Loe raamatut: «Die vier Weltteile»

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HANNO MILLESI

Die vier Weltteile

ROMAN


Sicher ist jedoch, dass wer durch übertriebene Gründlichkeit der Natur Gewalt antut, seinen Geist zwar schärft, aber allem, was er macht, Leichtigkeit und Anmut raubt;

Giorgio Vasari, Lebensläufe

Vornehmen Wächtern vergleichbar flankierten zwei mächtige Türflügel den Übergang von einem Raum in den nächsten, und, als kümmerte sie deren strenges Erscheinungsbild in ihrer Ausgelassenheit kein bisschen, stolperten, tollten und tanzten Konrad und Emily über die von diesen beiden hölzernen Riesen kontrollierte Schwelle, ahnungslos, dass sie damit gut hundert bis hundertfünfzig Jahre hinter sich brachten, über mehrere Grenzen fegten, kulturelle Barrieren in ihrem Gekicher untergehen ließen wie die Regime untergegangen waren, die diese Barrieren hervorgebracht hatten. Verfolgt wurden Konrad und Emily von Iggy, eines seiner dünnen Ärmchen zur Geste eines Anführers all der noch vor ihm liegenden Jahre erhoben, seine widerspenstigen Haare ein fröhliches Chaos, zwei Finger zum Victory-Zeichen ausgestreckt, allerdings verkehrt herum, mit dem Handrücken nach außen, was in den Augen vieler eine obszöne Geste darstellt, wovon andere wiederum, und Iggy – so viel steht für mich fest – unter ihnen, keine Ahnung hatten und haben.

Später, nach der ganzen Geschichte, als diese letzten paar Augenblicke im Zeichen der Unbekümmertheit vor mir abliefen, fiel mir das berüchtigte Bild jener Terroristin aus den 1970er-Jahren dazu ein, die im Anschluss an das Scheitern ihrer Mission, bereits auf der Tragbahre liegend, mit der man sie schwer verletzt abtransportierte, ihren Arm von sich gestreckt hielt, um der Fassungslosigkeit der Welt dieses Symbol des Sieges entgegenzuhalten. Richtig herum, nicht wie Iggy, für viele jedoch zum falschen Zeitpunkt: sich in den Händen jener wissend, die sie sich zu erbitterten Gegnern gemacht hatte, in Anbetracht der von ihr zu verantwortenden Katastrophe, des Leids, der Toten, ihres gerechten Misserfolgs.

Vielleicht bezog sich, habe ich mir damals angesichts der Medienbilder zu unserer Geschichte und im Bewusstsein, dass es sich wahrscheinlich anders verhielt, gedacht, vielleicht bezog sich ihre Geste ja auf den in den Augen so vieler Menschen glücklichen Ausgang dieser Tragödie, für deren Dauer sie in die Rolle einer Schurkin geschlüpft war. Während die Welt aufatmet und sich bestürzt eingestehen muss, dass die Zahl der Toten verhältnismäßig gering ist, wird sie als letzte, als übrig gebliebene Urheberin von der Bühne getragen, der Vorhang über ihren zerschossenen Leib gebreitet, über ihr Gesicht, weil ihr Leben, wie es sich bisher ereignet hat, als verwirkt gelten kann. Und doch lässt sich, was an Menschlichkeit von ihr noch vorhanden ist – dank des brutalen Endes ihrer Mission, endlich befreit –, lässt sie es sich nicht nehmen, dem Triumph über das Böse zu applaudieren.

Ehe diese vage gedankliche Assoziation sich wieder in nichts auflöste, tauchte der Apachenhäuptling Winnetou aus den verworrenen Jagdgründen meines frei schwebenden Denkens auf. Am Schluss einer Freiluft-Inszenierung der Geschichte seines Lebens, das mit seinem gewaltsamen Tod endete, erhob er sich vom Boden und winkte einem in Tränen aufgelösten, in der Mehrzahl sehr jungen Publikum zu, wie um darauf hinzuweisen, dass ihn die ganze Zeit über ein Schauspieler verkörpert habe, dem in Wirklichkeit gar nichts passiert sei. Als hätte der Schauspieler angenommen, unsere Tränen gelten ihm! Dabei vergossen wir sie für den legendären Apachen, bei dem es sich – das hatten wir sehr wohl begriffen – um eine erdachte Figur handelte, die gar nicht erschossen werden konnte, es sei denn, um unseren Träumen gewaltsam ein Ende zu bereiten, um uns in unserer noch vagen Vorstellung von der Welt wehzutun. Wir weinten um das Legendäre in uns, ohne eine Ahnung zu haben, worum genau es sich dabei handelte.

Tessa folgte Emily, Konrad und Iggy in einigem Abstand, hatte sie sich doch für ihre eigene Form der Fortbewegung entschieden. Wie ein versponnener Krebs richtete sie jeden ihrer Schritte schräg versetzt zum vorhergehenden aus und versuchte so, auf keine der zwischen den Parketten verlaufenden Fugen zu treten. Mochte die Richtung auch vorgegeben sein – von den vorneweg laufenden Kindern, von den wachsamen Türflügeln, von uns Erwachsenen –, Tessa bestimmte, wie sie die Strecke zu bewältigen gedachte. Während die anderen durch die Epochen sausten, hatte Tessa sich dafür entschieden, Regeln einzuhalten, zu deren Charakteristika es gehörte, herauszufinden, ob sie sich geschickt genug anstellen würde, diese nicht zu übertreten. Wer nicht bereit war, seinen Weg auf die gleiche Art und Weise zu absolvieren wie sie, existierte vorläufig nicht, bewegte sich in einem Raum-Zeit-Kontinuum, das Tessa aus Gründen der Langeweile vorübergehend verlassen hatte.

Den Blick abwechselnd auf die Kinder vor uns und die Wände um uns herum gerichtet, bewunderte ich Tessa dafür, wie spielerisch es ihr gelang, sich in einer ausschließlich ihr selbst vorbehaltenen Dimension zurechtzufinden. Und doch konnte ich es nicht lassen, musste Tessa ermahnen, nicht zu trödeln, es mit den offenbar nur für sie geltenden Anweisungen nicht zu genau zu nehmen und lieber zu den anderen aufzuschließen. Die vorneweg flitzenden Emily und Konrad hatten mich dazu veranlasst, einer von Wandas ungeduldigen Blicken, wahrscheinlicher aber der Neid, weil ich selbst schon seit einer gefühlten Ewigkeit und unwiderruflich von einer Unzahl von Regeln beherrscht wurde, die andere aufgestellt hatten. Weil ich nicht einmal mehr mein Tempo selbst bestimmte, sondern es auf eine ausgelassene Horde wie Emily, Konrad und Iggy abstimmte.

Glücklicherweise hörte Tessa mich nicht. Die bislang noch nicht ausreichend getrübte Ursprünglichkeit ihrer Fantasie bewahrte sie in ihrer Unaufmerksamkeit davor, sich beim Absolvieren des ihr vorgeschriebenen Parcours von einem wie mir ablenken zu lassen. Schließlich waren wir Erwachsene, Wanda und ich, doch gerade aus dem Grund zu zweit, um uns, falls notwendig, aufteilen zu können.

Ehe es Tessa und mir gelang, Wanda und die anderen Kinder zu erreichen – das bevorstehende Überschreiten der Türschwelle schien, wie das Fingerschnippen eines Magiers, sämtliche der für Tessa geltenden Vorschriften außer Kraft zu setzen –, kamen uns Emily, Konrad und Iggy bereits in einer Stimmung, deren Spektrum von purer Ausgelassenheit (Iggy) bis zu echter Verängstigung (Konrad) reichte, entgegen. Wanda folgte ihnen, blieb jedoch im Türrahmen stehen wie ein Schutzengel mit hölzernen, an Scharnieren befestigten Flügeln.

Sie hätten, stammelte Emily, die sich zur Wortführerin erhoben hatte – wahrscheinlich weil Konrad momentan die Worte fehlten und Iggy, das wussten wir alle, allzu sehr zu Übertreibungen neigte –, sie hätten im anderen Saal ein Krokodil gesehen, das, sein Maul sperrangelweit geöffnet, gerade dabei gewesen wäre, aus dem Wasser – ehe sie Wasser sagte, blickte Emily fragend zu Wanda, deren bloße Erscheinung die Annahme des Kindes zu bestätigen schien –, aus dem Wasser also, herauszukommen.

Der spielerische Schauer, von dem ergriffen sich die drei Kinder zeigten, eine Spielerei, bei der sich die darin Involvierten der Grenzen zur Ernsthaftigkeit – wie an Konrad zu sehen – nicht vollends bewusst waren, zog Tessa unwiderstehlich an, und sie trat, ohne sich erst von der Quelle dieses Schauers zu überzeugen, zu den restlichen Kindern und begann zu schlottern wie unter der kalten Dusche.

Wanda, nach wie vor im Türstock fixiert wie in einem Bilderahmen, lächelte, erklärte mit diesem Lächeln, was gar nicht hätte erklärt werden müssen, und fügte belehrend hinzu, dass das Krokodil im Fluss Nil zu Hause sei. Außerdem erinnerte sie daran, dass die anderen Kinder offenbar keine Angst vor ihm gehabt hatten.

»Die sind auch mit ihm befreundet«, meldete sich Konrad, noch unentschieden, ob er es Emily und Iggy gleichtun sollte, für die aus der Begegnung mit dem Krokodil mittlerweile, wie es schien, ein Anlass zur Begeisterung geworden war, oder ob er doch lieber seinem Drang zu weinen nachgeben sollte. Immerhin hatte er ein Monster gesehen, das sich nicht davon abhalten lassen würde, ihn den ganzen restlichen Tag lang in seinen Gedanken zu verfolgen. Konrads achteckige Brillengläser begannen schon mal anzulaufen. Dabei fürchtete er, schoss es mir unverzüglich durch den Kopf, gar nicht das Krokodil. Konrad bezog das auf ein ganz allgemeines Bild des Schreckens, dem er heute in der Gestalt eines Reptils begegnet war, eines Schreckens, der sich erhoben hatte, aus dem Wasser gekommen war, um von nun an zu seinem ständigen Begleiter zu werden.

Kurz darauf lachten wir alle schon wieder. Wir lachten über die Situation, über Konrad, über die verrückte Idee einer Freundschaft zwischen Kindern und Krokodilen. Wir lachten über Wanda, die nach wie vor im Türrahmen stand, wie in einem Wetterhäuschen, das zwar über zwei Türflügel, aber bloß über ein Symbol, nämlich jenes für Sonnenschein verfügte. Und Konrad lachte mit uns. Er lachte über seine alberne Angst, als wisse er sich in diesem Lachen mit uns anderen vereint, weshalb er mit dem Schrecken, sollte der sich tatsächlich an seine Fersen geheftet haben, zumindest nicht allein bleiben würde. Und dieses Lachen war, meiner Erinnerung zufolge, das Letzte, was uns verband, ehe sich die Situation gravierend verändern sollte.

Zunächst beschlossen wir umzukehren und unseren Weg in einer anderen Richtung fortzusetzen, vor allem um Konrad eine weitere Begegnung mit dem Krokodil zu ersparen. Seinem Verständnis nach wäre es die erste Begegnung im Anschluss an die vorangegangene erste gewesen. Die erste absichtliche, ungeachtet seines Wunsches, die vorherige erste gleichzeitig die letzte gewesen sein zu lassen. Tessa legte keinen Wert darauf, das Krokodil mit eigenen Augen zu sehen, nicht nach dem erlösenden gemeinsamen Bibbern, dem sie sich zuvor angeschlossen hatte, nicht angesichts des Rückwegs, der ihr erneut die Verstrickung in ein von ihr selbst ersonnenes Regelwerk in Aussicht stellte. Einen Moment lang hatte ich den Eindruck, Tessa angesichts des riesigen vor ihr ausgebreiteten Netzes aus Parketten und Fugen, Horizontalen und Diagonalen leise seufzen zu hören. Ein Seufzen, das jeglichem auf ihr Vorhaben bezogenen Zweifel Gelegenheit gab, ihren kleinen Körper zu verlassen, wie über jene gelben, aufblasbaren Notfallrutschen, die Passagieren eines in Schwierigkeiten geratenen Flugzeugs zur Verfügung stehen. Die fugenlose Form der Fortbewegung hatte sich bewehrt, schließlich war Tessa auf diese Weise die Konfrontation mit einem furchterregenden Wesen erspart geblieben.

Als unsere Karawane – mir kam vor, in ihr fänden sich sämtliche Varianten des Menschseins und Menschwerdens vereint – sich wieder der Richtung zuwandte, aus der wir gekommen waren, stellte sich uns ein Aufseher in den Weg, dem wir bereits zuvor begegnet waren (Tessa: »Das war in dem Raum mit dem Einhorn auf einem Bild«). Ich hatte ihn mir gemerkt, weil er, während wir durch den ihm zugeteilten Saal geschlendert waren, den Eindruck erweckt hatte, jeden unserer Schritte mit Argwohn zu verfolgen. Als hätten wir unaufgefordert einen seiner Privaträume betreten. Jeder einzelne Blick, den wir auf eines der Bilder an den Wänden richteten, zehrte merkbar an seinem Nervenkostüm, als bedienten wir uns an ohnehin knapp bemessenen Vorräten, die ausschließlich ihm zustünden. Als verfüge, was von uns angeschaut wurde, danach geraume Zeit nicht mehr über jenen Glanz, den es in den Augen würdigerer Betrachter üblicherweise zu entfalten vermochte (»Wann spielt das, wenn darin Einhörner vorkommen?«).

Diesmal bemühte sich der Aufseher um keinerlei feindseligen Eindruck. Er wirkte überfordert und gleichzeitig gefasst. Vor uns stand ein Mann, entschlossen, die Fassung zu verlieren, von der Uniform eines Aufsehers daran gehindert und stattdessen dazu gedrängt, sämtliche für einen Ausnahmefall vorgesehenen Maßnahmen zu ergreifen. Ein Ohr an sein Funkgerät gepresst, murmelte er uns, wie beiläufig, etwas von technischen Problemen zu. Sein Murmeln hörte sich jedoch wie eines jener harmlosen Geräusche an, mit denen sich ernstzunehmende Gefahren nur allzu oft ankündigen. Die Schirmkappe seiner Uniform hatte sich der Aufseher vorsichtshalber schon mal in die Stirn geschoben. Ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass hier etwas kurz davor stand, außer Kontrolle zu geraten.

Wurde einem die Verantwortung für einen Haufen Kinder übertragen, oder hat man sich gar selbst darum bemüht, eine solche Verantwortung übernehmen zu dürfen, kostet es weit weniger Überwindung, den Anweisungen anderer, mitunter auch solcher, die einem eben noch misstrauisch gegenübergestanden sind, kommentarlos Folge zu leisten. In gewisser Weise ist es das, was man sich – ohne das je auszusprechen – gelegentlich auch für die Kommunikation zwischen sich und den Kindern, für die man verantwortlich ist, wünscht.

»Was ist ein technisches Problem?«, wollte Emily wissen, und während ich noch schmunzelnd mit dem Gedanken beschäftigt war, dass, was immer da passiert sein mochte, uns dem Krokodil geradezu in den Rachen trieb, kam mir Konrad zuvor.

»Ich war schon im Technischen Museum.«

Seine Antwort schien Emily zu genügen.

»Dann kann ich wenigstens das Krokodil sehen«, sagte ich, und mich an Konrad wendend: »Wer von euch möchte es mir denn zeigen?«

Erleichtert, nicht näher auf die Sache mit dem Museum für technische Probleme eingehen zu müssen, fiel Konrad auf meinen Trick herein und entgegnete, mich bei der Hand nehmend: »Ich zeig’s dir.«

Ein kurzer Blickwechsel zwischen Wanda und mir reichte aus, um darin übereinzukommen, dass vorläufig keinerlei Notwendigkeit bestünde, vor den Kindern näher auf die Probleme einzugehen. Ich las das in Wandas Mienenspiel und hatte gleichzeitig den Eindruck, Wanda finde in meinem Gesichtsausdruck die Bestätigung einer solchen Einschätzung ihrerseits. Beeindruckt, wie problemlos ein einziger Nachmittag mit den Kindern ein funktionierendes Team aus uns geformt hatte, dessen Mitglieder ohne Worte miteinander auskamen, übersahen Wanda und ich, dass wir unseren Gesichtern etwas ablasen, das gar nicht in diesen geschrieben stand. Wir bestätigten jeweils den anderen, weil wir selbst Ausschau nach Zustimmung hielten, darauf vertrauend, einer von uns beiden wisse mit Sicherheit, wie es sich in einer solchen Situation zu verhalten gelte.

»Die vier Weltteile«, sagte Wanda.

»Wer hat das gemalt?«, fragte Emily.

»Ein Maler«, antwortete Iggy, während ich noch zu Wanda hinüberschaute, und spätestens da hätte mir auffallen müssen, dass es nichts als ein Ausdruck ihrer Orientierungslosigkeit gewesen war, was ich leichthin für Bestätigung gehalten hatte. Zumindest aber hätte Wanda merken müssen, dass etwas an mir den Anschein von Zustimmung bei ihr erweckt hatte, das sich besser als Hilferuf zu erkennen gegeben hätte, schließlich sahen wir uns angesichts Emilys Frage und Iggys Antwort vergleichbar zurückhaltend an wie gerade eben, hatten wir doch beide keine Ahnung, wie der Name des Malers der Vier Weltteile lautete. Anstatt die vorangegangene Übereinstimmung als Missverständnis zu entlarven, las Wanda seinen Namen von dem Täfelchen mit der Bildbeschreibung ab.

»Peter Paul Rubens.«

»Peter oder Paul«, fragte Iggy und lachte. Emily begann ebenfalls zu lachen, und auch Konrad lachte, ich glaube jedoch, ohne verstanden zu haben, was Iggy zu seiner Frage bewogen haben mochte. Konrad lachte, weil er es angesichts des Krokodils für besser hielt, die anderen Kinder erneut in die von ihnen gewählte Stimmungslage zu begleiten.

»Peter und Paul«, versuchte es Wanda, während ich immer mehr den Eindruck gewann, Konrad lache aus gutem Grund. In gewisser Weise richtete sich die Bedrohung, die von dem Gemälde ausging, an all jene Kinder, die eine Bedrohung darin erkannten – also an Konrad –, wie sie auch auf dem Gemälde niemand anderem als Kindern galt.

Der sich anbahnende Konflikt zwischen einem Krokodil und einer Tigerin – mit kampfbereiter Miene beugte sie sich schützend über ihren Nachwuchs – beherrschte die gesamte untere Zone der Bildfläche, und damit diejenige, die Kinder am besten einsehen konnten. Hinzu kam, dass es sich bei diesem Abschnitt des Geschehens um den einzigen aufsehenerregenden auf der gesamten Bildfläche handelte.

Neben den Jungen der Tigerin, die, sich an den Zitzen ihrer Mutter labend oder mit trotzigen Mienen in den Gesichtchen schlafend, nichts von der sich anbahnenden Gefahr mitbekamen, kümmerten sich drei menschliche Kinder um das furchteinflößende Reptil. Mittels Liebkosungen und spielerischen Anweisungen schienen sie es von seinem abscheulichen Vorhaben, die Tigerjungen zu verspeisen, abhalten zu wollen, wobei sie allerdings nicht gleichermaßen konzentriert bei der Sache waren. Eines der Kinder lächelte aus dem Bild heraus den vor dem Gemälde stehenden Kindern zu, als bemühe es sich mit seiner Fröhlichkeit – nicht gerade erfolgreich – zu versichern, dass es sich im Grunde nur um ein Spiel handle. Ich musste an den Darsteller des Apachenhäuptlings denken. Krokodil und Tigerin hingegen hatten sich über sämtliche Gattungen hinweg als Erwachsene erkannt, und was immer die auf ein friedlich verspieltes Miteinander abzielenden Menschenkinder vorhatten, die beiden ausgewachsenen Tiere würden sich aller Wahrscheinlichkeit nach darüber hinwegsetzen. Dachten die Kinder allen Ernstes, sie könnten das Krokodil von einem Konflikt mit der Tigerin abhalten?

Andererseits hatten die Kinder auf dem Bild zumindest erkannt, dass man sich einer Bedrohung, die unaufhaltsam näher rückt, in den Weg stellen müsse, anstatt Bestätigungen in Gesichtern zu lesen, in denen gar keine Bestätigung ihren Niederschlag gefunden hat.

Wanda und ich verhielten uns eher wie die menschlichen Erwachsenen auf dem Gemälde der Vier Weltteile. Diese nahmen zwar gut drei Viertel der Leinwand ein, waren allerdings ausschließlich miteinander beschäftigt oder hingen irgendwelchen Gedanken nach, starrten vor sich ins Leere.

»Die vier damals bekannten Weltgegenden und die jeweils wichtigsten Flüsse«, klärte uns Wanda auf, aber das schien im Augenblick niemanden zu interessieren. Mich interessierte es nicht, denn von der Kontroverse, die sich zu ihren Füßen zwischen zwei ihrer Schoßtierchen anbahnte und versprach, ihren eigenen Nachwuchs in Gefahr zu bringen, schienen diese Menschen von Welt nichts zu bemerken. Vier erwachsene Männer mit gepflegtem, wallendem Haar und modischen Rauschebärten sowie vier junge Damen, allesamt leicht bekleidet, zwei von ihnen auf umgestürzte Krüge gelehnt (Iggy: »Die haben sie aber selbst umgeschmissen«, Wanda, deren Hilflosigkeit sich einmal mehr in ihrer Informiertheit bemerkbar machte: »Vielleicht sollen die Krüge auf die Flüsse hinweisen«).

Eine dunkelhäutige Frau, deren Gesicht sich ziemlich genau im Mittelpunkt des Bildes befand, hatte sich von den anderen abgewandt und blickte, im Schatten der Szenerie schwerer auszumachen als der Rest, aus dem Gemälde heraus, durchbrach also zumindest an einer Stelle die Runde des Desinteresses.

»Warum schaut uns die dunkelhäutige Frau an?«, wollte Emily wissen, und Iggy – schlagfertig wie es seine Art war – antwortete ihr.

»Sie schaut gar nicht uns an, sondern jeden, der das Bild betrachtet.«

»Wahrscheinlich ist das Afrika«, versuchte es Wanda, während ich nach wie vor leise Wut empfand, weil die ignoranten Erwachsenen ihre Kinder und Tiere einem kurz bevorstehenden Gewaltakt überließen und diese Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht mit klugen Sprüchen (Mein Gott, Wanda!) wettzumachen versuchten.

»Wieso sollte sie Afrika sein?«

Mir ging es im Augenblick nur darum, Wandas Besserwisserei zu torpedieren.

»Na ja, wenn ich an Vier Weltteile denke, unter denen sich zweifellos auch Afrika befindet, dann ist diese Frau die einzige, von der ich weiß, wo sie hingehört«, antwortete Wanda, ein pfiffiges Grinsen auf ihren Lippen, als spielten wir das alles den Kindern im Rahmen eines Bildungsprogramms bloß vor.

»Liegt darin irgendein Vorteil?«

Ich hätte das selbst nicht zu beantworten gewusst.

»Kyra sieht ebenfalls so aus, und die wohnt nicht in Afrika, sondern auf Stiege 5«, steuerte die tapfere Emily bei – nicht unbedingt um sich damit auf meine Seite zu schlagen, obwohl ich das in diesem Moment gerne geglaubt hätte.

»Ja, natürlich, ich meine ja auch …«

Allmählich dämmerte Wanda, wohin sie ihre Schlauheit gebracht hatte. »Du«, stammelte sie, an Emily gewandt, »sprichst da jetzt von …«

Wanda war endgültig in der Ahnungslosigkeit angekommen.

»Vielleicht ist es auch Stiege 6.«

»Weißt du… damals kannte man die Welt … noch nicht so …«

»Zwischen Stiege 5 und Stiege 6 befindet sich nämlich der Lift, deswegen sind die leicht zu verwechseln.«

Man hätte den Eindruck gewinnen können, das Kind – Emily – spüre, dass sich die Erwachsene – Wanda – selbst in Bedrängnis gebracht hatte, und versuche sie davor zu bewahren, noch tiefer hineinzugeraten, was unweigerlich geschehen würde, würde das Kind der Erwachsenen einfach nur zuhören.

»Ich kann mich noch an die Irmi aus dem Zwergengarten erinnern.«

Das kam von Tessa, die abrupt aufgehört hatte, darauf zu achten, ausschließlich auf die Parketten zu treten, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und damit sämtliche Markierungen auf dem von Tessa imaginierten Spielfeld zum Erlöschen gebracht. Mir fiel ein, dass Tessa sich der Erlösung eines gemeinsamen Schauderns hingegeben hatte, noch bevor sie das Krokodil gesehen hatte.

»Der Ali sieht auch so aus«, sagte Konrad. Der Anblick des Krokodils schien ihm nichts mehr auszumachen.

»Und auf welchem Bild kann man den Ali sehen?«, wollte Iggy wissen.

»In der Pizzeria Roma«, beeilte sich Konrad, stolz, diesmal sogar eine Folgefrage beantwortet zu haben.

»Ist das ebenfalls woanders auf der Welt?«

Das war wieder Iggy, beim Versuch, sich mit dem jüngeren Konrad seinen Spaß zu machen.

»Klar, die Pizzas kommen aus einem anderen Land,« antwortete Konrad voller Begeisterung, weil er sogar einer dritten Prüfung standhielt.

Iggy: »Sind das Menschen?«

Ich: »Menschen aus Afrika?«

Die kluge Wanda: »Aber das ist doch eine Stadt.«

Mehr oder weniger wir alle: »Pizza?«

»Roma.«

Wanda war gerade mitsamt ihrem Wissen der herrlichsten Missverständlichkeit auf den Leim gegangen, als eine Frau den Saal mit den Vier Weltteilen betrat, der – ohne dass einem von uns Betrachtern klar gewesen wäre, woran nun genau – eine viel tiefer sitzende Verwirrung anzusehen war. Ich sah ihr diese Verwirrung an, Wanda sah sie und erkannte darin wohl eine Möglichkeit, den Holzweg, auf den sie sich begeben hatte, gleich wieder zu verlassen. Emily sah die Verwirrung der vielleicht vierzigjährigen, vielleicht aber auch schon älteren Frau – das ließ sich nicht so genau sagen, als wäre selbst ihr Alter durcheinandergeraten. Natürlich wusste Emily nicht, was sie der Frau da ansah. Konrad sah die Verwirrung, Tessa sah sie und Iggy, dem, stellvertretend für alle Kinder, am ehesten zuzutrauen war, eine Ahnung davon zu haben, dass das, was die Frau verwirrte, sie von den Erwachsenen abrücken ließ und den Kindern ein Stückchen näher brachte. Einige Haarsträhnen hatten sich aus ihrer üblicherweise – da gab es gar keinen Zweifel – perfekt sitzenden Frisur gelöst und baumelten ihr wie lose Kabel in die Stirn. Etwas Farbe war aus dem Verlauf einer Augenbraue ausgebrochen und ließ mich, ganz im Bann der Kinder, daran denken, dass die verwirrte Frau vielleicht ebenso nur hierhergemalt war wie die Figuren auf den Gemälden. Ihre Handtasche hing eher an ihrer Hand als dass sie von dieser gehalten wurde und stand überdies offen, als wolle sie etwas sagen, was die verwirrte Frau, an der die Tasche hing, zu sagen nicht imstande war. Deutlicher als an diesen zugegebenermaßen geringfügigen Mängeln ihrer äußeren Erscheinung war der Frau die Verwirrung an ihren Blicken abzulesen. Anscheinend ziellos sandte sie diese aus, als weise der Raum, in dem sie sich zu befinden glaubte, eine ganz andere Struktur auf als der Schausaal mit den Vier Weltteilen, in den sie sich verirrt hatte. Vielleicht, dachte ich, in diesem Moment wieder erwachsen geworden, hielt sie sich im Geiste noch in jenem Raum auf, in dem sie von der Verwirrung erfasst worden war. Instinktiv musste ich an die technischen Probleme denken und daran, dass wir möglicherweise ebenso verwirrt wären, hätten wir gesehen, was diese Frau gesehen hatte.

Keiner von uns interessierte sich noch für die Vier Weltteile, fasziniert schauten wir auf die mal hierhin, mal dorthin ausscherenden Schritte der verwirrten Frau, die den Anschein erweckten, sie wolle gleichzeitig in verschiedene Richtungen gehen. Während sie auf uns zusteuerte, trieb etwas sie von uns weg, und obwohl uns einige ihrer Blicke erreichten, hatte ich den Eindruck, sie sehe durch uns hindurch. Als Wanda ihr einen Schritt entgegenkam, blieb die Frau stehen und sagte etwas von einem Anschlag, einem Attentat, richtete ihre Worte allerdings eher an die Figuren auf den Vier Weltteilen als an einen von uns, vielleicht weil etwas ihr durch ihre Verwirrung hindurch riet, sich Kindern gegenüber in Zurückhaltung zu üben. Auf den Vier Weltteilen tummelten sich zwar ebenfalls Kinder, allerdings bestanden die nur aus Pinselstrichen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte keiner von uns eine Ahnung, dass kurz zuvor im Foyer des Museums, gerade mal ein Stockwerk unter uns, ein bewaffneter Kampf stattgefunden hatte, aus dem zwei Menschen schwer verletzt hervorgegangen waren.

Als wir der Frau vor dem Gemälde mit den Vier Weltteilen begegneten, dürfte dieses Ereignis kaum mehr als ein paar Minuten alt gewesen sein, weshalb es bisher nur gerüchtehalber, zaghaft als technisches Problem verkleidet, bei uns hier oben angekommen war. Später sollte offiziell verlautbart werden, dass ein Mann mit einem Messer – einige würden behaupten, einen orientalischen Dolch erkannt zu haben – auf einen mit dem Schutz des Museums beauftragten Polizeibeamten losgegangen wäre, nachdem dieser darauf bestanden hätte, einen Blick in den Rucksack des Mannes zu werfen. Ein zweiter Polizist hätte daraufhin auf den Angreifer geschossen und ihn an drei Stellen seines Körpers (darunter, als schwerste Verwundung, in den Bauch) getroffen. Der Beamte, den der Attentäter angegriffen hatte, trug mehrere Stichverletzungen davon, in denen ein hinzugezogener Psychologe später die Handschrift der Ziellosigkeit eines in Panik geratenen Menschen wiedererkennen sollte.

Ungeachtet der Tatsache, dass wir uns die ganze Zeit über in jenem Gebäude befunden hatten, in dem diese Ereignisse stattfanden, erfuhren wir, nicht anders als die Mehrheit der Bevölkerung, erst im Nachhinein aus den Zeitungen und in Nachrichtensendungen Genaueres darüber, so zum Beispiel, dass der Mann bis zu seiner brutalen Attacke nicht den geringsten Anlass zu einer Verdächtigung gegeben hätte. Einem pensionierten Lehrer, der in unmittelbarer Nähe des Ticketschalters eine Zeit lang neben ihm verbracht haben wollte (»Mich interessieren Menschen nun mal mehr als Bilder«), waren keinerlei Anzeichen einer bevorstehenden Eskalation aufgefallen (»Er sah aus wie jemand, der eine strapaziöse Reise hinter sich gebracht hat, um die Kunstwerke in diesem Museum zu sehen«). Keine Spur von Nervosität oder gar einer unterdrückten Wut, wie sie Gewalttätern laut Psychologen unmittelbar vor einer Aggression mitunter anzusehen sind. Wenn überhaupt etwas, würde der pensionierte Lehrer später einem Reporter gegenüber zugeben, dann habe er eine gewisse Traurigkeit an dem Mann festgestellt. Am Tag nach den Ereignissen sollte die Ticketverkäuferin mit ähnlichen Worten zitiert werden. Sie habe den Eindruck gehabt, in den Augen des Mannes die Traurigkeit einer ganzen Nation erblickt zu haben, was ein Boulevardblatt übrigens zum Anlass nehmen sollte, der Angestellten des Museums – anders als dem pensionierten Lehrer – ein Naheverhältnis zu jener Ideologie zu unterstellen, die den Mann, seiner eigenen, späteren Aussage zufolge, zumindest indirekt dazu gebracht hatte, auf die Sicherheitskraft loszugehen.

Damals – da bin ich mir hundertprozentig sicher – hatte die verwirrte Frau, die angesichts der Vier Weltteile etwas von einem Attentat stammelte, keine Ahnung, was wirklich im Foyer des Museums vor sich ging oder soeben vor sich gegangen war. Nicht einmal der Aufseher war informiert worden. Seine Vorgesetzten hatten ihn mit dem Hinweis auf ein technisches Problem abgespeist, weshalb seine Aufgabe, genauso wie die seiner Kollegen, darin bestand, sämtliche Ein- und Ausgänge der Schausäle im oberen Stockwerk abzuriegeln und die Museumsbesucher um Geduld zu bitten. Zwischen Wanda und mir verursachte der Hinweis auf einen Anschlag, mochte er auch einer wirren Ahnung entsprungen sein, dennoch ein betretenes Schweigen, dem sich, als fänden sie das zur Abwechslung ganz lustig, auch die Kinder anschlossen. Zumindest so lange, bis Konrad, der, von uns unbemerkt, in den nächsten Saal voraus gelaufen war, im Türrahmen erschien.

»Das müsst ihr euch unbedingt ansehen, das bricht jeden Moment in sich zusammen.«

Erschrocken blickten wir – ich jedenfalls – zu ihm hin, und kurz meinte ich, in Konrads so unerwartet auftauchendem Gesicht, einer grauen Haarsträhne auf einem Kinderkopf vergleichbar, die Zukunft auf uns zurückblicken zu sehen.

Unverzüglich setzten wir uns in Bewegung, diesmal ich voran, vor Schreck ganz bleich – ich glaube, ich sah mein bleiches Gesicht während der paar Schritte in den anderen Saal vor mir wie morgens nach einer durchwachten Nacht in meinem Badezimmerspiegel –, dahinter Iggy johlend, als wäre er nach dem Schweigen, das er, ohne so recht zu wissen warum, mit den anderen geteilt hatte, der Stille doppelt so viel schuldig, und Emily, die Tessa bei der Hand genommen hatte, damit Tessa gar nicht erst auf die Idee komme, dem, was Konrad uns zeigen wollte, durch ihre umständliche Art der Fortbewegung etwas von seiner dramatischen Wirkung zu nehmen. Wanda bildete diesmal die Nachhut, als wäre, was sie da drüben zu sehen befürchtete, so lange nicht weiter schlimm, bis jemand sie dazu brächte, es sich anzuschauen. Obwohl selbst beinahe schon im anderen Saal musste ich bei Wandas Geziertheit an Konrad und das Krokodil denken. Wie sich herausstellen sollte, bildete Wanda übrigens gar nicht die Nachhut, das tat die verwirrte Frau. Als hätte die Dynamik unseres Aufbruchs ihren vom Weg abgekommenen Schritten eine neue Orientierung gegeben, schloss sie sich uns unaufgefordert an.

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