Loe raamatut: «Cys vs. Silvers - River und Armand», lehekülg 2

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»Nein … du mieser …Scheißkerl«, brachte River mühsam über die Lippen.

Jack tat so, als hätte er ihn gar nicht gehört. Er machte sich wieder an Rivers Schulter zu schaffen. »Ich werde deine Systeme so einstellen, dass du gar nicht merkst, was passiert. Du wirst automatisch handeln und dich fügen, ohne dass du dich dabei auch nur ein Stück weit wie ein Mensch fühlen wirst. Du siehst also, es ist gar nicht so schlimm. Und das Beste ist, dass du dir sicher sein kannst, mir zu einem wundervollen Leben verholfen zu haben. Du hast doch neulich gesagt, dass du dir nichts mehr wünschst, als dass ich glücklich bin. Nun, River, dich zu verkaufen, macht mich glücklich, weil es mir ein sorgenfreies Leben ermöglicht. Du siehst also, ich nehme nur, was du mir ohnehin schenken wolltest.«

»Jetzt rede nicht so viel, sondern mach deinen Job!« Der größere Mann hatte endgültig die Geduld verloren. Er spuckte Jack vor die Füße und funkelte ihn zornig an.

Jack senkte den Blick. Er sah auf den Speichel, der für einen Cyborg geradezu in der Dunkelheit leuchtete. Er nahm die Hand von Rivers Schulter und wandte sich den Männern zu. »Wolltest du mich anspucken?«, fragte er nun drohend.

»Spiel dich nicht so auf, Blechhaufen. Du bist doch letztendlich genau der gleiche Technik-Dreck wie dein Kumpel, den du auslieferst.«

»Genau! Du scheiß Cyborg!«, schloss der zweite Mann sich an.

River spürte, wie der Stromstoß von seinen Systemen abgearbeitet wurde. Viel zu langsam jedoch – mit geradezu lähmender Beschaulichkeit. Er versuchte erneut zu sprechen, doch über seine Zunge hatte er momentan absolut keine Gewalt mehr.

»Ich wurde wie ihr als Mensch geboren«, sagte Jack an die Männer gewandt und fuhr fort: »Jeder Cy wurde das. Wir sind keine Silvers! Wir hatten Gefühle, bevor wir verwandelt wurden – und wir haben sie noch! Wie, zum Teufel kommt ihr drauf, so mit mir zu sprechen?« Jack machte einen Schritt in Richtung der beiden Männer, diese zuckten aufgrund der drohenden Gefahr zusammen.

»Wir haben einen Deal«, erinnerte der kleinere von ihnen.

»Ich hab’s mir anders überlegt«, sagte Jack.

»Du kannst es dir nicht einfach anders überlegen. Du bist ein Drecks-Cyborg! Ihr seid verpflichtet, Befehle auszuführen. Und ich gebe dir jetzt den Befehl, dich an unsere Vereinbarung zu halten!«

Jack lachte nur spöttisch über diese Forderung. »Befehle soll ich befolgen? Von Menschen, die so schwach sind, dass ich euer Rückgrat mit meinem kleinen Finger zerbrechen könnte. Ihr habt doch keine Ahnung von uns! Eure Schwänze wollt ihr in unsere ohnehin schon vergewaltigten Körper stecken. Ihr bekommt nur einen hoch, wenn ihr euch überlegen fühlt. Aber die Wahrheit ist, ihr seid nicht überlegen. Ihr seid der wahre Abschaum der Menschheit!«

»Warum regst du dich auf? Du gehst doch aufs Schiff. Und wie viele Schwänze dein Kumpel in den Arsch bekommt, braucht dich dann nicht mehr zu interessieren.«

»Es gibt eine Planänderung«, bekräftigte Jack mit kalter Stimme. »Statt euch einen von uns auszuliefern, werde ich die Drogen ohne Gegenleistung nehmen. Und ihr werdet mir nun sagen, wo ihr sie deponiert habt!«

»Aus welchem Grund sollten wir das wohl tun?«

»Weil ihr ansonsten einen qualvollen Tod sterben werdet, der euch wünschen lässt, niemals geboren worden zu sein.«

Die Starre in Rivers Fingerspitzen verflüchtigte sich; sein rechtes Lid schloss und öffnete sich hektisch, ohne dass er es unter Kontrolle bringen konnte. Der Rest war immer noch außer Funktion. Wenigstens schlug sein Herz, und der Atem strömte ihm verlässlich in die Lungen. Kein Wunder, Jack hatte ihn ja nicht töten, sondern nur lähmen wollen. Um ihn zu verkaufen … an Menschen … als deren Sexsklave. Oder war es nur eine Show für die Menschen gewesen, damit sie dachten, Jack würde mit ihnen zusammenarbeiten? Zumindest hatten sie inzwischen zweifellos kapiert, dass er nicht mehr mitspielte. Und nun begriffen sie auch endlich, dass ihr Leben in Gefahr war. Einer von ihnen zog ein Gerät aus seiner Hosentasche, mit dem er auf Jack zielte.

Dieser war jedoch schneller und schlug es dem Mann so heftig aus der Hand, dass nicht nur das Gerät durch die Luft flog, sondern gleich drei Finger mit ihm.

»Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaah! Du Dreckskerl!« Der Mann hielt sich die blutüberströmte Hand und starrte fassungslos darauf. »Los, Bill, mach ihn kalt!«, brachte er dann stöhnend hervor, bevor Jack ihm mit zwei gezielten Tritten in Sekundenschnelle beide Beine brach. Während sein Kumpel mit markerschütterndem Schrei zu Boden ging, zog der Mann namens Bill ebenfalls ein waffenähnliches Gerät und zielte damit auf Jack. Als er feuern wollte, tat sich jedoch nicht das Geringste.

»Na, Probleme mit der Technik?«, höhnte Jack. Der Mann ließ das nutzlose Gerät zu Boden fallen und zog stattdessen gleich zwei Messer, die er mit beiden Händen gegen den Angreifer einsetzen wollte.

»Meine Güte, wie lächerlich. Glaubst du etwa viel hilft viel?« Jack lachte und riss ihm das erste Messer mühelos aus der erhobenen Hand. Er rammte es ihm in die Schulter. Obwohl die Klinge des anderen Messers ihn traf, blieb er unverletzt, da sie auf Metall stieß. »Tja, auf meine Technik ist Verlass«, höhnte Jack erneut. Der Mann schrie und wusste kaum, wie er sich vor Pein winden sollte, als Jack nach seinem Arm griff und die Klinge des Messers so durch dessen Handteller trieb, dass es bis zum Schaft in die Wand getrieben wurde. Dann tat er das Gleiche mit der anderen Hand des Mannes. Bill stand nun mit ausgestreckten Armen wie ein Gekreuzigter da und schrie, bis seine Stimme sich überschlug und er schließlich nur noch wimmerte. Jack widmete sich dem am Boden liegenden Mann und ging vor ihm in die Hocke. »Sag mir, wo ihr die Drogen versteckt habt!«, forderte er.

»Du Wichser hast mir beide Beine gebrochen! Und meine Hand … verdammt, was hast du nur mit meiner Hand gemacht!?« Der Mann starrte auf die Stellen, an denen die Finger fehlten. Tränen liefen ihm über die Wangen, seine Pupillen waren schreckgeweitet.

»Du hättest dich besser an deinen Grundsatz gehalten, dich niemals mit einem funktionierenden Cyborg anzulegen«, sagte Jack. Dann griff er nach der blutigen Hand und drückte zu. Der gellende Schrei des Mannes ging in weinerliches Flehen über, als Jack auch nach dessen unverletzter Hand griff. »Und jetzt sagst du mir, was ich wissen will, sonst reiße ich dir jeden deiner verdammten Finger einzeln aus!«

River bemerkte, dass der an die Wand geheftete Mann sich regte. Er schien begriffen zu haben, dass es nur eine Chance für ihn gab. Als er damit begann, an einer seiner Hände zu zerren, trieb er sich dadurch die Klinge durch die Handfläche. Er hielt inne, schloss kurz die Augen und atmete sichtbar tief durch. Dann spaltete er sich mit einem heftigen Ruck die eigene Hand. Blut rann ihm aus dem Mund. Offenbar biss er sich fest auf die Zunge, um nicht zu schreien und dadurch Jack auf sich aufmerksam zu machen. Der Schmerz lohnte sich, denn nun war er imstande, das Messer aus der anderen Hand zu ziehen und sich zu befreien. River war unfähig, darauf in irgendeiner Weise zu reagieren, da er sich weder bewegen noch etwas sagen konnte. Er hörte den Mann, den Jack in der Mangel hatte, verzweifelt stammeln: »Bitte nicht … bitte …« Speichel lief ihm übers Kinn, da er offenbar vergessen hatte, wie man schluckte.

»Dann rede! Sonst reiße ich dir deinen Daumen ab, als wärs ein verdammtes Hühnerbein«, drohte Jack.

»Nein, bitte nicht! Bei dem Fischladen am Hafen. Da sind die Drogen. In einem Müllcontainer. Bitte … hör auf … hör auf …«

Jack ließ die unversehrte Hand los. Dann stieß er unvermittelt seine Faust gegen den Hals des Mannes und zertrümmerte ihm den Kehlkopf. Er erstickte lautlos. Jack erhob sich und drehte sich langsam um, während er sagte: »So, Billy Boy, dich nehme ich mit, um zu sehen, ob dein Kumpel die Wahrheit gesagt hat. Ansonsten werde ich sie aus dir heraus…« Er hielt inne, als er bemerkte, dass Bill es geschafft hatte, sich von der Wand zu lösen. Anfangs glaubte Jack wohl, der Mann würde ohnmächtig, denn er ging zu Boden. Im nächsten Moment erhob sich Bill jedoch und hielt das Gerät in der Hand, das zuvor durch die Luft geflogen war. Er feuerte es ab. Ein satter Strahl Säure erwischte Jack und fraß sich augenblicklich durch die Hälfte seines Körpers. Das Fleisch gab der aggressiven Flüssigkeit ohne jeden Widerstand nach. Es schmolz förmlich und verwandelte die weiche Haut, die River in letzter Zeit so oft liebkost hatte, in eine graue, schrecklich stinkende Masse. Auch die metallenen Komponenten vermochten es nicht, diesem Angriff Stand zu halten. Jacks Arm fiel zu Boden. Rauchende Kabel hingen aus seiner Schulter. Jack hatte den Mund weit geöffnet, aber ihm entrang sich kein Laut, weil ein Teil des Strahls ihm die untere Gesichtshälfte weggeätzt hatte.

River konnte die Überreste des Mundes sehen, dessen Küsse so süß und sinnlich geschmeckt hatten, dass River niemals eine andere Droge als diese benötigt hätte, um glücklich zu sein. Jacks Zunge war nur noch ein schwarzer Klumpen, der hilflos im löchrigen Unterkiefer herum rollte.

Bill hielt immer noch die Säurepistole in der Hand und kräuselte angeekelt die Nase. »Ihr Cys stinkt wie die Hölle. Und genau dort wirst du dich gleich wiederfinden, wenn ich dir den Rest gegeben habe. Und dein Freund – den du für deine eigene Zukunft verraten hast – wird schon morgen früh den Arsch für jeden hinhalten müssen, der einen Cy so richtig durchficken will.« Der Blick, mit dem er River bedachte, war vor Gehässigkeit mindestens so ätzend wie die Säure. »Übrigens wird er jede einzelne Sekunde davon bei vollem Bewusstsein mitbekommen, denn eine Umprogrammierung kannst du vergessen. Wir mögen es, euch zu quälen, weil ihr euch für was Besseres haltet. Dabei seid ihr minderwertig. Zum Kotzen!«

Während er gesprochen hatte, spürte River wie sein System den Stromausstoß endlich in den Griff bekam. Von einer Sekunde zur anderen war die Kraft in seinen Körper zurückgekehrt. Ohne zu zögern, aktivierte seine Beschleunigungsmatrix in dem Moment, als der Mann erneut das Säuregerät auf Jack richtete. River riss es ihm aus der Hand und steckte es ihm blitzschnell in den Mund. Dann feuerte er eine Salve Säure in den Schlund des Menschen. Er ignorierte den sterbenden Körper, der sich am Boden aufbäumte und schließlich nur noch hilflos zuckte. Ebenso wie Jack war der Mann nicht mehr in der Lage, zu schreien. Er starb, ohne dass River ihn eines weiteren Blickes würdigte. Jack hingegen umfasste er mit beiden Händen, als könne er ihn so davor bewahren, in den Abgrund des Todes gerissen zu werden. »Bitte, ich muss es wissen! War das dein Plan, oder hast du mich wirklich verraten?« Jacks nutzlose Zunge schlug nach links, dann nach rechts und perforierte dabei die hauchdünn gewordene Wange. Sie löste sich vollends aus dem Kiefer und fiel mit einem leisen Geräusch auf den schmutzigen Boden. Der Anblick war fürchterlich, und River wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. »Wenn du mich wirklich geliebt hast, blinzle zweimal mit den Lidern«, flehte er. Jacks Lider senkten sich – und blieben geschlossen. River aktivierte seinen Hörkraftverstärker und erkannte, dass Jacks Herz aufgehört hatte, zu schlagen. Es war vorbei. Er ließ den toten Körper seines Freundes los und war sich bewusst, dass er vermutlich niemals erfahren würde, ob Jack ihn wirklich verraten hatte.

*

Der nächste Tag kam und ging, ohne dass River es überhaupt realisierte. Er hatte sich in die verdreckte Badewanne gelegt. Sie war voller Staub und Schutt, der von der Decke gefallen war. River war es gleich, worin er lag. Er fühlte sich wie ein skurriles Überbleibsel aus einem Dasein, das genauso gut gar nicht hätte geführt werden müssen. Sicher, er hatte viele Menschenleben gerettet, indem er Silvers getötet hatte. Aber waren die Menschen es überhaupt wert? Das Wort „Wert“ gewann immer mehr in seinen Gedanken Oberhand, andere hingegen verloren an Bedeutung. Liebe gehörte zu diesen Wörtern, die er aus seinen Gedanken verbannte. Sie brachte nichts ein. Sie machte schwach. Beinahe hätte sie ihn seine Freiheit gekostet – das Leben, von dem er gerade dabei war, es freiwillig aufzugeben. River stützte den Kopf in die Hände. Das alles war zu viel. Jack … statt ein neues Leben mit ihm anfangen zu können, lag der Mann, den er geliebt hatte – der Mann, dem er vertraut hatte – tot im Wohnzimmer. Die zahlreichen Fliegen zeugten davon, dass mit den drei Leichen alles seinen natürlichen Lauf nahm, und sie in Kürze von Insekten überhäuft sein würden.

Er musste nun die Kraft finden, sich aus der Badewanne zu hieven, denn ihm blieb gar nichts anderes übrig. Er selbst musste weiterleben. Aber was ergab jetzt noch Sinn? Mit Grauen dachte er daran, dass er bereits als willenloser Sklave seine Dienste versehen würde, wenn die Menschen nicht so dumm gewesen wären, Jack zu reizen. Allerdings war es immer noch möglich, dass Jack all das genau so geplant hatte – alles, bis auf seinen eigenen Tod natürlich. Womöglich war es eine Lüge gewesen, dass die Drogen nur ausreichen würden, um einen von ihnen aufs Schiff zu bringen. River wusste nichts darüber. Jack hatte alles geregelt, was mit ihrer Flucht zu tun hatte. Vielleicht hatte er ihm tatsächlich zu viel vertraut.

River seufzte. Er musste unbedingt wieder zu Vernunft kommen. Er musste die grausame Tatsache in Betracht ziehen, dass Jack ihn wirklich hatte opfern wollen, um selbst ein angenehmes Leben zu führen. Aber nun war er tot, und River wusste, wo sich die Drogen angeblich befanden. Er würde herausfinden müssen, ob der Mann die Wahrheit gesagt hatte. Wenn nicht, war alles verloren, denn nun gab es niemanden mehr, aus dem er das Geheimnis herauspressen konnte. Erneut überfiel ihn der Schrecken über Jacks Tod. Es entstand eine drohende Kaskade in seinen Gedankenroutinen. Er musste sich dringend auf andere Dinge konzentrieren. Etwas Tröstliches am besten. Also rief er sich Phils gütiges Altmännergesicht vor Augen und tauchte in die Erinnerungen an seinen Retter ein.

2. Kapitel

»Setz dich nicht auf. Schön liegenbleiben, mein Junge.« River fragte sich, wie der alte Mann, den er vor sich sah, überhaupt auf den Gedanken kommen konnte, er würde sich bewegen können. Schließlich war er tot. Oder doch nicht? Für einen Toten hatte er auf jeden Fall zu große Schmerzen. Er konnte das rechte Auge öffnen; das linke fühlte sich an, als stecke glühendes Eisen darin. Der Rest seines Körpers schien weiterhin von Flammen traktiert zu werden, obwohl River kein Feuer mehr riechen konnte.

»Es muss schrecklich wehtun, nun, da du das Bewusstsein wiedererlangt hast. Aber keine Sorge, ich bin vorbereitet. Trink das hier.« Der Mann mit dem schütteren Haar, dem weißen Bart und den runden Brillengläsern hielt ihm ein Glas hin. Dann schien er erst zu realisieren, dass River nicht daraus trinken konnte, ohne den Oberkörper anzuheben.

»Warte …« Er griff nach einer Spritze, entfernte die Kanüle und steckte sie in das Glas, um sie mit Flüssigkeit zu füllen. »Mund auf! Und versuche zu schlucken, auch wenn es dir schwerfallen wird.« River öffnete den Mund – er war so durstig, dass er sogar Pisse getrunken hätte. Der Mann gab ihm den Inhalt der Spritze vorsichtig auf die Zunge, und River versuchte, ihn hinunter zu schlucken. Die Hälfte rann ihm jedoch übers Kinn, weil er nicht in der Lage war, den Mund zu schließen.

»Also gut, ein zweiter Versuch. Wir werden das ohnehin mehrfach machen müssen, damit du genügend Schmerzmittel aufnimmst. Ich habe glücklicherweise einen großen Vorrat, ebenso wie von Antibiotika. Ich fürchte, du wirst viel von beidem brauchen, weil du mir sonst doch noch unter den Händen wegstirbst.«

River begann zu begreifen, dass es sich bei dem alten Mann um einen Arzt handeln musste. Dann sickerte die Erinnerung durch. Nachdem er das Feuer verlassen hatte, war er von den umstehenden Männern verhöhnt worden. Sie hatten geglaubt, er würde ohnehin sterben, und einer wollte ihn sogar ins Feuer zurückwerfen, damit noch der Rest von ihm verbrannte. Doch dann hatte Derk entschieden, man solle ihn zu Frankenstein bringen. River kannte die Geschichten, die sich um diesen Namen rankten. Es war eine Figur aus einem Roman – aus Filmen. Ein aus Fantasie geschaffener Mann, der Monster aus Leichenteilen zusammengestellt hatte. Vielleicht hatte er nicht absichtlich schreckliche Kreaturen erschaffen wollen, dennoch gruselte es River alleine schon bei der Vorstellung, in die Nähe eines Mannes zu kommen, dem man einen solchen Spitznamen verlieh. Dieser Frankenstein schien jedoch gar nicht so unheimlich zu sein, obwohl die Umgebung durchaus geeignet war, dass einem ein kalter Schauer über den Rücken lief. Überall waren medizinische Instrumente zu sehen, darüber hinaus gab es Maschinen und jede Menge technischer Teile, die gemeinsam mit Operationsbesteck auf einem metallenen Tisch lagen. River fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Seine Gedanken waren träge, ansonsten wäre er wohl schneller darauf gekommen und pures Grauen hätte ihn ergriffen. So dämmerte er jedoch nach der Einnahme der Medikamente wieder in den gnädigen Schlaf, der die Schmerzen linderte, bis das Mittel ihm ein paar Stunden lang die Pein gänzlich nahm.

Als River erneut erwachte, fand er sich in einem Bett wieder. Die Wände des Raumes trugen eine Tapete, die lustige Tiere zeigte. River erkannte Giraffen mit karierten Schals um die langen Hälse. Elefanten mit Knoten im Rüssel. Zebras, denen die Streifen vom Körper rutschten und Löwen, deren Mähnen zu Zöpfchen geflochten waren. Als er den Kopf drehte, bemerkte er eine Lampe, die nur schwaches Licht abgab und in der silberner Glitter in einer Flüssigkeit träge auf und ab schwebte. In der Ecke gegenüber dem Bett, in dem er lag, stand ein Schaukelstuhl, auf dem ein großer Stoffbär saß und ihn anzulächeln schien. River konnte kaum glauben, dass er endlich wieder ein unzerstörtes Kinderzimmer zu Gesicht bekam. Er hatte alte Prospekte gefunden, die aus der Zeit vor den großen Invasoren-Angriffen stammten. Darin waren Kinderzimmer abgebildet gewesen, wie er selbst nie eines für sich alleine bewohnt hatte. An den einzelnen Möbeln und Dekorationen hatten Zahlen gestanden, die die Währung von einst betrafen. River selbst hatte nie den Umgang mit Geld gelernt. Ab und zu hatte er in den letzten zwei Jahren zwar Geldscheine und Münzen gefunden, doch sie waren inzwischen nicht mehr wert als der andere Unrat, der auf den Straßen und in den verlassenen Häusern herumlag. Manchmal hatte er gedacht, wie schön es gewesen sein musste, als man Dinge noch mit Geld kaufen konnte. Ab und zu hatte er sogar verwitterte Kinderzimmer gesehen, die von Rattenkot und Schimmel bedeckt waren. Aber niemals war ihm ein so ordentliches und liebevoll eingerichtetes zu Augen gekommen, wie das, in dem er nun lag. Die Frage war nur, wer ihn hierher gebracht hatte. Und vor allem, zu welchem Zweck?

Als River versuchte, sich aufzurichten, erfasste ihn unsäglicher Schmerz. Natürlich, er hatte schwerste Verbrennungen erlitten, wie hatte er also bloß auf den Gedanken kommen können, sich so zu bewegen, wie vor der Initiation? Aber Tatsache schien zu sein, dass er es überlebt hatte, denn die Vorstellung, dass der Tod einen in ein Kinderzimmer katapultierte, war so lächerlich, dass River dies nicht mal in Betracht zog. Viel eher tröstete er sich mit dem Gedanken, dass er nach Bestehen der Prüfung von den Männern in ihren Reihen aufgenommen worden war. Stellte sich nur die Frage, wer der Kerl gewesen war, den er bei seinem ersten Erwachen gesehen hatte. Denn der wirkte völlig anders als die Männer, mit denen er in den letzten Monaten zusammen gewesen war. Vermutlich hatte er von dem alten Mann nur geträumt. Und wen wunderte es, dass sein Geist sich einen Beschützer dieser Art erdachte, denn das Leben in Derks Clan war wirklich hart. Er hatte sich den Männern angeschlossen, weil er kurz vorm Verhungern gewesen war. Sie hatten ihm Nahrung und Schutz versprochen, wenn er sich ihnen als nützlich erwies. River hatte daraufhin für die Horde gekocht, sie bedient und Botengänge übernommen, um sich erkenntlich zu zeigen. Doch das hatte den Männern schon bald nicht mehr genügt. Immer wieder hatten sie ihn angefasst, was River hasste. Es waren nur flüchtige Berührungen gewesen, doch er hatte gespürt, dass bald mehr folgen würde. Also hatte er sich entschieden, die Initiation hinter sich zu bringen, um als vollwertiger Mann zu gelten und sich notfalls im Kampf gegen Übergriffe wehren zu dürfen.

Zwar hatte Derk schallend gelacht, als River ihm seine Bitte vortrug, doch schließlich hatte er gesagt: »Wenn der Knabe unbedingt zum Mann gebrannt werden möchte, dann errichtet die Feuerwände!« Und so war es geschehen. River hatte die flammende Hölle überstanden – nur um jetzt in einem Kinderzimmer zu erwachen? War das vielleicht ein grausamer Scherz der Männer, um ihn trotz seines Mutes wieder zum Knaben abzustempeln? River verspürte einen neuerlichen Schmerz, der durch seinen gesamten Körper schoss. Das Auge, das er nicht öffnen konnte, brannte fürchterlich. Er hob den Arm, um danach zu tasten. Als seine Hand ins Blickfeld des intakten Auges geriet, keuchte River vor Schreck auf. Was war aus seiner Hand geworden? Statt ihr erkannte er ein Skelett aus Metall, das wie eine Hand mit Fingern geformt war, und doch ganz anders aussah. In die künstliche Handfläche waren Werkzeuge eingelassen, die im wilden Wechsel herausschnellten. Ein Messer klappte auf und schnappte in die künstliche Hand zurück, eine kreisrunde Säge im Miniformat gab daraufhin einen sirrenden Laut von sich, während sie rotierte, und verschwand dann wieder. Mehrere feine Gebilde – manche seltsam gebogen – schlossen sich dem chaotischen Treiben an. Zuletzt verschwand alles unter einer Metallplatte, die sich schloss und den Inhalt der Hand verbarg. Auch der komplette Unterarm bestand aus Metall, wie River mit Ekel vor sich selbst erkannte. Er starrte immer noch auf das Grauen, als sich die Tür öffnete und derselbe Mann ins Zimmer trat, den er schon zuvor gesehen hatte. »Ah, du bist wieder wach. Und wie ich sehe, hast du bereits deine Hand inspiziert.«

»Das ist nicht meine Hand«, brachte River kraftlos hervor.

»Von nun an ist sie es. Deine richtige Hand war leider unrettbar. Ich musste sie samt Unterarm amputieren. So, wie einige andere Körperteile ebenfalls.« Diese Worte verursachten bei River eine Panikattacke. Er konnte plötzlich kaum noch atmen, und obwohl es unerträglich schmerzte, hob er den Kopf und blickte an sich hinab. Da er jedoch unter einer Decke mit bunten Dinosauriern lag, musste er seinen Versuch stöhnend abbrechen.

»Ich kann verstehen, dass du nun Gewissheit haben möchtest, was mit dir geschehen ist. Vielleicht ist es aber zu viel für dich wenn …«

»Was ist mit meinem Auge?«, unterbrach River den Mann.

»Es ist durch ein künstliches ersetzt worden. Die Prozedur ist noch nicht ganz abgeschlossen, daher ist es bislang nicht an den Stromkreislauf deines Körpers angeschlossen. Andere Elemente müssen zu einem späteren Zeitpunkt justiert werden, bevor sie durch deinen integrierten Stromerzeuger versorgt werden können. Aber das geht erst, wenn dein Körper die schlimmsten Strapazen überstanden hat. Dein Leben stand auf Messers Schneide, mein Sohn.«

»Ich bin nicht Ihr Sohn! Und sagen Sie mir nicht, ich wärs aber jetzt!«, herrschte River ihn in seiner Verzweiflung an. Er wollte diesem Mann nicht glauben, aber er spürte, dass er die Wahrheit sagte. Das also war Frankenstein – der Mann, der ihn vom Jungen in ein Monster verwandelt hatte. »Keine Sorge, ich werde dich nicht mehr meinen Sohn nennen, vorausgesetzt, du verrätst mir deinen Namen. Die, die dich brachten, wussten ihn nicht. Überhaupt wussten sie rein gar nichts über dich. Erzähle mir von dir.«

»Ich … ich … bin River.« Tränen traten River in sein menschliches Auge; er hasste es, diese Schwäche zu demonstrieren.

»River also«, brummte der Mann zufrieden. »Hallo River, mein Name ist Phil. Ich weiß, dass man mich da draußen Frankenstein nennt, aber wenn du mit mir auskommen willst – und ich fürchte, dir wird für lange Zeit nichts anderes übrig bleiben – dann nenne mich Phil.«

River versuchte zu nicken, aber der Kloß in seinem Hals war immer größer geworden, sodass er ein Geräusch von sich gab, das sich wie von einem geschundenen Tier anhörte.

»Vielleicht ist es doch besser, wenn ich dir erst ein wenig von mir erzähle, damit du dich nicht so anstrengen musst«, entschied Phil. »Vermutlich wunderst du dich, dass du in diesem Zimmer liegst. Nun, ich hoffe, du bist nicht beleidigt, denn mir ist bewusst, dass du nicht mehr wie ein Kind behandelt werden willst. Immerhin hast du das schreckliche Ritual auf dich genommen, das diese Bestie Derk und seine Bande eingeführt haben. Die meisten Jungen überleben die Prozedur nicht, was die Männer nicht stört, denn sie füttern niemanden freiwillig durch. Aber sie sehen es gerne, wenn jemand leidet – das lenkt sie von ihren eigenen Dämonen ab. Also machen sie ein Spiel daraus und rechtfertigen es mit den vermeintlichen Privilegien, die die Erfolgreichen erhalten. Es gibt aber kaum überlebende Anwärter. Um ein Haar wärst du ein weiteres Opfer dieser unmenschlichen Spiele geworden. Aber du hattest Glück – nun, vielleicht auch Pech, das wird sich erst noch herausstellen müssen. Doch bleiben wir bei mir. Mein vollständiger Name ist Phil Raven. Ich habe mein halbes Leben als plastischer Chirurg gearbeitet, bevor das Militär mich abgeworben hat, damit ich in streng geheimen Labors an Cyborg-Technologie arbeite. Als der große Angriff kam, war ich bereits im Altersruhestand, aber die Umstände haben dafür gesorgt, dass ich mich der Erschaffung von Cyborgs verschrieben habe, die dazu bestimmt sind, die Menschheit vor den verbliebenen Silvers zu verteidigen. Normalerweise bekomme ich Freiwillige, die sich dieser Aufgabe widmen möchten. Es sind erwachsene Männer, denn im Grunde ist es unverantwortlich, und zudem sehr kompliziert, diese Verwandlung bei einem Kind vorzunehmen.«

»Aber bei mir haben Sie es gemacht? Ich bin jetzt ein … Cyborg?«

»Du bist dabei, einer zu werden.« Phil schwieg nun, da er sehen konnte, wie erneut Tränen über Rivers Gesicht strömten.

»Warum haben Sie das getan? Scheiße, warum haben Sie mich nicht einfach sterben lassen?«, fragte River erstickt.

Der alte Mann seufzte schwer, dann räusperte er sich. »Weil ich mir sicher war, dass du nicht sterben möchtest. Du bist ein Kämpfer, das war mir klar.«

»Ach, und wie zur Hölle kommen Sie darauf? Sie kennen mich doch gar nicht.« River hatte es laut und zornig sagen wollen, aber seine zugeschnürte Kehle ließ nicht viel mehr als einen halblauten Protest zu.

»Nun ja, du hast dich Derk angeschlossen. Dazu muss man schon ein echter Kämpfer sein. Insbesondere wenn man so jung ist wie du. Und du bist durchs Feuer gegangen, um vollends dazu zu gehören.«

»Hat aber nicht geklappt«, bemerkte River und musste die Nase hochziehen. Phil holte ein Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche und wischte ihm damit die Nase ab. Als River mit der mechanischen Hand nach dessen Gelenk griff und ihn drohend ansah, erkannte er Schmerz in den Augen des Mannes.

»Wenn du mir nicht die Hand brechen willst, solltest du jetzt loslassen. Denn wenn du sie mir brichst, wirst du lange hilflos hier liegen, und vermutlich in diesem Bett sterben.«

River begriff, dass der Alte recht hatte. Er bemühte sich, seinen Griff zu lösen, was anfangs nur dazu führte, dass die Hydraulik sich noch fester um Phils Gelenk schloss. Als es ihm endlich gelang, betrachtete Phil den Schaden an seiner Hand und sagte so gefasst wie möglich: »Ich werde das kühlen müssen. Und ich schlage vor, dass wir morgen mit den Kontrollübungen beginnen, denn ich meine es ernst, River, wenn du mich verletzt, kann ich nicht weiter an dir arbeiten. Aber es ist viel Aufwand nötig, bis du als Cyborg leben kannst. Denn an dir entwickle ich zum ersten Mal einige Komponenten, die sich deinem Wachstum anpassen werden. Den größten Teil muss ich jedoch während deiner Entwicklungsphasen selbst jeweils neu implementieren. Es steht uns viel Arbeit bevor, und ich möchte, dass du dich mit diesem Gedanken in Ruhe auseinandersetzt.« Damit drehte er sich um und ließ River allein.

*

»Sie wollten mir erzählen, was das für ein Zimmer ist.« River hatte geduldig gewartet, bis der alte Mann zu ihm zurückkehrte. Es hatte lange gedauert, und nun trug Phil einen Verband ums Handgelenk.

»Das scheint dich ja wirklich sehr zu beschäftigen. Mehr, als dein jetziges Aussehen?«

River überlegte. »Ich glaube, ich überlebe die Nacht nicht, wenn ich weiß wie ich jetzt aussehe. Also, wenn ich später alleine im Dunkeln hier liegen muss«, gab River zu.

»Du meinst, du könntest dich vor dir selbst wegen deines Aussehens gruseln?«, fragte Phil überrascht. River nickte nur. »Verstehe … aber du musst dir wegen der Dunkelheit keine Sorgen machen, es gibt ein Nachtlicht. Das hat Benjamin – mein Enkel – auch immer gebraucht. Dies war sein Zimmer.«

»Wo ist er jetzt?«

»Er ist tot.« Phil sagte es ohne Emotion, aber seine Kiefer traten unter den Wangen hervor, als er die Zähne fest zusammenbiss.

»Wie alt ist er geworden?«

»Er war vierzehn, als er starb.«

»Vierzehn? Und da hat er noch in Bettwäsche mit Dinosauriern geschlafen?«, erwiderte River. Er war froh, ein Gespräch führen zu können, denn es lenkte ihn zumindest ein wenig von den Schmerzen und seiner eigenen Situation ab.

»Benjamin war nicht wie andere Kinder. Er war geistig zurückgeblieben. Geistig und körperlich hat er sich nach seinem sechsten Lebensjahr kaum weiterentwickelt.«

»Wieso nicht?«

»Das lag daran, weil er während der Geburt eine Zeit lang keinen Sauerstoff bekommen hat. Meine Tochter Jane – Benjamins Mutter – starb während der Entbindung. Sein Vater hat sich, nachdem er die Diagnose kannte, auf und davon gemacht. Das war der Grund, warum meine Frau Kate und ich uns wie Eltern um den kleinen Benjamin gekümmert haben. Die Ärzte haben ihm damals nur acht bis zehn Jahre gegeben, weil zudem ein Genschaden vorlag.«