die Rache
Bestrafung der Mägde
Odysseus und Penelope
Odysseus und Laërtes
Aufruhr in der Stadt durch Athene gestillt
Der Sieg des Odysseus
Viertes Buch
Äneas ‐ Erster Teil Äneas verläßt die trojanische Küste
Den Flüchtlingen wird Italien versprochen
Sturm und Irrfahrten. Die Harpyien
Äneas an der Küste Italiens. Sizilien und der Zyklopenstrand. Tod des Anchises
Äneas nach Karthago verschlagen
Venus von Jupiter mit Rom getröstet. Sie erscheint ihrem Sohne
Äneas in Karthago
Dido und Äneas
Didos Liebe betört den Äneas
Äneas verläßt auf Jupiters Befehl Karthago
Fünftes Buch
Äneas ‐ Zweiter Teil Der Tod des Palinurus. Landung in Italien. Latinus. Lavinia
Lavinia dem Äneas zugesagt
Juno facht Krieg an. Amata. Turnus. Die Jagd der Trojaner
Ausbruch des Krieges. Äneas sucht bei Euander Hilfe
Der Schild des Äneas
Turnus beim Lager der Trojaner
Nisus und Euryalus
Sturm des Turnus abgeschlagen
Äneas kommt ins Lager zurück
Äneas und Turnus kämpfen. Turnus tötet den Pallas
Turnus von Juno gerettet. Lausus und Mezentius von Äneas erschlagen
Sechstes Buch
Äneas ‐ Dritter Teil Waffenstillstand
Volksversammlung der Latiner
Neue Schlacht. Kamilla fällt
Unterhandlung. Versuchter Zweikampf. Friedensbruch. Äneas meuchlerisch verwundet
Äneas geheilt. Neue Schlacht. Sturm auf die Stadt
Turnus stellt sich zum Zweikampf und erliegt. Ende
Nachtrag Aktäon
Prokne und Philomela
Prokris und Kephalos
Äakos
Philemon und Baucis
Arachne
Midas
Hyakinthos
Atalante
Zethos und Amphion
Die Dioskuren
Melampus
Orpheus und Eurydike
Keyx und Halkyone
Zweiter Teil
Die Sagen Trojas
Erstes Buch
Trojas Erbauung
In uralten Zeiten wohnten auf der Insel Samothrake, im Ägäischen Meere, zwei Brüder, Iasion und
Dardanos, Söhne des Zeus und einer Nymphe, Fürsten des Landes. Von diesen wagte Iasion, als ein
Göttersohn, seine Augen zu einer Tochter des Olymp zu erheben, warf eine ungestüme Neigung auf
die Göttin Demeter und wurde zur Strafe seiner Kühnheit von seinem eigenen Vater mit dem Blitze
erschlagen. Dardanos, der andere Sohn, verließ, tief betrübt über den Tod seines Bruders, Reich und
Heimat und ging hinüber auf das asiatische Festland an die Küste Mysiens, da wo die Flüsse Simois
und Skamander vereinigt in das Meer strömen und das hohe Idagebirge sich nach dem Meere
abgedacht in eine Ebene verliert. Hier herrschte der König Teukros, kretischen Ursprungs, und nach
ihm hieß auch das Hirtenvolk jener Gegenden Teukrer. Von diesem Könige wurde Dardanos
gastfreundlich aufgenommen, bekam einen Strich Landes zum Eigentum und die Tochter des Königs
zur Gemahlin. Er gründete eine Ansiedlung, das Land wurde nach ihm Dardania und das Volk der
Teukrer von nun an Dardaner genannt. Ihm folgte sein Sohn Erichthonios in der Herrschaft, und
dieser zeugte den Tros, nach welchem die Landschaft nun Troas, der offene Hauptort des Landes
Troja, und Teukrer oder Dardaner jetzt auch Trojaner oder Troer genannt wurden. Nachfolger des
Königs Tros war sein ältester Sohn Ilos. Als dieser einst das benachbarte Land der Phryger besuchte,
wurde er von dem Könige Phrygiens zu eben angeordneten Kampfspielen eingeladen und trug hier
im Ringkampfe den Sieg davon. Er erhielt als Kampfpreis fünfzig Jünglinge und ebenso viele
Jungfrauen, dazu eine buntgefleckte Kuh, die ihm der König mit der Weisung eines alten
Orakelspruches übergab: wo sie sich niederlegen würde, da sollte er eine Burg gründen. Ilos folgte
der Kuh, und da sie sich bei dem offenen Flecken lagerte, der seit seinem Vater Tros der Hauptort des
Landes und seine eigene Wohnung war, auch schon Troja hieß, so baute er hier auf einem Hügel die
feste Burg Ilion oder Ilios, auch Pergamos geheißen, wie denn das ganze Wesen von nun an bald
Troja, bald Ilion, bald Pergamos genannt wurde. Ehe er jedoch die Burg anlegte, bat er seinen
Ahnherrn Zeus um ein Zeichen, daß ihm die Gründung derselben genehm sei. Am folgenden Tage
fand er das vom Himmel gefallene Bild der Göttin Athene, Palladion genannt, vor seinem Zelte liegen.
Es war drei Ellen hoch, hatte geschlossene Füße und hielt in der rechten Hand einen erhobenen
Speer, in der andern Rocken und Spindel. Mit diesem Bilde hatte es folgende Bewandtnis: Die Göttin
Athene wurde nach der Sage von ihrer Geburt an bei einem Triton, einem Meergott, erzogen, der
eine Tochter namens Pallas hatte, die gleichen Alters mit Athene und ihre geliebte Gespielin war.
Eines Tages nun, als die beiden Jungfrauen ihren kriegerischen Übungen oblagen, traten sie zu einem
scherzhaften Wettkampfe einander gegenüber. Eben wollte die Tritonentochter Pallas einen Streich
auf ihre Gespielin führen, als Zeus, für seine Tochter bangend, den Schild aus Ziegenfell, die Ägis,
dieser vorhielt. Dadurch erschreckt, blickte Pallas furchtsam auf und wurde in dem Augenblicke von
Athene tödlich verwundet. Tiefe Trauer bemächtigte sich der Göttin, und sie ließ zum dauernden
Andenken ein recht ähnliches Bild ihrer geliebten Gespielin Pallas verfertigen, legte demselben einen
Brustharnisch von dem gleichen Ziegenfelle, wie der Schild war, um, der nun auch Ägispanzer oder
Ägide hieß, stellte das Bild neben die Bildsäule des Zeus und hielt es hoch in Ehren. Sie selbst aber
nannte sich seitdem Pallas Athene. Dieses Palladion nun warf, mit Einwilligung seiner Tochter, Zeus
vom Himmel in die Gegend der Burg Ilios herunter, zum Zeichen, daß Burg und Stadt unter seinem
und seiner Tochter Schutze stehe.
Der Sohn des Königs Ilos und der Eurydike war Laomedon, ein eigenmächtiger und gewalttätiger
Mann, welcher Götter und Menschen betrog. Dieser dachte darauf, den offenen Flecken Troja, der
noch nicht befestigt war wie die Burg, mit einer Mauer zu umgeben und so zu einer förmlichen Stadt
zu machen. Damals irrten die Götter Apollo und Poseidon, die sich gegen Zeus, den Göttervater,
empört hatten und aus dem Himmel gestoßen waren, heimatlos auf der Erde umher. Es war der
Wille des Zeus, daß sie dem Könige Laomedon an der Mauer Trojas bauen helfen sollten, damit seine
und Athenes Lieblingsstadt der Zerstörung trotzende Mauern hätte. So führte sie denn ihr Geschick
in die Nähe von Ilios, als eben mit dem Bau der Stadtmauern begonnen wurde. Die Götter machten
dem Könige Laomedon ihre Anträge, und da sie auf der Erde nicht bloß müßig gehen durften noch
ohne Arbeit mit Ambrosia gespeist wurden, so bedingten sie sich einen Lohn aus, der ihnen auch
versprochen ward, und fingen nun an zu frönen. Poseidon half unmittelbar bei dem Bau; unter seiner
Leitung stieg die Ringmauer breit und schön, eine undurchdringliche Schutzwehr der Stadt, in die
Höhe. Phöbos Apollo weidete inzwischen das Hornvieh des Königes in den gewundenen Schluchten
und Tälern des waldreichen Gebirges Ida. Die Götter hatten versprochen, auf diese Weise dem
Könige ein Jahr lang zu frönen. Als nun diese Frist abgelaufen war, auch die herrliche Stadtmauer
fertig stand, entzog der trügerische Laomedon den Göttern gewaltsam ihren gesamten Lohn, und als
sie mit ihm rechteten und der beredte Apollo ihm bittere Vorwürfe machte, da jagte er beide fort,
mit der Androhung, dem Phöbos Hände und Füße fesseln zu lassen, beiden aber die Ohren zu
verstümmeln. Mit großer Erbitterung schieden die Götter und wurden Todfeinde des Königs und des
Volkes der Trojaner; auch Athene kehrte sich von der Stadt, die bisher unter ihrem Schutz gestanden,
ab, und schon jetzt war, einer stillschweigenden Einwilligung des Zeus zufolge, die eben erst mit
stattlichen Mauern versehene Hauptstadt mit ihrem Königsgeschlecht und Volke diesen Göttern, zu
welchen sich mit dem glühendsten Hasse in kurzer Zeit auch Hera gesellte, zum Verderben
überlassen.
Priamos, Hekabe und Paris
Das weitere Los des Königes Laomedon und seiner Tochter Hesione ist schon von uns berichtet
worden. Ihm folgte sein Sohn Priamos in der Regierung. Dieser vermählte sich in zweiter Ehe mit
Hekabe oder Hekuba, der Tochter des phrygischen Königes Dymas. Ihr erster Sohn war Hektor. Als
aber die Geburt ihres zweiten Kindes herannahete, da schaute Hekabe in einer dunkeln Nacht im
Traume ein entsetzliches Gesicht. Ihr war, als gebäre sie einen Fackelbrand, der die ganze Stadt Troja
in Flammen setze und zu Asche verbrenne. Erschrocken meldete sie diesen Traum ihrem Gemahle
Priamos. Der ließ seinen Sohn aus erster Ehe, Aisakos mit Namen, kommen, welcher ein Wahrsager
war und von seinem mütterlichen Großvater Merops die Kunst, Träume zu deuten, erlernt hatte.
Aisakos erklärte, seine Stiefmutter Hekabe werde einen Sohn gebären, der seiner Vaterstadt zum
Verderben gereichen müsse. Er riet daher, das Kind, das sie erwartete, auszusetzen. Wirklich gebar
die Königin einen Sohn, und die Liebe zum Vaterland überwog bei ihr das Muttergefühl. Sie
gestattete ihrem Gatten Priamos, das neugeborne Kind einem Sklaven zu geben, der es auf den Berg
Ida tragen und daselbst aussetzen sollte. Der Knecht hieß Agelaos. Dieser tat, wie ihm befohlen war;
aber eine Bärin reichte dem Säugling die Brust, und nach fünf Tagen fand der Sklave das Kind gesund
und munter im Walde liegen. Jetzt hob er es auf, nahm es mit sich, erzog es auf seinem Äckerchen
wie sein eigenes Kind und nannte den Knaben Paris.
Als der Königssohn unter den Hirten zum Jünglinge herangewachsen war, zeichnete er sich durch
Körperkraft und Schönheit aus und wurde ein Schutz aller Hirten des Berges Ida gegen die Räuber;
daher ihn jene auch nur Alexander, das heißt Männerhilfe, nannten.
Nun geschah es eines Tages, als er mitten im abwegsamsten und schattigsten Tale, das sich durch die
Schluchten des Berges Ida hinzog, zwischen Tannen und Steineichen, ferne von seinen Herden, die
den Zugang zu dieser Einsamkeit nicht fanden, an einen Baum gelehnt mit verschränkten Armen
hinabschaute durch den Bergriß, der eine Durchsicht auf die Paläste Trojas und das ferne Meer
gewährte, daß er einen Götterfußtritt vernahm, der die Erde um ihn her beben machte. Ehe er sich
besinnen konnte, stand, halb von seinen Flügeln, halb von den Füßen getragen, Hermes der
Götterbote, den goldnen Heroldsstab in den Händen, vor ihm; doch war auch er nur der Verkündiger
einer neuen Göttererscheinung; denn drei himmlische Frauen, Göttinnen des Olymp, kamen mit
leichten Füßen über das weiche, nie gemähete und nie gewendete Gras einhergeschritten, daß ein
heiliger Schauer den Jüngling überlief und seine Stirnhaare sich aufrichteten. Doch der geflügelte
Götterbote rief ihm entgegen: »Lege alle Furcht ab; die Göttinnen kommen zu dir als zu ihrem
Schiedsrichter: dich haben sie gewählt, zu entscheiden, welche von ihnen dreien die schönste sei.
Zeus befiehlt dir, dich diesem Richteramte zu unterziehen; er wird dir seinen Schirm und Beistand
nicht versagen!« So sprach Hermes und erhob sich auf seinen Fittichen, den Augen des Königssohnes
entschwebend, über das enge Tal empor. Seine Worte hatten dem blöden Hirten Mut eingeflößt; er
wagte es, den schüchternen gesenkten Blick zu erheben und die göttlichen Gestalten, die in
überirdischer Größe und Schönheit seines Spruches gewärtig vor ihm standen, zu mustern. Der erste
Anblick schien ihm zu sagen, daß eine wie die andere wert sei, den Preis der Schönheit
davonzutragen; doch gefiel ihm jetzt die eine Göttin mehr, jetzt die andere, so wie er länger auf einer
der herrlichen Gestalten verweilt hatte. Nur schien ihm allmählich eine, die jüngste und zarteste,
holder und liebenswürdiger als die andern, und ihm war, als ob, aus ihren Augen ausgehend, ein Netz
von Liebesstrahlen sich ihm um Blick und Stirne spänne. Indessen hub die stolzeste der drei Frauen,
die an Wuchs und Hoheit über die beiden andern hervorragte, dem Jünglinge gegenüber an: »Ich bin
Hera, die Schwester und Gemahlin des Zeus. Wenn du diesen goldenen Apfel, welchen Eris, die
Göttin der Zwietracht, beim Hochzeitmahle der Thetis und des Peleus unter die Gäste warf, mit der
Aufschrift: ›Der Schönsten‹, mir zuerkennest, so soll dir die Herrschaft über das schönste Reich der
Erde nicht fehlen, ob du gleich nur ein aus dem Königspalaste verstoßener Hirte bist.« »Ich bin Pallas,
die Göttin der Weisheit«, sprach die andere mit der reinen, gewölbten Stirne, den tiefblauen Augen
und dem jungfräulichen Ernst im schönen Antlitz; »wenn du mir den Sieg zuerkennst, sollst du den
höchsten Ruhm der Weisheit und Männertugend unter den Menschen ernten!« Da schaute die
dritte, die bisher immer nur mit den Augen gesprochen hatte, den Hirten mit einem süßen Lächeln
noch durchdringender an und sagte: »Paris, du wirst dich doch nicht durch das Versprechen von
Geschenken betören lassen, die beide voll Gefahr und ungewissen Erfolges sind! Ich will dir eine
Gabe geben, die dir gar keine Unlust bereiten soll; ich will dir geben, was du nur zu lieben brauchst,
um seiner froh zu werden: das schönste Weib der Erde will ich dir als Gemahlin in die Arme führen!
Ich bin Aphrodite, die Göttin der Liebe!«
Als Venus dem Hirten Paris dies Versprechen tat, stand sie vor ihm, mit ihrem Gürtel geschmückt, der
ihr den höchsten Zauber der Anmut verlieh. Da erblaßte vor dem Schimmer der Hoffnung und ihrer
Schönheit der Reiz der andern Göttinnen vor seinen Augen, und mit trunkenem Mute erkannte er
der Liebesgöttin das goldene Kleinod, das er aus Heras Hand empfangen hatte, zu. Hera und Athene
wandten ihm zürnend den Rücken und schwuren diese Beleidigung ihrer Gestalt an ihm, an seinem
Vater Priamos, am Volk und Reiche der Trojaner zu rächen und alle miteinander zu verderben; und
Hera insbesondere wurde von diesem Augenblicke an die unversöhnlichste Feindin der Trojaner.
Venus aber schied von dem entzückten Hirten mit holdseligem Gruße, nachdem sie ihm ihr
Versprechen feierlich und mit dem Göttereide bekräftiget wiederholt hatte.
Paris lebte seiner Hoffnung geraume Zeit als unerkannter Hirte auf den Höhen des Ida; aber da die
Wünsche, welche die Göttin in ihm rege gemacht hatte, so lange nicht in Erfüllung gingen, so
vermählte er sich hier mit einer schönen Jungfrau, namens Önone, die für die Tochter eines
Flußgottes und einer Nymphe galt und mit welcher er auf dem Berge Ida bei seinen Herden
glückliche Tage in der Verborgenheit verlebte. Endlich lockten ihn Leichenspiele, die der König
Priamos für einen verstorbenen Anverwandten hielt, zu der Stadt hinab, die er früher nie betreten
hatte. Priamos setzte nämlich bei diesem Feste als Kampfpreis einen Stier aus, den er bei den Hirten
des Ida von seinen Herden holen ließ. Nun traf es sich, daß gerade dieser Stier der Lieblingsstier des
Paris war, und da er ihn seinem Herrn dem Könige nicht vorenthalten durfte, so beschloß er,
wenigstens den Kampf um denselben zu versuchen. Hier siegte er in den Kampfspielen über alle
seine Brüder, selbst über den hohen Hektor, der der Tapferste und Herrlichste von ihnen war. Ein
anderer mutiger Sohn des Königs Priamos, Deïphobos, von Zorn und Scham über seine Niederlage
überwältigt, wollte den Hirtenjüngling niederstoßen. Dieser aber flüchtete sich zum Altare des Zeus,
und die Tochter des Priamos, Kassandra, welche die Wahrsagergabe von den Göttern zum Angebinde
erhalten hatte, erkannte in ihm ihren ausgesetzten Bruder. Nun umarmten ihn die Eltern, vergaßen
über der Freude des Wiedersehens die verhängnisvolle Weissagung bei seiner Geburt und nahmen
ihn als ihren Sohn auf.
Vorerst kehrte nun Paris zu seiner Gattin und seinen Herden zurück, indem er auf dem Berge Ida eine
stattliche Wohnung als Königssohn erhielt. Bald jedoch fand sich Gelegenheit für ihn zu einem
königlicheren Geschäfte, und nun ging er, ohne es zu wissen, dem Preis entgegen, den ihm seine
Freundin, die Göttin Aphrodite, versprochen hatte.
Der Raub der Helena
Wir wissen, daß, als König Priamos noch ein zarter Knabe war, seine Schwester Hesione von Herakles,
der den Laomedon getötet und Troja erobert hatte, als Siegesbeute fortgeschleppt und seinem
Freunde Telamon geschenkt worden war. Obgleich dieser Held sie zu seiner Gemahlin erhoben und
zur Fürstin von Salamis gemacht, so hatte doch Priamos und sein Haus diesen Raub nicht
verschmerzt. Als nun an dem Königshofe einmal wieder die Rede von dieser Entführung war und
Priamos seine große Sehnsucht nach der fernen Schwester zu erkennen gab, da stand in dem Rate
seiner Söhne Alexander oder Paris auf und erklärte, wenn man ihn mit einer Flotte nach
Griechenland schicken wollte, so gedenke er mit der Götter Hilfe des Vaters Schwester den Feinden
mit Gewalt zu entreißen und mit Sieg und Ruhm gekrönt nach Hause zurückzukehren. Seine Hoffnung
stützte sich auf die Gunst der Göttin Aphrodite, und er erzählte deswegen dem Vater und den
Brüdern, was ihm bei seinen Herden begegnet war. Priamos selbst zweifelte jetzt nicht länger, daß
sein Sohn Alexander den besondern Schutz der Himmlischen erhalten werde, und auch Deïphobos
sprach die gute Zuversicht aus, daß, wenn sein Bruder mit einer stattlichen Kriegsrüstung erschiene,
die Griechen Genugtuung geben und Hesione ihm ausliefern würden. Nun aber war unter den vielen
Söhnen des Priamos auch ein Seher, namens Helenos. Dieser brach plötzlich in weissagende Worte
aus und versicherte, wenn sein Bruder Paris ein Weib aus Griechenland mitbringe, so würden die
Griechen nach Troja kommen, die Stadt schleifen, den Priamos und alle seine Söhne niedermachen.
Diese Wahrsagung brachte Zwiespalt in den Rat. Troilos, der jüngste Sohn des Priamos, ein
tatenlustiger Jüngling, wollte von den Prophezeiungen seines Bruders nichts hören, schalt seine
Furchtsamkeit und riet, sich durch seine Drohungen nicht vom Kriege abschrecken zu lassen. Andere
zeigten sich bedenklicher. Priamos aber trat auf die Seite seines Sohnes Paris, denn ihn verlangte
sehnlich nach der Schwester.
Nun wurde von dem König eine Volksversammlung berufen, in welcher Priamos den Trojanern
vortrug, wie er schon früher unter Antenors Anführung eine Gesandtschaft nach Griechenland
geschickt, Genugtuung für den Raub der Schwester und diese selbst zurückverlangt hätte. Damals sei
Antenor mit Schmach abgewiesen worden, jetzt aber gedenke er, wenn es dem versammelten Volke
so gefalle, seinen eigenen Sohn Paris mit einer ansehnlichen Kriegsmacht auszusenden und das mit
Gewalt zu erzwingen, was Güte nicht zuwege gebracht. Zur Unterstützung dieses Vorschlags erhub
sich Antenor, schilderte mit Unwillen, was er selbst als friedlicher Gesandter Schmähliches in
Griechenland geduldet hatte, und beschrieb das Volk der Griechen als trotzig im Frieden und verzagt
im Kriege. Seine Worte feuerten das Volk an, daß es sich mit lautem Zurufe für den Krieg erklärte.
Aber der weise König Priamos wollte die Sache nicht leichtsinnig beschlossen wissen und forderte
jeden auf zu sprechen, der ein Bedenken in dieser Angelegenheit auf dem Herzen hätte. Da stand
Panthoos, einer der Ältesten Trojas, in der Versammlung auf und erzählte, was sein Vater Othrys, von
der Götter Orakel belehrt, ihm selbst in jungen Jahren anvertraut hatte. Wenn je einmal ein
Königssohn aus Laomedons Geschlechte eine Gemahlin aus Griechenland ins Haus führen würde, so
stehe den Trojanern das äußerste Verderben bevor. »Darum«, schloß er seine Rede, »lasset uns von
dem trügerischen Kriegsruhm nicht verführt werden, Freunde; lasset uns das Leben lieber in Frieden
und Ruhe dahinbringen als auf das Spiel der Schlachten setzen und zuletzt mitsamt der Freiheit
verlieren.« Aber das Volk murrte über diesen Vorschlag und rief seinem Könige Priamos zu, den
furchtsamen Worten eines alten Mannes kein Gehör zu schenken und zu tun, was er im Herzen doch
schon beschlossen hätte.
Da ließ Priamos Schiffe rüsten, die auf dem Berge Ida gezimmert worden, und sandte seinen Sohn
Hektor ins Phrygerland, Paris und Deïphobos aber ins benachbarte Päonien, um verbündete Völker
zu sammeln; auch Trojas waffenfähige Männer schickten sich zum Kriege an, und so kam bald ein
gewaltiges Heer zusammen. Der König stellte dasselbe unter den Befehl seines Sohnes Paris und gab
ihm den Bruder Deïphobos, den Sohn des Panthoos, Polydamas, und den Fürsten Äneas an die Seite;
die mächtige Ausrüstung ging in die See und steuerte der griechischen Insel Kythere zu, wo sie zuerst
zu landen gedachten. Unterwegs begegnete die Flotte dem Schiffe des griechischen Völkerfürsten
und spartanischen Königes Menelaos, der auf einer Fahrt nach Pylos zu dem weisen Fürsten Nestor
begriffen war. Dieser staunte, als er den prächtigen Schiffszug erblickte, und auch die Trojaner
betrachteten neugierig das schöne griechische Fahrzeug, das festlich ausgeschmückt einen der ersten
Fürsten Griechenlands zu tragen schien. Aber beide Teile kannten einander nicht; jeder besann sich,
wohin wohl der andere fahren möge, und so flogen sie auf den Wellen aneinander vorüber. Die
trojanische Flotte kam glücklich auf der Insel Kythere an. Von dort wollte sich Paris nach Sparta
begeben und mit den Zeussöhnen Kastor und Pollux in Unterhandlung treten, um seine
Vatersschwester Hesione in Empfang zu nehmen. Würden die griechischen Helden sie ihm
verweigern, so hatte er von seinem Vater den Befehl, mit der Kriegsflotte nach Salamis zu segeln und
die Fürstin mit Gewalt zu entführen.
Ehe jedoch Paris diese Gesandtschaftsreise nach Sparta antrat, wollte er in einem der Aphrodite und
Artemis gemeinschaftlich geweihten Tempel zuvor ein Opfer darbringen. Inzwischen hatten die
Bewohner der Insel die Erscheinung der prächtigen Flotte nach Sparta gemeldet, wo in der
Abwesenheit ihres Gemahls Menelaos die Fürstin Helena allein hofhielt. Diese, eine Tochter des Zeus
und der Leda und die Schwester des Kastor und Pollux, war die schönste Frau ihrer ganzen Zeit und
als zartes Mädchen schon von Theseus entführt, aber von ihren Brüdern ihm wieder entrissen
worden. Als sie, zur Jungfrau aufgeblüht, bei ihrem Stiefvater Tyndareos, König zu Sparta,
heranwuchs, zog ihre Schönheit ein ganzes Heer Freier herbei, und der König fürchtete, wenn er
einen von ihnen zum Eidam wählte, sich alle anderen zu Feinden zu machen. Da gab ihm Odysseus
von Ithaka, der kluge griechische Held, den Rat, alle Freier durch einen Eid zu verpflichten, daß sie
dem erkorenen Bräutigam gegen jeden andern, der den König um dieser Heirat seiner Tochter willen
anfeinden würde, mit den Waffen in der Hand beistehen wollten. Als Tyndareos dies vernommen,
ließ er die Freier den Eid schwören, und nun wählte er selbst Menelaos, den Argiverfürsten, den Sohn
des Atreus, Bruder Agamemnons, gab ihm die Tochter zur Gemahlin und überließ ihm sein Königreich
Sparta. Helena gebar ihrem Gemahl eine Tochter, Hermione, die noch in der Wiege lag, als Paris nach
Griechenland kam.
Als nun die schöne Fürstin Helena, die in ihrem Palaste während des Gemahls Abwesenheit freudlose
Tage ohne Abwechslung verlebte, von der Ankunft der herrlichen Ausrüstung eines fremden
Königssohnes auf der Insel Kythere Kunde erhielt, wandelte sie eine weibliche Neugierde an, den
Fremdling und sein kriegerisches Gefolge zu schauen, und um dies Verlangen befriedigen zu können,
veranstaltete auch sie ein feierliches Opfer im Artemistempel auf Kythere. Sie betrat das Heiligtum in
dem Augenblicke, als Paris sein Opfer vollbracht hatte. Wie dieser die eintretende Fürstin gewahr
ward, sanken ihm die zum Gebet erhobenen Hände, und er verlor sich in Staunen, denn er meinte,
die Göttin Aphrodite selbst wieder zu erblicken, wie sie ihm in seinem Hirtengehöfte erschienen war.
Der Ruf ihrer Schönheit hatte sich zwar längst Bahn zu ihm gemacht, und Paris war begierig gewesen,
ihrer Reize in Sparta ansichtig zu werden. Doch hatte er gemeint, das Weib, das ihm die Göttin der
Liebe verheißen hatte, müsse viel schöner sein, als die Beschreibung von Helena lautete. Auch dachte
er bei der Schönen, die ihm versprochen war, an eine Jungfrau und nicht an die Gattin eines anderen.
Jetzt aber, wo er die Fürstin von Sparta vor Augen sah und ihre Schönheit mit der Schönheit der
Liebesgöttin selbst wetteiferte, ward ihm plötzlich klar, daß nur dieses Weib es sein könne, das ihm
Aphrodite zum Lohne für sein Urteil zugesagt hatte. Der Auftrag seines Vaters, der ganze Zweck der
Ausrüstung und Reise schwand in diesem Augenblick aus seinem Geiste; er schien sich mit seinen
Tausenden Bewaffneter nur dazu ausgesendet, Helena zu erobern. Während er so in ihre Schönheit
versunken stand, betrachtete auch die Fürstin Helena den schönen asiatischen Königssohn mit dem
langen Haarwuchs, in Gold und Purpur mit orientalischer Pracht gekleidet, mit nicht unterdrücktem
Wohlgefallen; das Bild ihres Gemahls erbleichte in ihrem Geiste, und an seine Stelle trat die reizende
Gestalt des jugendlichen Fremdlings.
Indessen kehrte Helena nach Sparta in ihren Königspalast zurück, suchte das Bild des schönen
Jünglings aus ihrem Herzen zu verdrängen und wünschte ihren noch immer auf Pylos verweilenden
Gatten Menelaos zurück. Statt seiner erschien Paris selbst mit seinem erlesenen Volk in Sparta und
bahnte sich mit seiner Botschaft den Weg in des Königes Halle, obgleich dieser abwesend war. Die
Gemahlin des Fürsten Menelaos empfing ihn mit der Gastfreundschaft, welche sie dem Fremden,
und mit der Auszeichnung, welche sie dem Königssohne schuldig war. Da betörte seine Saitenkunst,
sein einschmeichelndes Gespräch und die heftige Glut seiner Liebe das unbewachte Herz der Königin.
Als Paris ihre Treue wanken sah, vergaß er den Auftrag seines Vaters und Volkes, und nur das
trügerische Versprechen der Liebesgöttin stand vor seiner Seele. Er versammelte seine Getreuen, die
bewaffnet mit ihm nach Sparta gekommen waren, und verführte sie durch Aussicht auf reiche Beute,
in den Frevel zu willigen, welchen er mit ihrer Hilfe auszuführen gedachte. Dann stürmte er den
Palast, bemächtigte sich der Schätze des griechischen Fürsten und entführte die schöne Helena, die
widerstrebend und doch nicht ganz wider Willen nach der Insel und seiner Flotte folgte.
Als er mit seiner reizenden Beute auf der See durch das Ägäische Meer schwamm, überfiel die
eilenden Fahrzeuge eine plötzliche Windstille: vor dem Königsschiffe, das den Räuber mit der Fürstin
trug, teilte sich die Woge und der uralte Meeresgott Nereus hub sein schilfbekränztes Haupt mit den
triefenden Haar‐ und Bartlocken aus der Flut empor und rief dem Schiffe, welches wie mit Nägeln in
das Wasser geheftet schien, das wiederum selber einem ehernen Walle glich, der sich um die Rippen
des Fahrzeugs aufgeworfen hatte, seine fluchende Wahrsagung zu: »Unglücksvögel flattern deiner
Fahrt voran, verwünschter Räuber! Die Griechen werden kommen mit Heeresmacht, verschworen,
deinen Frevelbund und das alte Reich des Priamos zu zerreißen! Wehe mir, wieviel Rosse, wieviel