Ein halbes Jahr nach Empfang der ersten Karte stand der Kommissar Escherich, seinen sandfarbenen Schnurrbart streichend, vor der Karte Berlins, auf der er mit roten Fähnchen die Fundpunkte von Quangels Karten markiert hatte. Es steckten jetzt vierundvierzig solcher Fähnchen auf dem Blatt; von den achtundvierzig Karten, die Quangels in diesem halben Jahr geschrieben und ausgetragen hatten, waren nur vier nicht bei der Gestapo gelandet. Und auch diese vier waren wohl kaum in den Betrieben von Hand zu Hand gegangen, wie es sich die Quangels erhofft, sondern sie waren, kaum gelesen, schon angstvoll zerrissen, weggespült oder verbrannt worden.
Die Tür geht, und Escherichs Vorgesetzter, der SS-Obergruppenführer Prall, kommt herein: »Heil Hitler, Escherich! Nun, warum beißen Sie so auf Ihrem Bart herum?«
»Heil Hitler, Herr Obergruppenführer! Das ist der Kartenschreiber, der Klabautermann, wie ich ihn bei mir nenne.«
»Nanu? Warum denn Klabautermann?«
»Weiß nicht. Fiel mir so ein. Vielleicht, weil er die Leute graulich machen will.«
»Und wie weit sind wir damit, Escherich?«
»Tja!«, sagte der Kommissar gedehnt. Er sah wieder nachdenklich auf die Karte. »Nach der Verbreitung zu schließen, muss er irgendwo nördlich vom Alexanderplatz sitzen, da sind die meisten Vorkommen. Aber auch Osten und Zentrum sind ganz gut bepflastert. Der Süden gar nicht, im Westen, etwas südlich vom Nollendorfplatz, sind zwei Vorkommen – da muss er irgendwie gelegentlich zu tun haben.«
»Gut deutsch: aus der Karte lässt sich noch gar nichts sagen! Damit kommen wir nicht einen Schritt weiter!«
»Abwarten! Ein halbes Jahr später, wenn mein Klabautermann bis dahin keinen anderen Schwupper macht, wird die Karte schon viel mehr Aufschluss geben.«
»Halbes Jahr! Sie sind ja prächtig, Escherich! Ein halbes Jahr wollen Sie dieses Schwein noch wühlen und grunzen lassen und nichts tun, als in aller Gemütsruhe Ihre Fähnchen einpieken!«
»Bei unserer Arbeit muss man Geduld haben, Herr Obergruppenführer. Das ist, wie wenn Sie auf dem Anstand sitzen und auf den Bock warten. Sie müssen eben warten. Ehe er kommt, können Sie nicht schießen. Aber wenn er kommt, da schieß ich, verlassen Sie sich drauf!«
»Ich hör immerzu Geduld, Escherich! Glauben Sie denn, die Herren über uns haben so viel Geduld? Ich fürchte, wir kriegen bald einen reingehängt, an dem wir lange kauen werden. Bedenken Sie, in einem halben Jahr vierundvierzig Karten, das sind in jeder Woche fast zwei Karten, die bei uns eintrudeln, das sehen doch die Herren. Da fragen sie mich: Na, und? Noch nicht gefasst? Warum noch nicht gefasst? Was tut ihr eigentlich? Fähnchen pieken und Daumen drehen, antworte ich. Und dann kriege ich meinen reingewürgt und den Befehl, den Mann in zwei Wochen zu fassen.«
Kommissar Escherich grinste unter seinem sandfarbenen Bart. »Und dann würgen Sie mir einen rein, Herr Obergruppenführer, und geben mir den dienstlichen Befehl, den Mann in einer Woche zu fassen!«
»Grinsen Sie nicht so albern, Escherich! Über so einen Fall, wenn der zum Beispiel dem Himmler zu Ohren kommt, kann man sich die schönste Karriere verpfuschen, und vielleicht denken wir beide im KZ Sachsenhausen eines Tages noch trübselig darüber nach, wie schön doch die Zeiten waren, als wir noch rote Fähnchen einpieken durften.«
»Keine Bange, Herr Obergruppenführer! Ich bin ein alter Kriminalist und weiß, keiner kann was Besseres machen als wir tun: warten. Die sollen uns doch einen besseren Weg vorschlagen, die Klugscheißer, wie man an meinen Klabautermann rankommt. Aber natürlich wissen die auch keinen.«
»Escherich, bedenken Sie, wenn vierundvierzig bei uns eingetrudelt sind, so heißt das, dass mindestens ebenso viel, vielleicht aber über hundert Karten heute in Berlin umlaufen, Unzufriedenheit säen, Sabotage stiften. Das kann man doch nicht ruhig mit ansehen!«
»Hundert Karten im Umlauf!«, lachte Escherich. »Haben Sie eine Ahnung vom deutschen Volk, Herr Obergruppenführer! Bitte tausendmal um Entschuldigung, Herr Obergruppenführer, so wollte ich es wirklich nicht sagen, es ist mir nur so rausgerutscht! Natürlich haben Herr Obergruppenführer viel Ahnung vom deutschen Volke, mehr als ich wahrscheinlich, aber die Leute haben jetzt doch solche Angst! Die liefern ab – mehr als zehn Karten sind bestimmt nicht im Umlauf!«
Nach seiner zornigen Gebärde wegen des beleidigenden Ausrufes von Escherich (diese Leute, die von der Kripo kamen, waren ein bisschen reichlich dumm und taten viel zu kollegial!), nachdem also der Obergruppenführer Prall den beleidigenden Ausruf Escherichs mit einem Zornblick und einem wütenden Vorschnellen des Armes gerügt hatte, sagte er jetzt: »Aber zehn sind auch noch zu viel! Eine ist noch zu viel! Gar keine darf mehr umlaufen! Sie müssen den Mann fassen, Escherich – und schnell!«
Der Kommissar stand stumm da. Er hob den Blick nicht von den glänzenden Stiefelspitzen des Obergruppenführers, er strich gedankenvoll den Schnurrbart und schwieg hartnäckig.
»Ja, da stehen Sie und schweigen!«, rief Prall ärgerlich. »Und ich weiß auch, was Sie denken. Sie denken nämlich grade, dass ich auch solch ein Klugscheißer bin, der wohl Rüffel austeilen kann, aber nichts Besseres vorzuschlagen weiß.«
Rot werden konnte der Kommissar Escherich schon lange nicht mehr, aber er war in diesem Augenblick, da er genau über seinen heimlichen Gedanken erwischt worden war, dem Erröten so nahe wie nur möglich. Und verlegen war er auch, was ihm seit endlosen Zeiten nicht mehr passiert war.
Obergruppenführer Prall merkte das alles wohl. Heiter sagte er: »Nun, ich will Sie gewiss nicht in Verlegenheit bringen, Escherich, ich gewiss nicht! Und ich will Ihnen auch keine guten Ratschläge geben. Sie wissen, ich bin kein Kriminalist, ich bin in diesen Laden nur kommandiert worden. Aber unterrichten Sie mich mal ein bisschen. Ich werde in den nächsten Tagen bestimmt über diesen Fall berichten müssen, da wüsste ich gerne genau Bescheid. Der Mann ist nie beim Ablegen der Karten beobachtet worden?«
»Nie.«
»Und kein Verdacht geäußert in den Häusern, wo die Karten aufgefunden wurden?«
»Verdacht? Verdacht über Verdacht! Verdacht gibt’s heute überall. Aber es steckt nirgends mehr dahinter als ein bisschen Wut auf den Nachbarn, Spitzeltum, Denunziantenfieber. Nein, daher kommt keine Spur!«
»Und die Auffinder selbst? Alle unverdächtig?«
»Unverdächtig?« Escherich verzog den Mund. »Ach Gott, Herr Obergruppenführer, unverdächtig ist heutzutage keiner.« Und nach einem raschen Blick auf das Gesicht seines Vorgesetzten: »Oder alle. Aber wir haben hier sämtliche Finder gesiebt und noch mal gesiebt. Mit dem Schreiber der Karten hat keiner was zu tun.«
Der Obergruppenführer seufzte. »Sie hätten Pfarrer werden sollen. Sie können so wunderbar trösten, Escherich!«, sagte er. »Bleiben also noch die Karten. Und wie steht es da mit den Anhaltspunkten?«
»Dürftig. Sehr dürftig!«, sagte Escherich. »Nee, lieber nicht Pfarrer, aber die Wahrheit für Sie, Herr Obergruppenführer! Nach dem ersten Schwupper, den er gemacht hat mit dem einzigen Sohn, habe ich gedacht, er würde sich mir selbst ans Messer liefern. Aber das ist ein schlauer Fuchs.«
»Sagen Sie mal, Escherich«, rief Prall plötzlich, »haben Sie je daran gedacht, dass es auch eine Frau sein könnte? Mir fiel das eben so ein, als Sie vom einzigen Sohn sprachen.«
Der Kommissar sah einen Augenblick seinen Vorgesetzten überrascht an. Er dachte nach. Dann sagte er, bekümmert den Kopf schüttelnd: »Damit ist’s auch nichts, Herr Obergruppenführer. Das ist vielmehr grade einer der Punkte, die ich für absolut sicher ansehe. Mein Klabautermann ist ein Witwer oder jedenfalls ein Mann, der ganz für sich allein lebt. Wäre ein Weib in der Sache, das hätte längst inzwischen ein bisschen Geschwätz gegeben. Bedenken Sie: ein halbes Jahr, so lange hält keine Frau dicht!«
»Aber eine Mutter, die den einzigen Sohn verloren hat?«
»Auch nicht. Grade die nicht!«, entschied Escherich. »Wer Kummer hat, will getröstet werden, und um Trost zu bekommen, muss man reden. Nein, bestimmt ist keine Frau in der Sache. Von der weiß nur einer, und der kann schweigen.«
»Wie gesagt: Pfarrer! Und was sonst für Anhaltspunkte?«
»Dürftig, Herr Obergruppenführer, sehr dürftig. Ziemlich sicher ist der Mann geizig oder hat irgendwann mal Krach mit dem Winterhilfswerk gehabt. Denn auf den Karten mag stehen, was da will, noch nicht einmal hat er die Mahnung vergessen: Gebt nichts für das WHW!«
»Na, wenn wir nach einem in Berlin suchen sollen, der nicht gerne fürs WHW spendet, Escherich …«
»Sage ich auch, Herr Obergruppenführer. Zu wenig. Zu dürftig.«
»Und sonst?«
Der Kommissar zuckte die Achseln. »Wenig. Nichts«, sagte er. »Wir können vielleicht noch mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass der Kartenableger keinen festen Beruf hat, denn die Karten sind eigentlich zu allen Tageszeiten aufgefunden worden, zwischen morgens acht und abends neun Uhr. Und bei der Belebtheit der Treppenhäuser, die mein Klabautermann benutzt, ist wohl anzunehmen, dass jede Karte ziemlich rasch nach ihrem Ablegen gefunden ist. Sonst? Ein Handarbeiter, der wenig geschrieben hat in seinem Leben, aber nicht mit schlechter Schulbildung, macht kaum je einen Schreibfehler, drückt sich nicht ungewandt aus …«
Escherich schwieg, beide schwiegen sie ziemlich lange, wobei sie gedankenlos auf die Karte mit den roten Fähnchen starrten.
Dann sagte der Obergruppenführer Prall: »Eine harte Nuss, Escherich. Hart für uns beide.«
Der Kommissar meinte tröstend: »Es gibt keine Nuss, die so hart ist – ein Nussknacker schafft sie doch!«
»Mancher klemmt sich auch die Finger dabei, Escherich!«
»Nur Geduld, Herr Obergruppenführer, bloß ein bisschen Geduld!«
»Wenn die anderen oben sie bloß haben, an mir liegt’s nicht, Escherich. Na, martern Sie Ihr Köpfchen mal ein bisschen, Escherich, vielleicht fällt Ihnen doch noch was Besseres ein als diese blöde Warterei. Heil Hitler, Escherich!«
»Heil Hitler, Herr Obergruppenführer!«
Allein geblieben, stand der Kommissar Escherich noch eine Weile vor der Karte, gedankenvoll den hellen Schnurrbart streichelnd. Es war ja nicht ganz so, wie er seinen Vorgesetzten hatte glauben machen wollen. In diesem Falle war er nicht nur der abgebrühte Kriminalist, den nichts mehr aufregen kann. Sondern er hatte Interesse gefunden an diesem stummen, ihm leider noch gänzlich unbekannten Kartenschreiber, der sich da so schonungslos und doch so vorsichtig, so klug berechnend in einen fast aussichtslosen Kampf gestürzt hatte. Dieser Fall Klabautermann war zuerst nur einer von vielen gewesen. Dann hatte er ihn warm gemacht. Er musste diesen Mann finden, der da mit ihm unter den zehntausend Dächern von Berlin saß, er musste ihn von Angesicht zu Angesicht sehen, ihn, der dem Kommissar allwöchentlich mit der Regelmäßigkeit einer Maschine zwei, drei Postkarten am Montagabend, spätestens am Dienstagvormittag auf den Schreibtisch sandte.
Escherich war längst weit entfernt von jener Geduld, die er dem Obergruppenführer eben noch so sehr empfohlen hatte. Escherich jagte – dieser alte Kriminalist war ein echter Jäger. Das steckte ihm im Blut. Er hetzte Menschen, wie andere Jäger Schweine hetzen. Dass die Schweine und die Menschen am Schluss der Jagd sterben mussten, das rührte ihn nicht. Es war dem Schwein bestimmt, auf diese Art zu sterben, wie es auch den Menschen, die solche Karten schrieben, bestimmt war. Er hatte sich längst den Kopf zermartert, wie er schneller an den Klabautermann herankommen könnte – so was brauchte ihm der Obergruppenführer Prall nicht erst zu empfehlen. Aber er fand keinen Weg, denn es gab hier nur Geduld. Man konnte nicht wegen einer solch unbedeutenden Sache den ganzen Polizeiapparat in Bewegung setzen, jede Wohnung in Berlin durchsuchen lassen – ganz abgesehen davon, dass er nicht solche Beunruhigung in die Stadt tragen durfte. Er musste immer weiter Geduld haben …
Und wenn man genug Geduld gehabt hatte, da geschah es dann plötzlich: fast immer geschah etwas. Der Verbrecher beging einen Fehler, oder der Zufall spielte ihm einen Streich. Auf eines von diesen beiden musste man warten, auf den Zufall oder auf den Fehler. Eines geschah immer oder fast immer. Escherich hoffte, dass es in diesem Falle kein »fast immer« geben würde. Er war interessiert, oh, er war stark interessiert. Im Grunde war es ihm ganz egal, ob er hier einem Verbrecher das Handwerk legte oder nicht. Escherich, es ist schon gesagt worden, Escherich jagte. Nicht um des Bratens willen, sondern weil das Jagen eine Lust ist. Er wusste, im gleichen Augenblick, wo das Wild zur Strecke gebracht, der Verbrecher gefangen und ihm seine Verbrechen hinreichend bewiesen waren – in dem gleichen Moment würde Escherichs Interesse an diesem Falle aufhören. Das Wild war erlegt, der Mann saß in Untersuchungshaft – die Jagd war zu Ende. Auf ein Neues!
Escherich hat den farblosen Blick von der Karte gewendet. Er sitzt jetzt an seinem Schreibtisch und isst langsam und gedankenvoll seine Frühstücksstullen. Als das Telefon klingelt, greift er nur zögernd danach. Noch ganz gleichgültig hört er die Meldung: »Hier Polizeirevier Frankfurter Allee. Kommissar Escherich?«
»Am Apparat.«
»Sie bearbeiten den Fall: Karte Unbekannt?«
»Ja. Was gibt’s? Schnell ein bisschen!«
»Wir haben mit ziemlicher Sicherheit den Kartenverteiler gefasst.«
»Bei der Verteilung?«
»Nahezu. Er leugnet natürlich.«
»Wo haben Sie ihn?«
»Noch bei uns auf dem Revier.«
»Behalten Sie ihn dort, ich bin mit meinem Wagen in zehn Minuten bei Ihnen. Und: nicht weiter vernehmen! Den Mann in Ruhe lassen! Ich will mit ihm selber sprechen. Verstanden?«
»Zu Befehl, Herr Kommissar!«
»Ich komme dann!«
Einen Augenblick stand Kommissar Escherich fast reglos über dem Telefon. Der Zufall – der gnädige, gute Zufall! Er hatte es ja gewusst, nur Geduld musste man haben!
Er ging rasch zur ersten Vernehmung des Kartenverteilers.
Ein halbes Jahr danach saß der Feinmechaniker Enno Kluge ungeduldig wartend im Vorzimmer eines Arztes. Er saß dort mit noch anderen dreißig oder vierzig Wartenden. Eine stets gereizte Sprechstundenhilfe rief eben die Nummer 18 aus, Enno aber hatte die Nummer 29. Er würde noch über eine Stunde sitzen müssen, und in der Kneipe »Ferner liefen« wartete man schon auf ihn.
Enno Kluge konnte es nicht länger beim Sitzen aushalten. Er wusste gut, er durfte nicht eher gehen, bis der Arzt da vorn ihn krankgeschrieben hatte, sonst gab es Stunk in der Fabrik. Aber eigentlich konnte er gar nicht länger warten, sonst war es zu spät, noch seine Rennwetten abzuschließen.
Enno will im Wartezimmer auf und ab gehen. Aber dafür ist es viel zu voll, er wird angeschnauzt. So zieht er sich auf den Flur zurück, und als ihn die Sprechstundenhilfe dort entdeckt und sehr gereizt auffordert, ins Wartezimmer zurückzugehen, fragt er sie nach der Toilette.
Sie zeigt sie ihm widerspenstig genug, und sie will auch abwarten, bis der Mann wieder herauskommt. Aber dann geht die Flurklingel ein paarmal kurz nacheinander, und sie muss den 43., den 44., den 45. Patienten empfangen, sie hat Personalien aufzunehmen, Kartothekkarten auszufüllen, Krankenscheine zu stempeln.
So geht das vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. Sie ist halb tot, der Arzt ist halb tot, und nie verlässt sie mehr dieser unselige Zustand dauernder Gereiztheit, in dem sie nun schon Wochen und Wochen ist. In diesem Zustand hat sie einen wahren Hass auf diesen immer weiter fließenden Strom von Patienten geworfen, die sie nie mehr zur Ruhe kommen lassen, die schon morgens um acht Uhr, wenn sie kommt, geduldig an der Tür stehen und die noch abends um zehn im Wartezimmer herumhocken, es mit ihren üblen Gerüchen erfüllend: alles Drückeberger von der Arbeit, Drückeberger von der Front, Menschen, die sich auf eine ärztliche Bescheinigung mehr Lebensmittel, bessere Lebensmittel erschleichen wollen. Alles Leute, die sich von ihren Pflichten drücken wollen, sie aber kann das nicht. Sie muss hier aushalten, darf nicht krank sein (was finge denn der Doktor ohne sie an?), sie muss noch freundlich sein zu diesen Heuchlern, die alles schmutzig machen, vollschleimen, vollkotzen! Auf der Toilette liegt immer alles voll Zigarettenasche.
Dabei fällt ihr der kleine Schleicher ein, dem sie vorhin die Toilette hat zeigen müssen. Sicher sitzt der noch immer da und qualmt Zigaretten. Sie springt auf, rennt hinaus, rüttelt an der Tür.
»Besetzt!«, ruft es von drinnen.
»Wollen Sie wohl machen, dass Sie da runterkommen!«, fängt sie zornig zu schelten an. »Denken Sie, Sie können da Stunden und Stunden sitzen? Andere Leute möchten auch die Toilette benutzen!«
Sie wirft dem an ihr vorbeischleichenden Kluge zornig die Worte nach: »Natürlich alles wieder vollgequalmt! Ich werde dem Herrn Doktor erzählen, wie krank Sie sind! Sie sollen mal was erleben!«
Entmutigt lehnt Enno Kluge im Sprechzimmer gegen die Wand – sein Stuhl ist unterdes auch besetzt worden. Der Arzt ist inzwischen bis Nummer 22 gekommen. Wahrscheinlich ganz sinnlos, hier noch weiter zu warten. Das Biest da draußen ist imstande, den Arzt aufzuhetzen, dass er ihn wirklich nicht krankschreibt. Und was dann? Dann funkt es draußen in der Fabrik! Er fehlt nun schon mal wieder den vierten Tag; die sind imstande und schicken ihn wirklich noch in eine Strafkompanie oder in ein KZ – imstande sind die Brüder dazu! Ja, er muss heute noch einen Krankenschein kriegen, und es ist am schlauesten, er wartet hier weiter, da er nun schon so lange gewartet hat. Bei einem anderen Arzt ist es ebenso voll, er muss bis in die Nacht sitzen, und von diesem hier hat er wenigstens gehört, dass er leicht krankschreibt. Wird er heute eben mal nicht auf Pferde wetten, muss es eben heute mal ohne den Enno gehen, hilft nichts …
Er lehnt hüstelnd gegen die Wand, ein schwächliches Etwas. Besser ein Garnichts. Von jener Abreibung durch den SS-Mann Persicke hat er sich nie ganz erholen können. Jawohl, mit der Arbeit war es nach ein paar Tagen besser geworden, obwohl seine Hände nicht wieder die alte Geschicklichkeit erlangten. Es reichte jetzt grade zu einem Durchschnittsarbeiter. Nie wieder würde er die alte Handfertigkeit erlangen, ein angesehener Mann in seinem Fach werden.
Vielleicht war es das, was ihm die Arbeit so gleichgültig machte, vielleicht lag es aber auch daran, dass er auf die Länge überhaupt nicht gerne mehr arbeitete. Er sah den Sinn und den Zweck der Arbeit nicht so recht ein. Wozu eigentlich sich so anstrengen, wenn man auch ohne Arbeit ausreichend leben konnte! Etwa für den Krieg? Die sollten ihren Scheißkrieg gut und gerne alleine führen, ihn interessierte der nicht. Vielleicht schickten die mal ihre ganzen fetten Bonzen an die Front, dann würde der Krieg schnell alle sein!
Nein, es war aber auch nicht die Frage nach dem Sinn seiner Arbeit, die ihm alle Tätigkeit verhasst machte. Es war der Umstand, dass Enno zurzeit ohne Arbeit leben konnte. Ja, er war schwach gewesen, er gestand es sich jetzt ein, er war wieder zu den Weibern gegangen, erst zu Tutti, dann zu Lotte, und die waren auch ganz bereit gewesen, diesen kleinen, anschmiegsamen Mann eine Weile durchzuschleppen. Und sobald man sich mit den Weibern einließ, war es mit jeder geregelten Arbeit aus. Schon morgens schimpften sie, wenn er um sechs Uhr seinen Kaffee und das Frühstück verlangte, was das wohl heißen sollte? Um diese Zeit schlief jeder Mensch, und ob er es denn nötig habe? Er solle doch ruhig wieder ins warme Bett kriechen!
Nun, ein- oder zweimal bestand man ein solches Gefecht siegreich, aber, wenn man ein Enno Kluge war, kein drittes Mal. Man gab nach, kroch zu der Frau in die Betten und schlief noch ein oder zwei oder sogar noch drei Stunden.
War es so spät, ging er überhaupt nicht mehr in die Fabrik, sondern machte den Tag blau. Oder war es noch früher, kam man eben ein bisschen zu spät zur Arbeit, mit irgendeiner lahmen Entschuldigung, wurde angeschnauzt (aber das war man ja schon lange gewohnt, da hörte man gar nicht mehr hin), tat ein paar Stunden was und ging heim, wieder vom Geschimpfe empfangen: Wozu man denn einen Mann im Haus hielte, wenn er den ganzen Tag fort war? Wegen der paar Mark! Die wären gewiss leichter zu verdienen! Nein, wenn es Arbeit sein musste, wäre er besser in seinem engen Hotelzimmerchen geblieben, Weiber und Arbeit, das ließ sich nicht vereinigen. Bei einer ja, bei der Eva – und natürlich hatte Enno Kluge auch wieder einen Versuch gemacht, bei seiner Frau, der Briefbestellerin, unterzukriechen. Aber da erfuhr er von der Frau Gesch, dass die Eva verreist war. Die Gesch hatte einen Brief von ihr gekriegt, sie saß irgendwo im Ruppinschen bei Verwandten. Jawohl, sie, die Gesch, hatte jetzt die Schlüssel zu der Wohnung, aber sie dachte nicht daran, sie dem Enno Kluge auszuhändigen. Wer schickte regelmäßig die Miete: er oder seine Frau? Nun also, gehörte die Wohnung doch ihr, nicht ihm! Sie hatte sich seinetwegen schon genug Ungelegenheiten gemacht, sie dachte gar nicht daran, ihm die Wohnung freizugeben.
Übrigens, wenn er durchaus was für seine Frau tun wolle, so sollte er doch mal auf die Post gehen. Die hatten schon ein paarmal nach Frau Kluge geschickt, und vor kurzem war auch eine Vorladung vor irgendein Parteigericht gekommen; die Gesch hatte sie einfach mit dem Vermerk »Empfänger unbekannt verreist« zurückgehen lassen. Aber das auf der Post sollte er ruhig mal regeln. Seine Frau hatte da sicher noch Ansprüche.
Das mit den Ansprüchen hatte ihn gezwickt; schließlich konnte er sich als rechtlicher Ehemann ausweisen, Evas Ansprüche waren auch seine Ansprüche. Aber der Weg erwies sich als ein Fehlweg; auf der Post nahmen sie ihn mächtig in die Zange. Die Eva musste irgendwas mit der Partei angestellt haben, die waren wütend auf sie! Er hatte es gar nicht mehr eilig, sich als rechtlicher Ehemann Evas auszuweisen – im Gegenteil, er gab sich die größte Mühe, nachzuweisen, dass er schon länger von der Eva getrennt lebte und keine Ahnung von ihrem Tun und Lassen hatte.
Schließlich ließen sie ihn laufen. Was war aus solchem kleinen Männchen auch herauszuholen, das immer bereit war, gleich loszuheulen, und das bei jedem Anpfiff zu zittern anfing? Also, er konnte gehen, er sollte machen, dass er fortkam, und wenn er seine Frau doch mal wiedersah, so sollte er sie sofort hierher aufs Amt schicken. Oder besser noch: Er solle denen einen Wink geben, wo sie wohnte, das Weitere würden sie von hier aus erledigen.
Auf seinem Heimweg zur Lotte grinste Enno Kluge wieder. Also die tüchtige Eva saß auch in der Klemme, war ins Ruppinsche zu ihren Verwandten ausgerissen und wagte nicht mehr, sich in Berlin sehen zu lassen! So dumm war Enno natürlich nicht gewesen, den Postleuten zu verraten, wohin die Eva gereist war; so schlau wie die Gesch war er auch. Es bliebe ein letzter Ausweg; wenn es hier in Berlin für ihn mal ganz schiefgehen sollte, so konnte er immer noch bei der Eva auftauchen, vielleicht nahm sie ihn doch auf. Sie würde sich auch vor den Verwandten genieren, allzu scharf gegen ihn aufzutreten. Eva gab noch was auf Ansehen und guten Ruf. Und schließlich hatte er sie ja durch Karlemanns Heldentaten in der Schraube; sie würde es nie leiden, dass er davon ihren Verwandten erzählte, lieber noch nahm sie ihn in Kauf.
Ein letzter Ausweg, wenn wirklich alles schiefging. Vorläufig hatte er noch seine Lotte. Sie war wirklich ganz nett, bis auf die Schnauze, die sie nicht eine Sekunde halten konnte, und bis auf ihre verdammte Angewohnheit, ewig Männer auf die Bude zu bringen. Er musste dann die halbe, manchmal sogar die ganze Nacht in der Küche hocken – und am nächsten Tag war es wieder nichts mit der Arbeit.
Es war nie mehr ganz das Rechte mit der Arbeit, und es würde auch nie mehr richtig werden, das wusste er. Aber vielleicht ging dieser Krieg schneller zu Ende, als man jetzt dachte, und es gelang ihm doch noch, die so lange hinzuhalten. So war er wieder ganz allmählich ins Bummeln und ins Blaumachen gekommen. Der Meister kriegte schon einen wutroten Kopf, wenn er ihn nur sah. Dann hatte es einen zweiten Anpfiff von der Leitung gegeben, aber dieses Mal hatte er nicht lange vorgehalten. Enno Kluge sah doch auch, was hier gespielt wurde, die brauchten jeden Tag Arbeiter, so leicht warfen die ihn nicht raus!
Dann waren ganz rasch drei Bummeltage hintereinander gekommen. Er hatte da so eine reizende Witwe kennengelernt, nicht mehr ganz jung, ein bisschen sehr aus dem Leim gegangen, aber entschieden etwas Besseres als seine bisherigen Weiber. Hatte sie doch ein gutgehendes Tiergeschäft in der Nähe des Königstors! Sie handelte mit Vögeln und Fischen und Hunden, sie hatte Futter und Halsbänder und Sand und Hundekuchen und Mehlwürmer. Es gab Schildkröten bei ihr, Laubfrösche, Salamander, Katzen … Ein Geschäft, das wirklich was trug, und sie war eine tüchtige Frau, eine richtige Geschäftsfrau.
Er hatte sich ihr gegenüber als Witwer ausgegeben, er hatte sie auch glauben gemacht, Enno sei sein Nachname, sie nannte ihn Hänschen. Bestimmt, er hatte Chancen bei der Frau, das hatte er während der drei Bummeltage, die er ihr im Geschäft half, gut gesehen. So ein Männlein, das nach einem bisschen Zärtlichkeit verlangte, war ihr grade recht. Sie war in den Jahren, da einer Frau angst wird, ob sie für ihre alten Tage noch einen Mann abkriegt. Natürlich würde sie ihn heiraten wollen, aber das Ding konnte er auch schon irgendwie hindrehen, dass es passte. Schließlich gab es jetzt Kriegstrauungen, wo die Unterlagen so genau nicht geprüft wurden, und wegen der Eva brauchte er keine Bedenken zu haben. Die würde froh sein, ihn für immer loszuwerden, die würde den Mund schon halten!
Da war plötzlich brennend in ihm der Wunsch aufgetaucht, sich erst einmal ganz von der Fabrik frei zu machen. Er musste ja sowieso krank spielen, jetzt, da er schon drei Tage ohne Entschuldigung gefehlt hatte. Da wollte er auch richtig krank sein! Und während dieser Krankheit würde er die Sache mit der Witwe Hete Häberle schon richtig zum Klappen bringen. Jetzt ekelte es ihn bei der Lotte; er konnte diese Wirtschaft nicht länger ertragen, ihr Gequassel nicht, ihre Männer nicht und am wenigsten ihre Zärtlichkeit, wenn sie angetrunken war. Nein, in drei, vier Wochen wollte er verheiratet sein und eine ordentliche Wirtschaft haben! Dazu musste ihm der Arzt verhelfen.
Erst Nummer 24, es dauert immer noch eine halbe Stunde, bis Enno drankommt. Ganz mechanisch steigt er über all die Füße weg und steht wieder auf dem Flur. Trotz der bissigen Sprechstundenhilfe wird er noch eine Zigarette auf dem Klo stoßen. Er hat Glück, er gelangt ungesehen auf die Toilette, aber kaum hat er die ersten paar Züge gemacht, so rüttelt dieses Weibsbild doch wieder an der Tür.
»Sie sind ja schon wieder auf der Toilette! Sie rauchen ja schon wieder!«, schreit sie. »Ich weiß genau, dass Sie es sind! Wollen Sie wohl machen, dass Sie rauskommen, oder muss ich erst den Herrn Doktor holen?«
Wie sie schreit, wie ekelhaft sie schreit! Da gibt er lieber gleich nach, wie er stets lieber nachgibt als widersteht. Er lässt sich von ihr in den Warteraum jagen, er sagt nicht ein Wort zu seiner Entschuldigung. Und da lehnt er nun wieder gegen die Wand und wartet, dass seine Nummer drankommt. Die wird ihn schön beim Arzt verklagen, diese verdammte Kreuzotter, die!