»Weeß ick doch! Weeß ick doch allet! Det steht ja an de Litfasssäulen! Abendkurse für fortgeschrittene Elektrotechniker« – plötzlich sprach er ein ganz fehlerfreies Deutsch –, »die Grundlagen der Elektrotechnik.«
»Na also!«, rief Frau Eva. »Und du denkst, du bist zu alt für so was! Du willst nichts mehr lernen? Du willst dein Lebtag ein Penner bleiben, der den Winter über Gläser wäscht und Holz hackt? Das wird ja ein nettes Leben werden, viel Spaß wird dir das nicht machen!«
Er hatte die Augen jetzt wieder weit geöffnet und sah sie forschend, aber auch misstrauisch an.
»Du willst wohl, det ick bei meine Leute zurückmache und in Berlin zur Schule jeh? Oder willste mir in Fürsorge stecken?«
»Nichts von beiden. Ich will sehen, dass du bei mir bleiben kannst. Und dann will ich dich selber unterrichten, und ein Freund von mir.«
Er blieb misstrauisch. »Un wat vadienst du denn bei det Jeschäft? Ick würde dir doch ’ne Masse kosten, mit Essen un Kleider un Schulbücher und so weiter.«
»Ich weiß nicht, ob du das verstehen wirst, Kuno. Ich habe mal einen Mann und zwei Jungens gehabt, die habe ich verloren. Und nun bin ich ganz allein, nur den einen Freund habe ich noch!«
»Da kannste doch noch ’n Kind kriejen!«
Sie wurde rot, sie, die alternde Frau, errötete unter dem Blick des vierzehnjährigen Jungen.
»Nein, ich kann keine Kinder mehr kriegen«, sagte sie und sah ihn fest an. »Aber es würde mir Freude machen, wenn du noch etwas würdest, ein Autoingenieur oder ein Flugzeugkonstrukteur. Das würde mir Freude machen, dass ich aus so einem Jungen, wie du bist, noch etwas gemacht habe.«
»Du denkst woll, ick bin een janz jemeenet Aas?«
»Das weißt du doch selbst, dass jetzt nicht viel mit dir los ist, Kuno!«
»Da haste recht. Det muss wahr sind!«
»Und du hast keine Lust, was anderes zu werden?«
»Lust schon, aba …«
»Aber was? Möchtest du nicht zu mir kommen?«
»Möchten schon, aba …«
»Was ist das noch für ein Aber?«
»Ick denk imma, du krichst mir schnell üba, und fortschicken lass ick mir nich jerne, ick jeh lieba von alleene.«
»Du kannst jeden Tag von mir fortgehen, ich werde dich nie halten.«
»Is det ein Wort?«
»Das ist ein Wort, ich verspreche es dir, Kuno. Bei mir bist du ganz frei.«
»Aba, wenn ick bei dir bin, denn muss ick richtich jemeldet wern, und denn wissen’s ooch meine Ollen, wo ick bin. Die lassen mir nich eenen Tach bei dir.«
»Wenn das so aussieht bei euch zu Haus, wie du erzählt hast, wird dich keiner zwingen zurückzugehen. Vielleicht werden mir dann die Rechte übertragen, und du bist ganz mein Junge …«
Einen Augenblick sahen sich die beiden an. Sie meinte, in diesem blauen gleichgültigen Blick einen fernen Glanz zu entdecken. Aber dann sagte er – und legte den Kopf auf den Arm, schloss die Augen: »Na, denn schön. Denn will ick ma ’n bissken schlafen. Jeh du man wieder bei deine Kartoffeln!«
»Aber, Kuno« rief sie. »Du musst mir doch wenigstens eine Antwort auf meine Frage geben!«
»Muss ick?«, fragte er sehr schläfrig. »Keen Mensch muss müssen.«
Sie sah ein Weilchen zweifelnd auf ihn herab. Dann ging sie mit einem leichten Lächeln wieder an ihre Arbeit.
Sie hackte, aber jetzt hackte sie ganz gedankenlos. Zwei Mal ertappte sie sich dabei, dass sie eine Kartoffel umgelegt hatte. Pass doch auf, Eva!, sagte sie dann ärgerlich zu sich selbst.
Aber viel besser passte sie darum doch nicht auf. Sondern sie dachte daran, dass es vielleicht besser sei, wenn es mit diesem verkommenen Jungen und ihr nichts würde. Wie viel Liebe und Arbeit hatte sie in den Karlemann gesteckt, der ein unverdorbenes Kind gewesen war – und was war aus Liebe und Arbeit geworden? Und sie wollte einen vierzehnjährigen Bengel, der das ganze Leben und alle Menschen verachtete, noch einmal völlig umändern? Was hatte sie sich da eingebildet? Außerdem würde Kienschäper nie damit einverstanden sein …
Sie sah sich nach dem Schläfer um. Aber der Schläfer war nicht mehr da, allein lagen ihre Sachen im Schatten des Waldrandes.
Also gut!, dachte sie bei sich. Er hat mir schon jede Entscheidung abgenommen. Ausgerissen! Umso besser!
Und sie hackte zornig drauflos.
Aber einen Augenblick später entdeckte sie Kuno-Dieter auf dem anderen Ende des Kartoffelackers, wie er fleißig Unkraut ausriss und die Bündel am Feldrand aufschichtete. Sie stieg über die Furchen fort zu ihm hin.
»Schon ausgeschlafen?«, fragte sie.
»Kann nich schlafen«, sagte er. »Mir haste den Kopp dusslig jeredt. Muss nachdenken.«
»Denn tu das man! Aber denk nicht, dass du meinetwegen arbeiten musst.«
»Deinetwegen!« So viel Verachtung, wie er in dieses eine Wort legte, war gar nicht auszudenken. »Ick reiß Unkraut aus, weil sich’s dabei besser nachdenkt und weil’s mir eben Spaß macht. Wahrhaftig! Wejen dir! Für die paar Sechserstullen meenste?«
Wieder ging Frau Eva Kluge mit einem stillen Lächeln an ihre Arbeit zurück. Und er tat es doch ihretwegen, wenn er es auch nicht einmal vor sich selbst wahrhaben wollte. Jetzt hatte sie keinen Zweifel mehr, dass er mittags mit ihr gehen würde, und davor verloren alle mahnenden und warnenden Stimmen, die in ihr laut geworden waren, an Gewicht.
Früher als sonst machte sie Schluss mit der Arbeit. Sie ging wieder zu dem Jungen zurück und sagte zu ihm: »Ich mach jetzt Mittag. Wenn du willst, Kuno, kannst du mit mir kommen.«
Er riss noch ein paar Unkräuter aus und sah dann auf das gesäuberte Stück. »’ne janz schöne Ecke ha’ck jeschafft«, sagte er befriedigt. »Natürlich ha’ck nur det jrobe Unkraut jenomm, for det kleene musste noch mal mit de Hacke langjehn, det schafft denn aba mehr.«
»Natürlich«, sagte sie. »Nimm du nur das grobe Unkraut weg, mit dem kleinen will ich schon fertig werden.«
Er sah sie wieder von der Seite an, und sie merkte, dass diese blauen Augen auch schelmisch blicken konnten.
»Det soll woll ’ne Anspielung sind?«, erkundigte er sich.
»Wie du meinst«, sagte sie. »Es braucht es nicht zu sein.«
»Na denn!«
Sie blieb stehen auf dem Rückweg, an einem kleinen, eilig dahinströmenden Wasser.
»Ich möchte dich so, wie du aussiehst, nicht mit ins Dorf nehmen, Kuno«, sagte sie.
Sofort erschien eine Falte auf seiner Stirn, und er fragte argwöhnisch: »Du schämst dir woll for mir?«
»Natürlich kannst du auch so mitkommen, meinetwegen«, sagte sie. »Aber wenn du länger im Dorf leben willst, und du kannst fünf Jahre da sein und immer ordentlich gekleidet herumlaufen, die Bauern vergessen doch nie, wie du zu ihnen gekommen bist. Wie ein Dreckschwein, werden sie noch in zehn Jahren sagen. Wie ein Penner.«
»Da haste recht«, sagte er. »So sind die Brüder. Na, denn mach ma und hol Zeuch! Ick will ma sehn, det ick mir unterdes hier ’n bissken abschrubbe.«
»Ich bringe Seife und Bürste mit«, rief sie noch und machte sich eilig auf den Weg ins Dorf.
Später am Tage, sehr viel später am Tage, schon am Abend, als sie zu dreien ihr Abendbrot gegessen hatten: Frau Eva, der weißhaarige Kienschäper und ein fast bis zur Unkenntlichkeit verwandelter Kuno-Dieter, später also sagte Frau Eva: »Heute schläfst du hier noch auf dem Heuboden, Kuno. Von morgen an kriege ich die kleine Kammer, sie müssen nur erst das Gerümpel rausstellen. Ich richte sie dir hübsch ein. Möbel habe ich genug.«
Kuno sah sie nur an. »Det soll heeßen, det ick jetzt zu vaduften habe«, sagte er, »det de Herrschaften unter sich sein wollen. Na denn! Aba schlafen jeh ick jetzt noch nich, Eva, ick bin doch keen Siebenmonatskind. Ick wer mir erst ma det Kaff bekieken.«
»Aber lass es nicht zu spät werden, Kuno! Und rauch nicht auf dem Heuboden!«
»I wo denn! Wo wer ick!, wär ja der Erste, der abnibbeln müsste. Na denn! Ville Spaß noch, junge Leute, sagte der Vata, da machte er Mutta een Kind!«
Und Herr Kuno-Dieter ging ab. Ein glänzendes Produkt nationalsozialistischer Erziehung.
Frau Eva Kluge lächelte etwas bekümmert. »Ich weiß doch nicht, Kienschäper«, sagte sie, »ob ich grade recht daran getan habe, dieses Früchtchen in unsere kleine Familie aufzunehmen. Er ist eine Zumutung, das ist er!«
Kienschäper lachte. »Aber, Evi«, sagte er, »du musst doch selber merken, dass der Junge jetzt nur angibt! Der will sich hier ganz groß zeigen! Auch in aller Scheußlichkeit. Und gerade, weil er merkt, du bist ein bisschen zimperlich …«
»Ich bin doch nicht zimperlich!«, rief sie. »Aber wenn mir ein vierzehnjähriger Junge erzählt, er hat schon zwei Geliebte gehabt …«
»… so bist du eben doch zimperlich, Evi. Und was heißt übrigens zwei Geliebte, die er bestimmt gar nicht gehabt hat, sondern im schlimmsten Falle haben sie ihn gehabt! Das heißt gar nichts! Ich will es deinen Ohren ersparen, Evi, dir zu erzählen, was die Kinder dieses schlichten, frommen Dorfes alles miteinander vorhaben, dagegen ist dein Kuno-Dieter noch Gold!«
»Aber die Kinder reden nicht davon!«
»Weil sie ein schlechtes Gewissen haben. Er aber hat keines, sondern sieht es ganz natürlich an, weil er es nämlich nie anders gesehen und gehört hat. Das gibt sich alles. Ein guter Kern steckt in dem Jungen; in einem halben Jahr wird er schon schamrot werden, wenn er an das denkt, was er dir in den ersten Tagen alles gesagt hat. Er wird’s ablegen, genauso wie sein Berlinisch. Hast du gemerkt, er kann ganz gut hochdeutsch reden, er will bloß nicht.«
»Ich habe ein schlechtes Gewissen, besonders vor dir, Kienschäper.«
»Das brauchst du nicht zu haben, Evi. Der Junge macht mir Spaß, und dessen sei sicher, er mag werden, wie er will: einer aus dem Hitlerdutzend wird er nie. Vielleicht ein Sonderling, aber nie ein Parteimann, sondern stets ein Einzelgänger.«
»Das gebe Gott!«, sagte Eva. »Mehr will ich ja gar nicht erreichen.«
Und sie hatte das dunkle Gefühl, als mache sie mit dem geretteten Kuno-Dieter die von Karlemann begangenen Schandtaten ein bisschen wieder gut.
Der Brief des Reviervorstehers war zwar ganz richtig an Herrn Kriminalrat Zott bei der Geheimen Staatspolizei, Berlin, adressiert gewesen. Aber das hatte noch nicht zur Folge, dass dieser Brief auch direkt bei dem Kriminalrat Zott eintraf. Sondern dessen Vorgesetzter, der SS-Obergruppenführer Prall, hatte ihn in den Händen, als er beim Kriminalrat eintrat.
»Was ist das für eine Sache, Herr Kriminalrat?«, fragte Prall. »Hier ist wieder so ’ne Karte vom Klabautermann und daran angeheftet ein Zettel: Häftlinge laut telefonischer Weisung der Gestapo, Kriminalrat Zott, wieder entlassen. Was sind das für Häftlinge? Warum ist mir davon nichts gemeldet?«
Der Kriminalrat sah schräg durch die Brille zu seinem Vorgesetzten hin: »Ach so! Ja, jetzt erinnere ich mich. Das war vorgestern oder noch einen Tag früher. Jetzt weiß ich es wieder genau: am Sonntag war es. Abends. Zwischen sechs und sieben, achtzehn und neunzehn Uhr wollte ich sagen, Herr Obergruppenführer.«
Und er sah, stolz auf sein ausgezeichnetes Gedächtnis, den Obergruppenführer an.
»Und was war da am Sonntag zwischen achtzehn und neunzehn Uhr? Wieso gab es da Häftlinge? Und warum wurden sie wieder entlassen? Und weshalb ist mir davon nichts gemeldet? Es ist zwar sehr beruhigend, dass Sie es jetzt wieder wissen, Zott, aber ich möcht’s auch gerne wissen.«
Dieses ohne alle Titelei hervorgestoßene »Zott« klang wie ein erster Kanonenschuss.
»Aber eine ganz belanglose Geschichte!« Der Kriminalrat machte beruhigende Bewegungen mit seinem aktengelben Händchen. »Ein Unsinn auf dem Revier. Die hatten da als Kartenschreiber oder Kartenverteiler ein paar Leutchen festgenommen, ein Ehepaar, natürlich blanker Unsinn mal wieder von der Schupo. Ehepaar – da wir doch wissen, der Mann muss allein leben! Und dann, jetzt fällt mir auch das noch ein, von Beruf war der Mann Tischler, und wir wissen doch, er muss etwas mit der Straßenbahn zu tun haben!«
»Wollen Sie damit sagen, Herr«, antwortete, nur noch mühsam an sich haltend, der Obergruppenführer (das »Herr« war der zweite und weitaus schärfere Schuss in diesem Kriege), »wollen Sie damit sagen, dass Sie die Enthaftung dieser Leute angeordnet haben, ohne sie überhaupt zu sehen, ohne sie zu vernehmen – bloß weil es zwei waren statt einer und bloß weil der Mann sich für einen Tischler ausgab? Herr!«
»Herr Obergruppenführer«, antwortete der Kriminalrat Zott und stand auf. »Wir Kriminalisten arbeiten nach einem bestimmten Plan und weichen davon nicht ab. Ich suche einen einsam lebenden Mann, der was mit der Straßenbahn zu tun hat, und keinen Ehemann, der Tischler ist. Der interessiert mich nicht. Wegen dem gehe ich keinen Schritt.«
»Als wenn ein Tischler nicht auch für die BVG arbeiten könnte, zum Beispiel Bahnwagen reparieren!«, schrie jetzt Prall. »So eine Hornsdummheit!«
Zuerst wollte Zott beleidigt sein, aber die treffende Bemerkung seines Vorgesetzten machte ihn doch bedenklich. »Freilich«, sagte er betreten, »daran habe ich freilich nicht gedacht.« Er sammelte sich. »Aber ich suche einen einsam lebenden Menschen«, sagte er wieder. »Und dieser Mann hat eine Frau.«
»Haben Sie eine Ahnung, was die Weiber für gemeine Biester sein können!«, knurrte Prall. Aber er hatte noch etwas in Bereitschaft: »Und haben Sie, Herr Kriminalrat Zott« (der dritte und schärfste Schuss), »vielleicht auch daran nicht gedacht, dass diese Karte an einem Sonntagnachmittag abgelegt ist, in der Nähe des Nollendorfplatzes, der gehört nämlich zu dem Revier! Sollte auch dieser kleine, belanglose Umstand Ihrem kriminalistischen Scharfblick entgangen sein?«
Diesmal war der Kriminalrat Zott ehrlich bestürzt, sein Spitzbart zuckte, über seine dunklen, scharfen Augen zog es wie ein Schleier.
»Sie sehen mich in der größten Verlegenheit, Herr Obergruppenführer! Ich bin verzweifelt, wie konnte mir das nur geschehen? Ach ja, ich habe mich verrannt. Ich habe immer nur an diese Bahnhöfe von der Elektrischen gedacht, ich war so stolz auf diese Entdeckung. Zu stolz …«
Der Obergruppenführer sah mit bösen Augen auf dieses Männchen, das in ehrlicher Bekümmernis, aber ohne Kriecherei seine Sünden bekannte.
»Es war ein Fehler von mir, ein schwerwiegender Fehler«, fuhr der Kriminalrat eifrig fort, »diese Ermittlungen überhaupt zu übernehmen. Ich tauge nur für die stille Arbeit am Schreibtisch, nicht für den Fahndungsdienst. Kollege Escherich macht so etwas zehnmal besser als ich. Nun habe ich auch noch das Unglück gehabt«, fuhr er beichtend fort, »dass einer meiner Leute, den ich mit der Ermittlung in einem dieser Häuser beauftragt hatte, verhaftet worden ist, ein gewisser Klebs. Wie mir mitgeteilt wird, soll er an einem Diebstahl beteiligt sein, an der Ausräuberung eines Dipsomanen.1 Übrigens ist er schwer verletzt. Eine sehr hässliche Geschichte. Der Mann wird bei der Verhandlung nicht den Mund halten, er wird sagen, wir haben ihn geschickt …«
Der Obergruppenführer Prall zitterte vor Zorn, aber der traurige Ernst, mit dem Kriminalrat Zott sprach, und seine völlige Unbekümmertheit um das eigene Schicksal hielten ihn noch im Zaum.
»Und wie denken Sie sich die Fortsetzung der Sache, Herr?«, fragte er kalt.
»Ich bitte Sie, Herr Obergruppenführer«, bat Zott mit flehend erhobenen Händen, »ich bitte Sie, entbinden Sie mich! Entbinden Sie mich von diesem Dienst, dem ich in keiner Weise gewachsen bin! Holen Sie den Kommissar Escherich wieder aus seinem Keller, er wird es besser machen als ich …«
»Ich hoffe«, sagte Prall und schien alles eben Gesagte nicht gehört zu haben, »ich hoffe, Sie haben wenigstens die Anschriften der beiden inhaftiert Gewesenen notiert?«
»Ich habe es nicht! Ich habe mit sträflichem Leichtsinn gehandelt, von meiner Lieblingsidee verführt. Aber ich werde mich mit dem Revier verbinden lassen, man wird mir die Adressen geben, wir werden sehen …«
»Also lassen Sie sich verbinden!«
Das Gespräch war nur sehr kurz. Der Kriminalrat sagte zu dem Obergruppenführer: »Auch dort hat man die Adressen nicht notiert.« Und auf eine zornige Bewegung seines Vorgesetzten: »Ich bin schuld, ich ganz allein! Nach dem Telefongespräch mit mir musste man dort die Angelegenheit für endgültig erledigt ansehen. Ich allein bin schuld, dass nicht einmal eine Aktennotiz gemacht wurde!«
»Sodass wir jetzt keinerlei Spur mehr haben?«
»Keinerlei Spur!«
»Und wie denken Sie über Ihr Verhalten?«
»Bitte, Herrn Kommissar Escherich aus dem Keller zu holen und mich an seiner Stelle festzusetzen!«
Obergruppenführer Prall sah den kleinen Mann eine Weile sprachlos an. Dann sagte er, zitternd vor Wut: »Wissen Sie, dass ich Sie in ein KZ schicken werde? Sie wagen, mir einen solchen Vorschlag ins Gesicht hinein zu machen, und Sie zittern und heulen nicht vor Angst? Aus dem Zeug, wie Sie sind, sind auch die Roten, die Bolschewiken, gemacht! Sie bekennen Ihre Schuld, aber Sie scheinen noch stolz darauf!«
»Ich bin nicht stolz auf meine Schuld. Aber ich bin bereit, die Folgen zu tragen. Und ich hoffe, ich werde es ohne Zittern und Heulen tun!«
Obergruppenführer Prall lächelte verächtlich zu diesen Worten. Er hatte unter den Schlägen der SS-Männer schon viel Würde zerfallen gesehen. Aber er hatte auch den Blick in den Augen mancher Gemarterten gesehen, diesen Blick, der in aller Qual von einer kühlen, fast spöttischen Überlegenheit sprach. Und die Erinnerung an diesen Blick machte es, dass er, statt zu schreien und zu schlagen, nur sagte: »Sie halten sich in diesem Zimmer zu meiner Verfügung. Ich muss erst Bericht erstatten.«
Kriminalrat Zott neigte zustimmend den Kopf, und der Obergruppenführer Prall ging.
1 Trinker <<<
Der Kommissar Escherich ist wieder im Amt. Der Totgeglaubte ist aus den Kellern der Gestapo wieder zum Leben auferstanden. Ein wenig beschädigt und zerknittert, sitzt er doch wieder an seinem Schreibtisch, und seine Kollegen beeilen sich, ihn ihrer Sympathie zu versichern. Sie hätten immer an ihn geglaubt. Sie hätten alles gerne für ihn getan, was in ihrer Macht stand. »Nur, weißt du, wenn erst die höhere Führung jemanden in Verschiss tut, kann unsereiner nichts mehr machen. Da verbrennt man sich nur die Pfoten. Nun, das weißt du ja alles selbst, das verstehst du ja, Escherich.«
Escherich versichert, dass er alles versteht. Er verzieht den Mund zu einem Lächeln, das ein wenig unglücklich aussieht, vermutlich weil Escherich noch nicht gelernt hat, mit einigen Zahnlücken im Munde zu lächeln.
Nur zwei Reden haben auf ihn bei seinem Diensteintritt Eindruck gemacht. Die eine kam vom Kriminalrat Zott.
»Kollege Escherich«, hatte der gesagt. »Ich werde nicht statt Ihrer in den Bunker gesandt, obwohl ich es zehnmal mehr als Sie verdient hätte. Nicht nur wegen der Fehler, die ich gemacht habe, sondern weil ich mich wie ein Schwein Ihnen gegenüber benommen habe. Meine einzige Entschuldigung ist: ich glaubte, Sie hätten schlecht gearbeitet …«
»Nun reden Sie nicht mehr davon«, hatte Escherich mit seinem zahnlückigen Lächeln gesagt. »Im Fall Klabautermann haben bisher alle schlecht gearbeitet, Sie, ich, alle. Es ist komisch, ich bin wirklich gespannt darauf, diesen Mann kennenzulernen, der so viel Unglück mit seinen Karten über seine Mitmenschen gebracht hat. Es muss ein seltsamer Vogel sein …«
Er sah den Kriminalrat gedankenvoll an.
Der gab ihm seine kleine aktengelbe Hand. »Denken Sie nicht zu böse von mir, Kollege Escherich«, sagte er leise. »Und noch eins: ich habe da so eine neue Theorie aufgestellt, dass der Täter irgendetwas mit der Straßenbahn zu tun hat. Sie werden es bei den Akten finden. Bitte verlieren Sie diese Theorie bei Ihren Ermittlungen nicht ganz aus dem Auge. Ich wäre sehr glücklich, wenn wenigstens dieser Punkt meiner Erwägungen sich als wahr erwiese! Ich bitte Sie darum!«
Und damit entschwand der Kriminalrat Zott auf sein abgelegenes, stilles Zimmer, nur noch seinen Theorien hingegeben.
Die zweite denkwürdige Ansprache hielt natürlich der Obergruppenführer Prall. »Escherich«, sagte er mit erhobener Stimme, »Kommissar Escherich! Sie fühlen sich doch ganz wohl?«
»Völlig wohl!«, antwortete der Kommissar. Er stand hinter seinem Schreibtisch, unwillkürlich lagen die Hände mit eng angepressten Daumen an der Hose, wie er es unten in der Zelle gelernt hatte. Sosehr er dagegen ankämpfte, der Kommissar zitterte. Sein Auge war aufmerksam auf den Vorgesetzten gerichtet. Diesem Manne gegenüber erfasste ihn nichts wie Angst, besinnungslose Angst, jeden Augenblick konnte der ihn wieder in den Keller schicken.
»Wenn Sie sich also völlig wohl fühlen, Escherich«, fuhr Prall fort, der sehr wohl die Wirkung seiner Worte spürte, »so können Sie doch auch arbeiten. Oder nicht?«
»Ich kann arbeiten, Herr Obergruppenführer!«
»Wenn Sie arbeiten können, Escherich, so können Sie doch auch den Klabautermann fangen! Das können Sie doch?«
»Das kann ich, Herr Obergruppenführer!«
»In kürzester Zeit, Escherich!«
»In kürzester Zeit, Herr Obergruppenführer!«
»Sehen Sie, Escherich«, sagte der Obergruppenführer Prall gnädig und weidete sich an der Angst seines Untergebenen. »Wie gut so ’n kleiner Ferienaufenthalt im Bunker tut! So liebe ich meine Leute! Sie fühlen sich mir nicht mehr sehr überlegen, Herr Escherich?«
»Nein, Herr Obergruppenführer, gewiss nicht. Zu Befehl, Herr Obergruppenführer!«
»Sie denken nicht mehr, dass Sie der allerschlaueste Hund in der ganzen Gestapo sind und dass alle anderen bloß aus Hundedreck gemacht sind – das denken Sie doch nicht mehr, Escherich?«
»Zu Befehl, nein, Herr Obergruppenführer, das denke ich nicht mehr.«
»Sehen Sie, Escherich«, fuhr der Obergruppenführer fort und gab dem angstvoll zurückfahrenden Escherich einen kräftigen, scherzhaften Nasenstüber, »und wenn Sie sich nun mal wieder sehr schlau fühlen oder wenn Sie Eigenmächtigkeiten begehen oder wenn Sie denken, der Obergruppenführer Prall ist bloß ein doofes Aas, dann sagen Sie mir das rechtzeitig. Dann schicke ich Sie gleich, ehe es noch zu schlimm wird, zu einer kleinen Kur in den Keller. Na, na?«
Der Kommissar Escherich sah seinen Vorgesetzten nur starr an. Jetzt konnte es ein Blinder hören, so stark zitterte der Kommissar.
»Nun, was wird, Escherich, werden Sie’s mir rechtzeitig sagen, wenn Sie mal wieder mächtig schlau sind?«
»Zu Befehl, Herr Obergruppenführer!«
»Oder wenn die Arbeit nicht vorangeht, damit ich Ihnen ein bisschen Beine mache?«
»Zu Befehl, Herr Obergruppenführer!«
»Na, dann sind wir uns ja einig, Escherich!«
Der hohe Herr gab dem genugsam Geduckten plötzlich ganz überraschend die Hand. »Freut mich, Escherich, Sie wieder im Dienst zu sehen. Hoffe, wir werden wieder ausgezeichnet miteinander arbeiten. Was wollen Sie also als Nächstes tun?«
»Mir von den Beamten des Reviers am Nollendorfplatz eine genaue Personalbeschreibung verschaffen. Die werden wir jetzt endlich bekommen! Der Mann, der die beiden Angezeigten vernahm, vielleicht hat er doch noch eine leise Erinnerung an den Namen. Die Suchaktion des Kollegen Zott fortsetzen …«
»Schön, schön. Das ist also jedenfalls ein Anfang. Sie erstatten mir täglich Bericht …«
»Zu Befehl, Herr Obergruppenführer!«
Ja, dies war die zweite Unterredung bei Wiederaufnahme seines Dienstes, die einigen Eindruck auf den Kriminalkommissar Escherich machte. Im Übrigen sah man ihm nichts mehr von seinen Erlebnissen an, nachdem auch die Zahnlücke wieder geschlossen war. Die Kollegen fanden sogar, Escherich sei sehr viel netter geworden seitdem. Das machte, dass er den Ton spöttischer Überlegenheit völlig verloren hatte. Keinem Menschen konnte er sich noch überlegen fühlen.
Kommissar Escherich arbeitet, macht Recherchen, nimmt Vernehmungen vor, fertigt Personalbeschreibungen an, liest in Akten, telefoniert – Escherich arbeitet wie eh und je. Aber wenn ihm auch keiner was ansieht und wenn er auch hofft, eines Tages wieder ohne Zittern mit seinem Vorgesetzten Prall reden zu können, Escherich weiß, er wird nie wieder der Alte. Er ist bloß noch eine Arbeitsmaschine; was er tut, ist Routinearbeit. Mit dem Überlegenheitsgefühl schwand auch die Freude an der Arbeit, der Dünkel war der Dünger, der seine Früchte reifte.
Escherich hat sich immer sehr sicher gefühlt. Er hat immer geglaubt, ihm könne nichts geschehen. Er hat angenommen, er sei ein ganz anderer Mensch als die anderen. Und Escherich hat all diese Selbsttäuschungen aufgeben müssen, eigentlich in den paar Sekunden, als ihm der SS-Mann Dobat die Faust in den Mund schlug und er Angst lernte. Escherich hat in wenigen Tagen so gründlich Angst gelernt, dass er sie in seinem ganzen Leben nicht wieder verlernen wird. Er weiß, er kann aussehen, wie er will, er kann das Unmögliche erreichen, er kann geehrt und gefeiert werden – er weiß, er ist gar nichts. Ein Faustschlag kann ihn in ein heulendes, zitterndes, angstvolles Garnichts verwandeln, nicht viel besser als der kleine, stinkende, feige Taschendieb, mit dem er tagelang die Zelle geteilt hat und dessen eiligst geleierte Gebete ihm jetzt noch im Ohr sind. Nicht so sehr viel besser. Nein, gar nicht besser!
Aber eines hält den Kommissar Escherich noch aufrecht, das ist der Gedanke an den Klabautermann. Den Kerl muss er noch fassen, hinterher kann seinethalben werden, was will. Er muss diesem Mann Auge ins Auge sehen, er muss mit diesem Mann sprechen, der die Ursache seines Unglücks geworden ist. Er will es ihm ins Gesicht sagen, diesem Fanatiker, welch Unheil, Sorge, Not er über viele Menschen gebracht hat. Er wird ihn zerschmettern, diesen Feind im Dunkeln.
Hätte er ihn doch schon!