An Harry Alis.
Auf allen Strassen und Wegen rings um Goderville zogen die Landleute mit ihren Frauen dem Flecken zu, wo heute Markttag war. Die Männer gingen langsamen Schrittes und beugten sich bei jeder Bewegung ihrer langen, krummen Beine vornüber. Ihr Körper trug die Merkmale schwerer Arbeit. Das ewige Aufdrücken beim Pflügen hatte die linke Schulter emporgezogen, den Leib gekrümmt; und durch das Getreide-Mähen waren die Knie geknickt, um einen besseren Schwung nehmen zu können. Ihre blauen gesteiften Kittel, am Hals und an den Ärmelbördchen mit weißer Stickerei versehen, glänzten als ob sie lackiert wären. Der Wind blähte sie um den knochigen Körper auf, sodass sie einem Luftballon glichen, der im nächsten Augenblick aufsteigen soll und aus dem ein Kopf, zwei Arme und zwei Füsse hervorragen.
Die einen zogen eine Kuh, die anderen ein Kalb hinter sich her. Die Frauen trieben von rückwärts, mittels eines abgerissenen Zweiges, an dem noch die Blätter hafteten, das Tier zu schnellerem Gange an. Sie trugen am Arme große Körbe, aus denen hier die Köpfe von Hühnern, dort von Enten herausschauten. Sie machten kürzere aber lebhaftere Schritte als ihre Männer. Ihre eingefallene Brust war durch einen kleinen gestrickten Shawl, vorn mit einer Nadel zusammengehalten, verdeckt, während den Kopf ein oben zusammengebundenes Leinentuch schützte, auf dem eine Mütze sass.
Hin und wieder kam ein Karren im langsamen Trabe vorüber; zwei Männer vorn und eine Frau, die sich krampfhaft bei jedem Stosse festhielt, wurden tüchtig auf demselben durcheinander gerüttelt.
Auf dem Marktplatz von Goderville wogte ein buntes Gemenge von Menschen und Tieren; die Hörner der Kühe, die langhaarigen Filzhüte der reichen Bauern, die Mützen der Bäuerinnen ragten aus diesem Gewimmel empor. Kreischende, scharfe, gellende Stimmen bildeten ein fortgesetztes seltsames Geschrei, mit dem sich zuweilen ein lautes Gelächter aus der breiten Brust eines Bauern oder das langgezogene Gebrüll einer Kuh vermengte, die an der Wand eines Hauses angebunden war.
Alles roch nach Stall, Milch, Rauch, Heu und Schweiß; strömte jenen scharfen, halb tierischen, halb menschlichen Dunst aus, der den Landleuten eigen ist.
Meister Hauchecorne von Bréauté war in Goderville eingetroffen und steuerte dem Marktplätze zu, als er an der Erde ein Endchen Schnur bemerkte. Meister Hauchecorne, ein echter sparsamer Normanne, dachte, dass man alles aufheben müsse, was noch irgendwie verwendbar sei. Er bückte sich mühsam, denn er litt stark an Rheumatismus. Er hob das Endchen Schnur auf und wickelte es sorgsam zusammen, als er auf der Schwelle seines Hauses Meister Malandain, den Sattler, bemerkte, der ihm zuschaute. Sie hatten wegen eines Kummets einmal Streit miteinander gehabt und waren sich seitdem feindlich gesinnt geblieben. Meister Hauchecorne schämte sich etwas, von seinem Feinde dabei beobachtet zu werden, wie er in der Gosse ein Endchen Schnur auflas. Schnell verbarg er seinen Fund unter dem Kittel und dann in seiner Hosentasche. Hierauf stellte er sich, als suche er auf dem Boden etwas, das er nicht finden konnte und ging dann dem Markte zu den Kopf wegen seiner Schmerzen vornüber gebeugt.
Er verlor sich unter der lärmenden langsam auf und abwogenden Menge, die sich ihren endlosen Handelsgeschäften widmete. Die Landleute untersuchten die Kühe, gingen fort, kamen wieder, immer in der Furcht hereingelegt zu werden, nicht wagend sich endgültig zu entscheiden, misstrauisch den Käufer musternd, und unausgesetzt die List des Mannes oder den Fehler des Tieres zu entdecken suchend.
Die Frauen hatten die große Körbe vor sich hingesetzt und das Geflügel herausgenommen, das nun. an den Füssen zusammengebunden, mit erstauntem Blick und rotem Kamm am Boden lag.
Sie horchten auf die gebotenen Preise, bestanden auf den ihrigen mit zäher Beharrlichkeit bis sie dann schliesslich, wenn der Käufer schon von dannen gehen wollte, plötzlich heruntergingen und ihm nachriefen:
»Gut Meister Anthime. Ich geb es her.«
Dann wurde der Platz allmählich leerer; und als es zum »Angelus« läutete, begaben sich diejenigen, die weiter wohnten in die verschiedenen Wirtshäuser.
Bei Jourdain war der große Saal voll von Speisenden, wie der große Hof voll von Fuhrwerken aller Art: von Karren, Wagen, Gigs, Ein- und Zweispännern, unnennbaren Fahrzeugen, starrend von Schmutz, unförmlich zum Teil, vielfach geflickt, deren Deichseln wie zwei Arme zum Himmel erhoben waren, oder umgekehrt auf der Erde ruhten, während der Hinterteil in die Luft ragte.
Den Speisenden gegenüber warf der ungeheure, hell angefachte Kamin seine wärmenden Strahlen auf den Rücken der zur Rechten sitzenden. An demselben brieten auf drei Bratspiessen Hühner, Tauben und Schöpsenkeulen. Ein leckerer Geruch von gebratenem Fleisch und saftiger Sauce, die aus demselben hervorquoll, stieg zur Decke empor, machte den Mund wässerig und stimmte zur Fröhlichkeit.
Die ganze besser situierte Welt der Landleute speiste dort bei Meister Jourdain, Wirt und Pferdehändler in einer Person, einem geriebenen Burschen, der manchen Taler im Kasten hatte.
Die Schüsseln wanderten auf und ab, und leerten sich ebenso schnell wie die Flaschen mit goldgelbem Cider. Man unterhielt von der Ernte. Das Wetter war für das Grünfutter günstig, aber für das Getreide etwas zu nass. Jeder erzählte von seinen Geschäften, seinen Käufen und Verkäufen.
Plötzlich tönte im Hofe vor dem Hause die Trommel. Alle Welt stand mit Ausnahme einiger Gleichgültiger sofort auf. und rannte vor die Tür, an die Fenster, den Mund noch voll Essen und die Serviette in der Hand.
Nachdem der Ausrufer seinen Wirbel beendet hatte, verkündete er mit lauter Stimme, Satz für Satz betonend:
»Es wird zur Kenntnis der Einwohner von Goderville gebracht – und namentlich aller Besucher des Marktes, – dass heute Morgen zwischen neun und zehn Uhr – auf der Strasse von Beuzeville – eine schwarzlederne Brieftasche – mit fünfhundert Francs und verschiedenen Geschäftspapieren – verloren worden ist. – Der ehrliche Finder wird gebeten – dieselbe auf der hiesigen Mairie oder bei – Herrn Fortune Houlbrèque in Manneville gegen eine Belohnung von 20 Francs abzugeben.«
Dann entfernte sich der Mann. Noch einmal hörte man von weitem das dumpfe Rasseln seiner Trommel und schwachen Laut seiner Stimme.
Hierauf begann eine lebhafte Unterhaltung über diesen Zwischenfall. Man erwog die Aussichten, die Meister Houlbrèque hatte, sein Eigentum wieder zu erhalten oder für immer zu verlieren.
Die Mahlzeit ging zu Ende.
Man war gerade beim Kaffee, als der Gendarmerie-Brigadier auf der Schwelle erschien.
»Ist Herr Hauchecorne von Béauté hier?« fragte er.
»Hier bin ich,« antwortete Meister Hauchecorne, der am anderen Ende des Zimmers gesessen hatte.
»Ich ersuche Sie, Herr Hauchecorne,« nahm der Brigadier wieder das Wort, »mich gefälligst zur Mairie zu begleiten. Der Herr Maire hätte ein Wort mit Ihnen zu reden.«
Der überraschte Landmann stiess bestürzt sein Glas von sich und folgte dem Brigadier in noch gebückterer Haltung als am Vormittag; denn nach jeder Ruhe machten sich seine Gichtschmerzen doppelt fühlbar. »Ich komme schon, ich komme schon,« murmelte er dabei fortwährend.
Der Maire erwartete ihn in seinem Sessel sitzend. Es war der Notar des Ortes, ein dicker ernster Mann, der sich stets in schwunghaften Phrasen bewegte.
»Meister Hauchecorne; begann er, »man hat Sie heute Morgen beobachtet, wie Sie auf der Strasse von Beuzeville die Brieftasche aufhoben, die Herr Houlbrèque von Manneville verloren hat.«
Schon der Verdacht der auf ihn lastete, ohne dass er den Grund dafür begriff, versetzte den Landmann in Furcht. Fassungslos starrte er den Maire an.
»Ich? Ich soll die Brieftasche aufgehoben haben?«
»Ja, Sie.«
»Auf mein Wort, ich habe keine Ahnung davon gehabt.«
»Man hat Sie beobachtet.«
»Mich beobachtet? Wer will mich, gesehen haben?«
»Herr Malandain, der Sattler.«
Da erinnerte sich der Alte; er verstand, und wurde rot vor Zorn.
»Ach ja, er hat mich gesehen dieser Lümmel; er hat gesehen, wie ich dieses Endchen Schnur da, schauen Sie, Herr Maire, aufhob.«
Und in seine Tasche greifend zog er das kleine Stückchen Schnur hervor.
Aber der Maire schüttelte ungläubig den Kopf.
»Sie werden mir das nicht einreden, Meister Hauchecorne, dass Herr Malandain, ein glaubwürdiger Mann, diesen Bindfaden für eine Brieftasche angesehen habe.«
Wütend erhob der Landwirt seine Hände, spuckte zur Seite, um seinen Respekt auszudrücken und wiederholte:
»Das ist die Wahrheit, bei Gott! Die reine Wahrheit, Herr Maire. Wahrhaftig, ich beschwöre es bei meiner Ehre und Seligkeit.«
»Nachdem Sie den Gegenstand aufgehoben hatten,« nahm der Maire wieder das Wort, »haben Sie sogar noch lange in der Gosse gesucht, ob Ihnen nicht etwa noch ein Geldstück entgangen wäre.«
Der Biedermann keuchte schwer vor Zorn und Furcht.
»Wer sollte es glauben! … Wer sollte das für möglich halten! … Solche Lügen um einen ehrenwerten Mann bloszustellen! Wie ist es möglich!«
Aber er hatte gut protestieren; man glaubte ihm nicht.
Man konfrontierte ihn mit Meister Malandain, der seine Behauptung absolut aufrecht hielt. Eine Stunde lang stritten sie sich herum. Man durchsuchte Meister Hauchecorne auf sein Verlangen, aber man fand nichts bei ihm.
Der Maire wurde schliesslich zweifelhaft. Er entliess ihn mit der Bemerkung, dass er die Sache anzeigen und sich weitere Befehle einholen werde.
Die Geschichte hatte sich bald herumerzählt. Als Meister Hauchecorne die Mairie verliess, wurde er von allen Seiten umringt und mit lebhafter spöttischer Neugier, aber ohne jede äussere Entrüstung, befragt. Er erzählte die Geschichte von der Schnur. Aber man glaubte ihm nicht und lachte.
Er erzählte immer aufs Neue jedem, der sie hören wollte, seine Geschichte, schilderte seinen Protest auf der Mairie, zeigte seine umgewendeten Taschen, um zu beweisen, dass nichts darin sei.
»Alter Schlaukopf!« sagte man zu ihm.
Er wurde wütend, ganz ausser sich und schliesslich traurig, weil man ihm nicht glaubte; er wusste nicht, was er machen sollte und erzählte immer wieder seine Geschichte.
Der Abend brach heran. Es wurde Zeit zur Heimkehr. Er machte sich auf den Weg mit drei Nachbarn, denen er die Stelle zeigte, wo er das Endchen Schnur aufgelesen hatte. Und den ganzen Weg über sprach er von seinem Abenteuer.
Den ganzen Abend ging er im Dorfe Béauté herum, um aller Welt seine Geschichte zu erzählen. Er begegnete nur ungläubigen Gesichtern.
Nachts wurde er vor Aufregung krank.
Am anderen Tage, gegen ein Uhr Nachmittags, brachte Marius Paumelle, Dienstknecht bei Meister Breton, Bauer in Ymauville, die Brieftasche samt Inhalt dem Meister Houlbrèque von Manneville zurück.
Dieser Mann behauptete, die Brieftasche tatsächlich auf der Strasse gefunden zu haben. Aber da er des Lesens unkundig war, so hatte er das Ding mit nach Hause genommen und seinem Herrn übergeben.
Die Nachricht verbreitete sich bald in der Nachbarschaft. Auch Meister Hauchecorne erfuhr sie und triumphierte. Er machte sich abermals auf den Weg und erzählte aller Welt die Geschichte nebst seiner Rechtfertigung.
»Was mich bekümmert«, sagte er, »ist nicht sosehr die Sache selbst, versteht ihr, sondern die Lügerei. Nichts geht einem so nahe, als durch eine Lüge um sein Ansehen zu kommen.«
Dieses Abenteuer bildete jetzt seinen steten Gesprächsstoff. Er erzählte es den Vorübergehenden auf der Strasse, den Zechern im Wirtshause, den Kirchengängern am nächsten Sonntage. Selbst Fremde hielt er an, um ihnen die Geschichte zu erzählen. Er war jetzt ziemlich beruhigt; nur etwas genierte ihn, ohne dass er recht wusste, was es war. Es schien als ob die Leute mit ihm scherzten, wenn er die Geschichte erzählte. Man schien nicht recht überzeugt zu sein. Es war, als ob man hinter seinem Rücken allerlei munkelte.
Am Dienstag der nächsten Woche begab er sich abermals nach Goderville auf den Markt, lediglich von dem Bedürfnis getrieben, seine Geschichte zu erzählen.
Malandain stand vor seiner Tür. Er lachte, als er ihn vorübergehen sah. Warum wohl?
Er trat auf einen Pächter von Criquetot zu, der ihn gar nicht ausreden ließ, ihm auf die Schulter klopfte und ihm ins Gesicht lachte: »Geh nur, alter Schlaumeier.« Dann drehte er ihm den Rücken zu.
Verblüfft blieb Meister Hauchecorne stehen, er wurde von Minute zu Minute unruhiger. Warum nannte man ihn einen »alten Schlaumeier?«
Als er sich in der Gaststube bei Meister Jourdain zu Tisch gesetzt hatte, begann er wieder mit seiner Geschichte.
»Ach, geh doch, alter Pfiffikus!« rief ihm ein Viehhändler von Montivilliers zu. »Ich kenne schon deine Schnur!«
»Aber man hat die Brieftasche doch wiedergefunden!« stammelte Hauchecorne.
»Ach schweig doch lieber still;« entgegnete jener, »der eine findet sie, und der andere bringt sie zurück. Keiner sieht’s, keiner hört’s, der Teufel soll einem was beweisen.«
Dem Landmann ging der Atem aus. Jetzt begriff er endlich. Man beschuldigte ihn heimlich, dass er die Brieftasche durch einen Verwandten einen Komplizen hätte zurückbringen lassen.
Er wollte Einwendungen machen; aber der ganze Tisch fing an zu lachen.
Er vergass seine Mahlzeit zu vollenden und ging fort, verfolgt von einem Regen bissiger Scherze.
Beschämt und entrüstet kehrte er nach Hause zurück. Er erstickte fast vor Zorn; er kannte sich selbst nicht mehr aus. Er war umso erbitterter, als er bei seiner normannischen Pfiffigkeit sich nichts daraus gemacht hätte, das zu tuen, dessen man ihn beschuldigte, und sich noch dazu dessen ganz ruhig gerühmt hätte. Es schien ihm fast unmöglich seine Unschuld zu beweisen, weil er seiner Hinterlist wegen bekannt war. Er war in seinem Innersten verwundet durch diesen ungerechten Verdacht.
Nun begann er aufs Neue seine Abenteuer zu erzählen, und jedes Mal wurde die Geschichte länger. Denn jedes Mal fügte er neue Gründe hinzu, immer heftiger protestierte er, immer feierlicher wurden die Reden, die er sich in den Stunden des Alleinseins erdachte. Sein Geist war nur noch mit dieser Geschichte beschäftigt. Aber je länger seine Verteidigung wurde, und je geschraubter die Gründe waren, die er vorbrachte, umso weniger glaubte man ihm.
»Das sind echte Lügen-Geschichten,« tuschelte man hinter seinem Rücken.
Er fühlte das, sein Blut wallte auf; er erschöpfte sich in nutzlosen Anstrengungen.
Gegen Ende Dezember legte er sich zu Bett. Er starb in den ersten Tagen des Januar, und in den Fieberfantasien der letzten Stunden bezeugte er fortwährend seine Unschuld.
»Eine kleine Schnur … Ein Endchen Schnur … sehen Sie, hier ist es Herr Maire.«
Das waren seine letzten Worte.
*
Du bist wahrhaftig, scheint mir’s, nicht bei Trost, meine Liebe, mich bei solchem Wetter im freien Felde spazieren zu führen. Du hast seit zwei Monaten sonderbare Ideen. Du führst mich, ob ich will oder nicht, an die See, wo Du doch in den vierzig Jahren, die wir nun verheiratet sind, niemals an so was gedacht hast. Du bestehst mit Gewalt auf Fecamp, dieser traurigen Stadt; und kaum sind wir hier, so bist Du, die sonst keinen Schritt vor die Türe ging, von einer solchen Rennwut ergriffen, dass Du am heissesten Tage des Jahres querfeldein läufst. Ersuche doch d’Agreval um seine Begleitung; der fügt sich besser Deinen Launen. Ich für meine Person gehe ins Haus und halte meine Siesta.«
»Kommen Sie mit mir?« wandte sich Madame de Cadour an ihren alten Freund.
Er verbeugte sich lächelnd, mit etwas altmodischer Höflichkeit, und sagte:
»Ich folge Ihnen, wohin Sie gehen.«
»Nun, so holen Sie sich einen Sonnenstich«, sagte Herr de Cadour und ging wieder ins Hotel des Bains hinein, um sich ein oder zwei Stündchen aufs Ohr zu legen.
Sobald sie allein waren, begaben sich die alte Dame und ihr Freund auf den Weg. Ihm die Hand drückend sagte sie sehr leise:
»Endlich! … Endlich!«
»Sie sind töricht«, murmelte er, »ich versichere Ihnen, es ist der reine Wahnsinn. Denken Sie, was Sie. riskieren. Wenn dieser Mensch …«
»O Henri«, sagte sie zusammenzuckend, »sagen Sie nicht ›dieser Mensch‹, wenn Sie von ihm sprechen.«
»Nun ja!« antwortete er ziemlich rücksichtslos, »wenn unser Sohn irgend eine Vermutung fasst, wenn er misstrauisch wird, so hat er Sie, hat er uns in der Gewalt. Sie haben es ganz gut ausgehalten, ihn seit vierzig Jahren nicht zu sehen; warum muss es denn gerade heute sein?«
Sie waren der langgedehnten Strasse gefolgt, welche von der Stadt aus an die See führt, und wandten sich jetzt rechts, um nach der Küste von Etretat heraufzugehen. Die weiße Strasse lag vor ihnen in der kochenden Glut der Sonnenstrahlen.
Sie gingen bei der glühenden Hitze langsam mit kurzen Schritten. Madame de Cadour hatte den Arm ihres Freundes ergriffen und sah immer geradeaus mit einem irren, suchenden Blick.
»So haben Sie ihn niemals wieder gesehen?« fragte sie ihn.
»Nein, niemals.«
»Ist es möglich?«
»Liebe Freundin, fangen wir diese alte Geschichte nicht wieder von Neuem an. Ich habe Frau und Kinder, wie Sie einen Gatten haben; also Grund genug für uns beide, die öffentliche Meinung zu respektieren.«
Sie antwortete nicht; sie dachte an ihre Jugend zurück, an vergangene traurige Dinge.
Sie war verheiratet worden, wie so manche andere, ohne ihren Bräutigam, einen Diplomaten, eigentlich gekannt zu haben, und sie hatte später mit ihm zusammen gelebt, wie alle Frauen aus der Gesellschaft zu leben pflegen.
Ein junger Mann, Herr d’Agreval, gleichfalls verheiratet, liebte sie leidenschaftlich, und während einer längeren Abwesenheit Herrn de Cadour’s, den eine politische Mission nach Indien führte, erlag sie seinem stürmischen Drängen.
Hätte sie ihm widerstehen, ihn zurückweisen können? Hätte sie die Kraft gehabt, ihm nicht nachzugeben, wo sie ihn gleichfalls leidenschaftlich liebte? Nein, in der Tat nicht! Es wäre zu schmerzlich gewesen; sie hätte zu sehr gelitten. Wie ist doch das Leben hart und grausam. Gewissen Schicksalsfügungen kann man nicht entgehen, man kann sich ihrer Bestimmung nicht entziehen. Kann eine alleinstehende Frau, deren Gatte in der weiten Ferne weilt, die keine Zärtlichkeit geniesst, den Kindersegen entbehrt, auf die Dauer einer Leidenschaft entfliehen, die ihr ganzes Wesen beherrscht? Gewiss ebensowenig wie man imstande wäre, dem Lichte der Sonne zu entfliehen, um bis zu seinem Tode in tiefster Finsternis zu leben.
Wie gut erinnerte sie sich noch jetzt aller Einzelnheiten, seiner Küsse, seines Lächelns, mit dem er an der Tür stehen bleibend sie anblickte, ehe er bei ihr eintrat. Welche Tage des Glückes und der Süssigkeit, diese einzigen schönen, leider nur so schnell vergangenen Tage.
Dann fühlte sie, dass sie Mutter war. Welche Angst!
Ach, diese Reise nach dem Süden, diese lange Reise, diese Leiden, dieser fortwährende Schrecken, dieses verborgene Leben in dem kleinen einsamen Häuschen an der Mittelmeer-Küste, im Hintergrunde eines Gartens, den sie nicht zu betreten wagte.
Wie gut erinnerte sie sich der langen Tage, die sie unter einem Orangenbaum liegend zubrachte, die Augen zu den runden Früchten emporgewendet, deren Rot sich von dem Grün des Blätterwerks abhob. Wie sie so gern ausgegangen wäre bis ans Meer, dessen frischer Hauch über die Mauer her zu ihr hinwehte, dessen kurze Schläge an den Strand sie vernahm, von dessen Oberfläche sie träumte, wie sie bläulich im Lichte der Sonne erglänzte, während weiße Wolken und ein Gebirge den Hintergrund bildeten. Aber sie wagte nicht, aus dem Tore zu gehen. Wenn man sie erkannt hätte, so unförmlich, so unfähig, bei ihrer Figur noch ihre Schande zu verbergen.
Und dann die Tage der Erwartung, die letzten qualvollen Tage! Die drohenden Leiden, endlich die schreckliche Nacht. Wie viel Elend hatte sie doch aushalten müssen!
War das eine Nacht! Wie hatte sie geseufzt und geschrien! Sie sah noch vor sich das bleiche Antlitz ihres Liebhabers, der ihr jeden Augenblick die Hand küsste, die behäbige Gestalt des Arztes, die weiße Mütze der Wärterin.
Und welchen Riss gab es ihrem Herzen, als sie dieses schwache Wimmern, dieses Klagen des Kindes, diesen ersten Ansatz einer menschlichen Stimme vernahm.
Und der nächste Tag! Ach ja, der nächste Tag, der einzige ihres Lebens, wo sie ihr Kind sehen und an ihr Herz drücken konnte, denn niemals seit diesem Tage hatte sie auch nur eine Spur von ihm bemerkt. Welch öde lange Zeit hatte sie dann verbracht, während die Gedanken an dieses Kind ihr immer und immer wieder vor die Seele traten. Sie hatte es nicht wieder gesehen, nicht ein einziges Mal, dieses kleine Wesen, dem sie das Leben geschenkt, ihren Sohn. Man hatte ihn ihr genommen und irgendwo an einen unbekannten Ort gebracht. Sie wusste nur, dass Bauersleute in der Normandie ihn aufgezogen hatten, und dass er selbst ein Landmann geworden war, dass er sich verheiratet und von seinem Vater, dessen Namen er nicht kannte, eine reichliche Mitgift erhalten hatte.
Wie kam sie nur plötzlich auf den Gedanken, zu ihm reisen zu wollen, um ihn zu sehen und an ihr Herz zu drücken? Sie vergass, dass er inzwischen ein Mann geworden war. Sie sah nur immer dieses kleine Menschenwesen vor sich, dass sie einen Tag in ihren Armen gehalten und an ihr klopfendes Herz gelegt hatte.
Wie oft hatte sie später zu ihrem Liebhaber gesagt:
»Ich halte es nicht mehr aus, ich muss ihn sehen; ich fahre hin.«
Stets hatte er sie zurückgehalten, sie gehindert; sie wisse nicht sich zu beherrschen und an sich zu halten, der andere würde alles verraten und aufdecken. Dann sei sie verloren.
*
»Wie sieht er denn aus?« fragte sie d’Agreval.
»Ich weiß es nicht; ich sah ihn niemals wieder.«
»Ist das möglich? Einen Sohn haben und ihn nicht kennen; Furcht vor ihm haben, ihn von sich stossen, wie etwas Schändliches.«
Das war schrecklich.
Und sie gingen unter den drückenden Sonnenstrahlen stets die lange Strasse bergan weiter, die nach der Küste führte.
»Ist es nicht wie ein Strafgericht«, fuhr sie fort, dass ich niemals wieder ein Kind gehabt habe? Nein, ich konnte nicht dem Verlangen widerstehen, das mich nun seit vierzig Jahren quält, ihn noch einmal zu sehen. Ihr Männer versteht das nicht. Denken Sie, dass ich schon einmal am Tode lag. Und ich hätte ihn dann nicht wieder gesehen … ist es möglich … ihn nicht wiedergesehen? … Wie konnte ich nur so lange warten? Mein ganzes Leben lang habe ich an ihn gedacht. Wie habe ich darunter leiden müssen! Niemals bin ich erwacht, nicht ein einziges Mal, denken Sie, ohne dass mein erster Gedanke nicht ihm, meinem Kinde, gegolten hätte. Wie mag es ihm nur gehen? Ach, wie schuldig fühle ich mich ihm gegenüber! Darf man denn in einem solchen Falle Menschenfurcht haben? Ich hätte alles verlassen müssen, um ihm zu folgen, ihn zu erziehen, mit meiner Liebe zu umgeben. Ich wäre glücklicher dabei gewesen, wahrhaftig. Ich war feige, ich wagte es nicht. Wie habe ich gelitten! Ach, wie müssen diese armen verlassenen Wesen ihre Mütter hassen!«
Sie blieb plötzlich stehen, von Tränen überströmt. Die ganze Gegend lag stumm und einsam unter der drückenden Sonnenhitze. Nur die Grillen liessen fortgesetzt ihr einförmiges Gezirpe in dem dürren spärlichen Grase ertönen, welches die Strasse zu beiden Seiten einfasste.
»Setzen Sie sich einen Augenblick«, sagte er. Sie ließ sich von ihm zum Rande des Grabens führen und setzte sich, das Gesicht in den Händen begrabend. Ihre weißen Haare, die in Locken zu beiden Seiten des Gesichtes hingen, wickelten sich auf, aber sie beachtete es nicht; sie weinte weiter zum Herzzerbrechen.
Er blieb ihr gegenüber stehen, unruhig bei dem Gedanken, was er ihr sagen sollte.
»Kommen Sie … Mut!« murmelte er.
»Ich habe Mut«, sagte sie aufstehend. Und indem sie ihre Tränen trocknete, nahm sie ihren Weg wieder auf, wobei das Alter ihren Schritt etwas unsicher machte.
Die Strasse führte etwas weiter hin zu einer grösseren Baumgruppe, unter der einige Häuser versteckt lagen. Man konnte schon von Weitem den regelmässigen zitternden Schlag eines Schmiedehammers auf einem Ambos unterscheiden.
Bald darauf sahen sie zur Rechten vor einem niedrigen Hause eine Karre halten, während unter einem Vordache zwei Männer ein Pferd beschlugen. Herr d’Agreval näherte sich ihnen.
»Ist hier das Gehöft von Peter Benedikt?« rief er.
Einer der Leute erwiderte:
»Nehmt den Weg links, ganz bis zum kleinen Kaffeehause und geht dann ganz rechts, es ist das dritte vom Wege nach Poret, ein Tännchen vorm Tore, nicht zu verfehlen.«
Sie wandten sich links. Sie ging jetzt ganz langsam mit wankenden Knien, während ihr Herz zum Zerspringen klopfte.
Bei jedem Schritt murmelte sie wie im Gebet: »Mein Gott! Mein Gott!« Eine furchtbare Aufregung schnürte ihr die Kehle zu, und sie schwankte auf den Füssen, als wären ihre Sehnen zerrissen.
Herr d’Agreval, vor Aufregung gleichfalls bleich, sagte ihr etwas unwirsch:
»Wenn Sie sich jetzt schon nicht mehr beherrschen können, werden Sie alles sofort verraten. Suchen Sie sich doch zu fassen.«
»Ach wie kann ich das?« seufzte sie. »Mein Kind! Wenn ich denke, dass ich mein Kind sehen werde!«
Sie folgten einem jener kleinen Feldwege, wie man sie so viel sieht, zwischen den Feldern der Gehöfte hindurchführend, beschattet von einer Doppelreihe Buchen zu beiden Seiten der Gräben.
Und plötzlich standen sie vor einem hölzernen Schlagbaum, den eine junge Tanne beschattete.
»Hier ist’s«, sagte er.
Sie blieben stehen und schauten.
Der mit Apfelbäumen bepflanzte Hof war ziemlich groß und dehnte sich bis zu dem kleinen strohbedeckten Wohnhause aus. Gegenüber lag der Pferdestall, die Scheune, der Kuhstall, das Hühnerhaus. Unter einem Ziegeldach standen die Ackerwagen, Karren, Schiebkarren, das Cabriolet. Vier Kühe weideten in dem hohen grünen Grase im Schatten der Bäume, während in allen Winkeln des Gehöftes schwarze Hühner herumtrippelten.
Man hörte nichts; die Tür des Hauses stand zwar offen, aber man konnte im Innern niemand erblicken.
Sie traten ein. Sofort stürzte aus einem Fasse am Fusse eines großen Birnbaumes ein schwarzer Hund hervor und begann ein wütendes Gebell.
Als sie näher kamen, sahen sie an der Mauer des Hauses vier Bienenstöcke mit ihren gelben Strohkuppeln gelehnt.
»Ist jemand hier?« rief Herr d’Agreval, als sie an der Tür standen. Alsbald erschien ein Kind, ein kleines Mädchen von ungefähr zehn Jahren, in Hemd und Leinenröckchen, mit blossen schmutzigen Füssen und furchtsamer trotziger Miene. Es blieb im Türrahmen stehen, als wollte es den Eingang wehren.
»Was wollen Sie?« fragte es.
»Ist Dein Vater da?«
»Nein.«
»Wo ist er?«
»Ich weiß nicht.«
»Und Deine Mutter?«
»Bei den Kühen.«
»Kommt sie bald zurück?«
»Weiß nicht.«
Und plötzlich, als ob sie fürchtete, dass man sie mit Gewalt wegführen werde, sagte die alte Dame in energischem Tone:
»Ich gehe nicht fort ohne ihn gesehen zu haben.«