»Ach, so ein kleiner Nichtstuer, ein Rennwetter, der ist nicht wichtig, um den machen Sie sich das Herz nicht schwer!«
»Jeder ist wichtig. Sein Blut wird von mir gefordert werden.«
»Sehen Sie, Herr Quangel«, sagte der Kommissar zu dem düster neben ihm stehenden Manne. »Nun haben Sie es doch gestanden, Ihr Verbrechen, und haben es nicht einmal gemerkt!«
»Mein Verbrechen? Ich habe kein Verbrechen begangen, wenigstens nicht das, was Sie meinen. Mein Verbrechen ist es, dass ich mich für zu schlau hielt, dass ich es allein machen wollte, und ich weiß doch, einer ist nichts. Nein, ich habe nichts getan, weswegen ich mich schämen muss, aber wie ich es getan habe, das war falsch. Dafür verdiene ich die Strafe, und darum sterbe ich gerne …«
»Nun, so schlimm wird’s ja nicht gleich werden«, bemerkte der Kommissar tröstlich.
Quangel hörte nicht auf ihn. Vor sich hin sagte er: »Ich hab nie richtig was von den Menschen gehalten, sonst hätte ich es wissen müssen.«
Escherich fragte: »Wissen Sie denn, Quangel, wie viel Briefe und Karten Sie eigentlich geschrieben haben?«
»276 Karten, 9 Briefe.«
»… sodass ganze 18 Stück nicht abgeliefert worden sind.«
»18 Stück, das ist meine Arbeit von über zwei Jahren, das ist all meine Hoffnung. 18 Stück mit dem Leben bezahlt, aber immer doch 18 Stück!«
»Glauben Sie nur nicht, Quangel«, sagte der Kommissar, »dass diese 18 Stück immer weitergegeben sind. Nein, die sind von Leuten gefunden, die selbst so viel Dreck am Stecken hatten, dass sie die Karten nicht abzugeben wagten. Auch diese 18 sind ohne jede Wirkung geblieben, wir haben nie etwas aus dem Publikum von ihrer Wirkung gehört …«
»Sodass ich nichts erreicht habe?«
»Sodass Sie nichts erreicht haben, wenigstens nichts von dem, was Sie wollten! Seien Sie doch froh darüber, Quangel, das wird Ihnen bestimmt als strafmildernd angerechnet werden! Vielleicht kommen Sie mit fünfzehn oder zwanzig Jahren Zuchthaus weg!«
Quangel schauderte. »Nein«, sagte er. »Nein!«
»Was haben Sie sich denn eigentlich auch gedacht, Quangel? Sie, ein einfacher Arbeiter, haben gegen den Führer kämpfen wollen, hinter dem die Partei, die Wehrmacht, die SS, die SA stehen? Gegen den Führer, der schon die halbe Welt besiegt hat und in ein, zwei Jahren unsern letzten Feind besiegt haben wird? Das ist doch lächerlich! Das mussten Sie sich doch von vornherein sagen, dass das schief gehen musste! Das ist, wie wenn eine Mücke gegen einen Elefanten kämpfen will. Das verstehe ich nicht, Sie, ein vernünftiger Mann!«
»Nein, das werden Sie nie verstehen. Es ist egal, ob nur einer kämpft oder zehntausend; wenn der eine merkt, er muss kämpfen, so kämpft er, ob er Mitkämpfer hat oder nicht. Ich habe kämpfen müssen, und ich würde es immer wieder tun. Nur anders, ganz anders.«
Er wendete seinen wieder ruhigen Blick zum Kommissar: »Übrigens, meine Frau hat nichts mit diesen Dingen zu schaffen. Sie müssen sie wieder freilassen!«
»Jetzt lügen Sie, Quangel! Ihre Frau hat die Karten diktiert, sie hat es selbst gestanden.«
»Jetzt lügen Sie! Sehe ich aus wie ein Mann, der sich von seiner Frau diktieren lässt? Womöglich sagen Sie noch, sie hat sich die ganze Sache ausgedacht. Aber ich bin es gewesen, ich allein. Ich bin darauf gekommen, ich habe die Karten geschrieben, ich habe sie ausgetragen, ich will meine Strafe! Sie nicht! Meine Frau nicht!«
»Sie hat gestanden …«
»Sie hat nichts gestanden! Ich will solche Lügen nicht mehr hören! Sie sollen mir meine Frau nicht schlechtmachen!«
Einen Augenblick standen sich die beiden gegenüber, der Mann mit dem scharfen Vogelkopf und dem harten Blick und der farblose, graue Kommissar mit dem semmelblonden Bart und den hellen Augen.
Dann senkte Escherich den Blick und sagte: »Ich rufe jetzt jemand herein, wir werden ein kleines Protokoll aufnehmen. Ich hoffe, Sie bleiben bei Ihrer Aussage?«
»Ich bleibe dabei.«
»Und Sie sind sich klar darüber, was Sie erwartet? Hohe Zuchthausstrafe, vielleicht der Tod?«
»Jawohl, ich weiß, was ich getan habe. Und ich hoffe, auch Sie wissen, was Sie tun, Herr Kommissar?«
»Was tue ich denn?«
»Sie arbeiten für einen Mörder, und Sie liefern dem Mörder stets neue Beute. Sie tun’s für Geld, vielleicht glauben Sie nicht mal an den Mann. Nein, Sie glauben bestimmt nicht an ihn. Bloß für Geld …«
Wieder standen sie sich schweigend gegenüber, und wieder senkte der Kommissar nach einer Weile überwunden den Blick.
»Ich gehe dann«, sagte er fast verlegen, »und hole einen Schreiber.«
Er ging.
Um Mitternacht sitzt Kommissar Escherich noch oder vielmehr schon wieder in seinem Dienstzimmer. Er hockt da ganz in sich zusammengesunken, aber so viel Alkohol er auch getrunken hat, die schreckliche Szene, die er hat mitmachen müssen, hat er nicht vergessen.
Diesmal hat sein hoher Vorgesetzter, der schwarze Scheißbock Prall, kein Kriegsverdienstkreuz für seinen so erfolgreichen, so tüchtigen, so lieben Kommissar gehabt, aber eine Einladung zu einer kleinen Siegesfeier hatte er doch. Da hatten sie zusammengesessen, sie hatten vielen scharfen Armagnac aus gar nicht kleinen Gläsern getrunken, sie hatten über den erwischten Klabautermann geprahlt, und unter allgemeinem Beifall hatte Kommissar Escherich das Protokoll mit dem Geständnis Quangels vorlesen müssen …
Mühsame, sorgfältige kriminalistische Arbeit vor die Schweine geworfen!
Aber dann, als sie alle so richtig fett angesoffen waren, hatten sie sich einen Extraspaß gemacht. Mit Flaschen und Gläsern ausgerüstet, waren sie in Quangels Zelle hinabgestiegen, auch der Kommissar hatte mitkommen müssen. Sie wollten sich diesen seltsamen Vogel doch einmal ansehen, diesen Hirnverbrannten, der die Frechheit gehabt hatte, gegen den geliebten Führer zu kämpfen!
Sie hatten Quangel gefunden unter seiner Decke auf der Pritsche, fest schlafend. Ein seltsames Gesicht, hatte Escherich gedacht, dem auch der Schlaf keine Entspannung schenkte, das immer gleich verschlossen und sorgenvoll aussah im Wachen und im Schlaf. Aber immerhin hatte der Mann fest geschlafen …
Natürlich hatten die ihn nicht schlafen lassen. Sie hatten ihn mit Püffen geweckt, sie hatten ihn von seiner Pritsche hochgejagt. Er hatte da vor diesen Leuten in ihren Uniformen in Schwarz und Silber in einem viel zu kurzen Hemd gestanden, einem Hemd, das nicht einmal ganz seine Blöße bedeckte, eine lächerliche Figur – wenn man den Kopf nicht ansah!
Und dann waren sie auf den Gedanken gekommen, den alten Klabautermann zu taufen, sie hatten ihm eine Flasche Schnaps über den Kopf gegossen. Der Obergruppenführer Prall hatte eine kleine, niedlich besoffene Rede über diesen Klabautermann gehalten, über dies Schwein, das bald gemetzelt würde, und am Schluss dieser Rede hatte er sein Schnapsglas auf Quangels Kopf zerschlagen.
Das war ein Signal für die anderen gewesen, alle hatten sie ihre Schnapsgläser auf dem Kopf des alten Mannes zerschlagen. Armagnac und Blut waren über sein Gesicht gelaufen. Aber während alles dies geschah, war es Escherich gewesen, als sähe zwischen den Bächen aus Blut und Schnaps Quangel ihn unverwandt an, und er meinte gradezu, ihn sprechen zu hören: Das ist also die gerechte Sache, für die du mordest! Das sind deine Henkersgesellen! So seid ihr. Du weißt sehr wohl, was du tust. Ich aber werde für die Verbrechen, die ich nicht begangen habe, sterben, und du wirst leben – so gerecht ist deine Sache!
Dann hatten sie entdeckt, dass Escherichs Glas noch heil war. Sie hatten es ihm befohlen, es auch auf dem Kopf Quangels zu zerschlagen. Ja, Prall hatte es ihm zwei Mal sehr scharf befehlen müssen – »Du weißt doch, Escherich, wie ich mit dir Schlitten fahre, wenn du nicht parierst?« –, und dann hatte also Escherich sein Glas auf Quangels Kopf zerschlagen. Viermal hatte er mit seiner zitternden Hand zuschlagen müssen, ehe das Glas zerbrach, und die ganze Zeit über hatte er den scharfen, höhnischen Blick Quangels auf sich gefühlt, der schweigend seine Entwürdigung miterlebte. Diese lächerliche Figur in zu kurzem Hemd, sie war stärker, würdevoller gewesen als all seine Quäler. Und bei jedem Schlag, den Kommissar Escherich verzweifelt und verängstigt geführt hatte, war es ihm gewesen, als schlage er gegen den Bestand seines eigenen Ichs, als rühre ihm eine Axt an die Wurzeln des Lebensbaums.
Dann war Otto Quangel plötzlich zusammengebrochen, und so hatten sie ihn da auf dem nackten Zellenboden liegengelassen, bewusstlos und blutend. Sie hatten auch der Wache verboten, sich um das Schwein zu kümmern, und waren wieder hinaufgegangen zum Weitersaufen, zum Weiterfeiern, als hätten sie wer weiß was für einen heldischen Sieg errungen.
Und nun sitzt Kommissar Escherich wieder in seinem Dienstzimmer am Schreibtisch. Ihm gegenüber an der Wand hängt noch immer die Karte mit den roten Fähnchen. Sein Körper ist völlig in sich zusammengesunken, aber er denkt noch klar.
Ja, die Karte ist erledigt. Morgen kann sie abgenommen werden. Und übermorgen werde ich eine neue Karte aufhängen und nach einem neuen Klabautermann jagen. Und wieder eine. Und noch eine. Was hat das alles für einen Sinn? Bin ich dazu auf dieser Welt? Es muss ja wohl so sein, aber wenn es so ist, verstehe ich nichts von dieser Welt, dann liegt in nichts Verstand. Dann ist es wirklich ganz gleich, was ich tue …
Sein Blut wird von mir gefordert werden … Wie er das sagte! Und sein Blut von mir! Nein, auch Enno Kluges Blut habe ich auf mir, dieser erbärmliche Schwächling, den ich geopfert habe, um diesen Mann einer besoffenen Horde auszuliefern. Der wird nicht wimmern wie der kleine Kerl auf dem Bootssteg, der wird anständig sterben …
Und ich? Wie steht es mit mir? Ein neuer Fall, und der tüchtige Escherich hat nicht so viel Erfolg, wie der Herr Obergruppenführer Prall erwartet, und ich wandere noch einmal in den Keller. Schließlich kommt der Tag, an dem ich hinuntergeschickt werde, um nicht wieder heraufgeholt zu werden. Lebe ich dazu, um dies zu erwarten? Nein, der Quangel hat recht, wenn er den Hitler einen Mörder nennt und mich den Lieferanten eines Mörders. Es ist mir immer gleich gewesen, wer am Ruder saß, warum dieser Krieg geführt wurde, wenn ich nur meinem gewohnten Geschäft nachgehen konnte, dem Menschenfang. Dann, wenn ich sie erst hatte, war mir gleichgültig, was aus ihnen wurde …
Aber jetzt ist es mir nicht gleichgültig. Ich bin dessen so überdrüssig, es ekelt mich an, diesen Burschen neue Beute zu liefern; seit ich diesen Quangel fing, ekelt es mich an. Wie er dastand und mich ansah. Blut und Schnaps liefen über sein Gesicht, er aber sah mich an! Das hast du getan, sagte sein Blick, du hast mich verraten! Ach, wäre es noch möglich, ich würde zehn Enno Kluges opfern, diesen einen Quangel zu retten, ich würde dieses ganze Haus opfern, ihn frei zu machen! Wäre es noch möglich, ich würde fortgehen von hier, ich würde etwas beginnen wie Otto Quangel, etwas besser Ausgedachtes, aber ich möchte kämpfen.
Doch es ist unmöglich, sie lassen mich nicht, sie nennen so etwas Fahnenflucht. Sie würden mich holen und wieder in den Bunker werfen. Und mein Fleisch schreit, wenn es gequält wird, ja, ich bin feige. Ich bin feige wie Enno Kluge, ich bin nicht mutig wie Otto Quangel. Wenn mich der Obergruppenführer Prall anschreit, so zittere ich und tue zitternd, was er mir befiehlt. Ich zerschlage mein Schnapsglas auf dem Kopf des einzigen anständigen Mannes, aber jeder Schlag ist eine Handvoll Erde auf meinen Sarg.
Langsam stand Kommissar Escherich auf. Ein hilfloses Lächeln lag auf seinem Gesicht. Er ging zur Wand, er lauschte. Es war jetzt, in der Stunde nach Mitternacht, still in dem großen Hause an der Prinz-Albrecht-Straße. Nur der Schritt der Wache auf dem Korridor, auf und ab, auf und ab …
Auch du weißt nicht, warum du so auf und ab rennst, dachte Escherich. Eines Tages wirst du begreifen, dass du dein Leben vertan hast …
Er griff nach der Karte, er riss sie von der Wand. Viele Fähnchen fielen, mit ihren Stecknadeln klappernd, zu Boden. Escherich zerknüllte die Karte und warf sie dazu.
»Aus!«, sagte er. »Zu Ende! Zu Ende der Fall Klabautermann!«
Er ging langsam zurück zu seinem Schreibtisch, zog eine Lade auf und nickte.
»Hier stehe ich, wahrscheinlich der einzige Mann, den Otto Quangel durch seine Karten bekehrt hat. Aber ich bin dir nichts nutze, Otto Quangel, ich kann dein Werk nicht fortsetzen. Ich bin zu feige dazu. Dein einziger Anhänger, Otto Quangel!«
Er zog rasch die Pistole hervor und schoss.
Dieses Mal hatte er nicht gezittert.
Der herbeistürzende Posten fand nur einen fast kopflosen Leichnam hinter dem Schreibtisch. Die Wände waren mit Blut und Hirn bespritzt, an einer Lampe hing, zerfetzt und schmierig, der semmelblonde Schnurrbart des Kommissars Escherich.
Der Obergruppenführer Prall tobte. »Fahnenflucht! Alle Zivilisten sind Schweine! Alles, was nicht Uniform trägt, gehört in den Bunker, hinter Stacheldraht! Aber warte, den Nachfolger von diesem Schwein, dem Escherich, den zwiebele ich von Anfang an so, dass er keinen einzigen Gedanken im Kopfe hat, nur Angst! Ich bin immer zu gutmütig gewesen, das ist mein Hauptfehler! Holt dieses Schwein, den Quangel, rauf! Er soll sich die Sauerei hier ansehen, er kann sie wegmachen!«
So verschaffte der einzige von Otto Quangel Bekehrte dem alten Werkmeister noch ein paar schwere Nachtstunden.
Es war vierzehn Tage nach der Verhaftung bei einem der ersten Verhöre von Anna Quangel, die wieder gesund geworden war, als sich Anna entschlüpfen ließ, dass ihr Sohn Otto einmal mit einer gewissen Trudel Baumann verlobt gewesen war. Zu jener Zeit hatte Anna es noch nicht erfasst, dass jede Namensnennung gefährlich war, gefährlich für den Genannten. Denn mit einer pedantischen Genauigkeit wurde der Bekannten- und Freundeskreis jedes Verhafteten nachgeprüft, jeder Spur wurde nachgegangen, damit »die Eiterbeule auch ganz ausgebrannt« werde.
Der Vernehmende, der Kommissar Laub, der Nachfolger Escherichs, ein kurzer, gedrungener Mann, der es liebte, seine knochigen Finger wie eine Peitsche dem Vernommenen ins Gesicht zu schlagen, war nach seiner Gewohnheit erst über diese Mitteilung, ohne von ihr Notiz zu nehmen, weggegangen. Er fragte Anna Quangel lange und tödlich ermüdend über die Freunde und Arbeitgeber des Sohnes aus, fragte Dinge, die sie nicht wissen konnte, aber wissen sollte, fragte und fragte, und dazwischen peitschte er ihr rasch einmal die Finger ins Gesicht.
Kommissar Laub war ein Meister in der Kunst solcher Vernehmungen, ohne Ablösung hielt er es zehn Stunden aus, so musste es die Vernommene auch aushalten. Anna Quangel schwankte auf ihrem Schemel vor Müdigkeit. Die kaum überstandene Krankheit, die Angst um das Schicksal Ottos, von dem sie nichts wieder gehört hatte, die Schmach, wie ein unaufmerksames Schulkind geschlagen zu werden, all dies machte sie zerstreut, unaufmerksam, und wieder schlug Kommissar Laub zu.
Anna Quangel ächzte leise und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
»Nehmen Sie die Hände runter!«, rief der Kommissar. »Sehen Sie mich an! Na, wird’s bald?«
Sie tat es, sie sah ihn an mit einem Blick, in dem Angst war. Aber nicht vor ihm, sondern Angst, sie könne schwach werden.
»Wann haben Sie diese sogenannte Braut Ihres Sohnes zum letzten Male gesehen?«
»Das ist sehr lange her. Ich weiß doch nicht. Schon seit wir die Karten schreiben. Über zwei Jahre … Oh, schlagen Sie nicht schon wieder! Denken Sie an Ihre eigene Mutter! Sie möchten auch nicht, dass Ihre Mutter geschlagen wird.«
Zwei, drei Schläge trafen sie kurz nacheinander.
»Meine Mutter ist kein hochverräterisches Aas wie Sie! Nennen Sie noch einmal meine Mutter, und ich werde Ihnen zeigen, wie ich schlagen kann! Wo hat dies Mädchen gewohnt?«
»Ich weiß doch nicht! Mein Mann hat mir mal gesagt, sie hat seitdem geheiratet! Sie wird sicher weggezogen sein.«
»So, Ihr Mann hat sie also gesehen? Wann war das?«
»Ich weiß nicht mehr! Da schrieben wir schon die Karten.«
»Und sie hat mitgemacht, was? Hat dabei geholfen?«
»Nein! Nein!«, rief Frau Quangel. Mit Schrecken sah sie, was sie angerichtet hatte. »Mein Mann«, sagte sie eilig, »hat die Trudel bloß auf der Straße getroffen. Da hat sie ihm erzählt, dass sie geheiratet hat und nicht mehr in die Fabrik geht.«
»Na – und weiter? In welche Fabrik ist sie denn gegangen?«
Frau Quangel nannte die Adresse der Uniformfabrik.
»Und weiter?«
»Das ist alles. Das ist wirklich alles, was ich weiß. Bestimmt, Herr Kommissar!«
»Finden Sie das nicht ein bisschen komisch, dass die Braut vom Sohn nicht einmal mehr zu den Schwiegereltern kommt, nicht mal nach dem Tode des Bräutigams?«
»Aber mein Mann war doch so! Wir haben schon nie Verkehr gehabt, und seit wir die Karten schrieben, hat er überhaupt alles abgebrochen.«
»Da lügen Sie schon wieder! Mit den Heffkes haben Sie erst beim Kartenschreiben den Verkehr angefangen!«
»Ja, das ist wahr! Das hatte ich vergessen. Aber Otto war es auch gar nicht recht, er hat’s nur erlaubt, weil es mein Bruder war. Und wie hat er immer auf die Verwandtschaft geschimpft!« Sie sah den Kommissar traurig an. Sie sagte schüchtern: »Darf ich jetzt auch was fragen, Herr Kommissar?«
Kommissar Laub knurrte: »Fragen Sie nur! Wer viel fragt, kriegt viel Antwort.«
»Stimmt es …« Sie unterbrach sich. »Ich glaube, ich habe meine Schwägerin gestern Morgen unten auf dem Flur gesehen … Stimmt es, dass Heffkes auch verhaftet sind?«
»Das lügen Sie wieder!« Ein scharfer Schlag. Und noch einer. »Die Frau Heffke, die ist ganz woanders. Die können Sie gar nicht gesehen haben. Das hat Ihnen eine verpfiffen. Wer hat Ihnen das verpfiffen?«
Aber Frau Quangel schüttelte den Kopf. »Nein, keiner hat’s. Ich hab die Schwägerin von Weitem gesehen. Ich war nicht mal sicher, dass sie’s war.« Sie seufzte. »Nun sitzen die Heffkes also auch und haben gar nichts getan und von nichts gewusst. Die armen Menschen!«
»Die armen Menschen!«, höhnte der Kommissar Laub. »Von nischt nischt gewusst! Das sagt ihr alle! Aber ihr seid alle Verbrecher, und so wahr ich der Kommissar Laub bin, ich leire euch die Gedärme aus dem Leib, bis ihr die Wahrheit sagt! Wer liegt bei Ihnen mit auf der Zelle?«
»Ich weiß nicht, wie die Frau heißt. Ich sage einfach Berta zu ihr.«
»Wie lange liegt die Berta bei Ihnen auf der Zelle?«
»Seit gestern Abend.«
»Also die hat’s Ihnen verpfiffen, das mit den Heffkes. Gestehen Sie es nur ein, Frau Quangel, sonst hole ich die Berta rauf und schlage sie in Ihrem Beisein so lange, bis sie gesteht.«
Frau Anna Quangel schüttelte wieder den Kopf. »Ob ich nun ja oder nein sage, Herr Kommissar«, sagte sie, »Sie holen die Berta doch rauf und schlagen sie. Ich kann nur sagen, ich habe die Frau Heffke unten auf dem Flur gesehen …«
Kommissar Laub drehte sich rasch um und ließ der Frau Anna Quangel einen knallenden Furz ins Gesicht fahren. Dann drehte er sich wieder um und sah ihr höhnisch grinsend ins Gesicht. »Das riechen Sie man auf«, sagt er, »von der Sorte habe ich noch mehr, wenn sie zu schlau sind!« Und plötzlich schreiend: »Mist seid ihr! Mist seid ihr alle! Scheißdreck seid ihr alle! Und ich ruhe nicht eher, bis ihr als Mist unter der Erde liegt! Alle müsst ihr hin werden! Alle! Ordonnanz, bringen Sie die Berta Kuppke herauf!«
Eine Stunde verbrachte er damit, die beiden Frauen zu ängstigen und zu schlagen, trotzdem Frau Berta Kuppke sofort zugab, der Frau Quangel von Frau Heffke erzählt zu haben. Sie hatte bisher mit Frau Heffke auf einer Zelle gelegen. Aber das genügte dem Kommissar Laub nicht. Er wollte genau jedes Wort wissen, was zwischen den beiden gesprochen war, und sie hatten einander doch nur ihr Leid geklagt, wie es Frauen gerne tun. Er aber witterte überall Verschwörung und Hochverrat und ließ nicht ab mit Schlagen und Fragen.
Schließlich war die heulende Kuppke in den Keller abgeschoben worden und Anna Quangel wieder das alleinige Opfer des Kommissars Laub. Sie war jetzt so müde, dass sie seine Stimme nur noch wie aus weiter Ferne hörte, seine Gestalt verschwamm vor ihren Blicken, und die Schläge schmerzten sie nicht mehr.
»Was ist also vorgefallen, dass die sogenannte Braut Ihres Sohnes nicht mehr zu Ihnen gekommen ist?«
»Nichts ist vorgefallen. Mein Mann mochte keine Besuche.«
»Sie haben doch gestanden, dass er mit dem Besuch der Heffkes einverstanden war.«
»Die Heffkes waren eine Ausnahme, weil der Ulrich mein Bruder ist.«
»Und warum ist die Trudel nicht mehr ins Haus gekommen?«
»Weil mein Mann es nicht wollte.«
»Wann hatte er es ihr denn gesagt?«
»Ich weiß doch nicht! Herr Kommissar, ich kann nicht mehr. Lassen Sie mir eine halbe Stunde Ruhe. Eine Viertelstunde!«
»Erst wenn du’s gesagt hast. Wann hat Ihr Mann dem Mädchen das Haus verboten?«
»Wie mein Sohn gefallen war.«
»Na also! Und wo ist das geschehen?«
»Bei uns in der Wohnung.«
»Und was hatte er als Grund gesagt?«
»Weil er keinen Verkehr mehr will. Herr Kommissar, ich kann wirklich nicht mehr. Nur zehn Minuten!«
»Na schön. In zehn Minuten werden wir eine Pause machen. Was hat denn Ihr Mann als Grund gesagt, dass die Trudel nicht mehr kommen soll?«
»Weil er keinen Verkehr mehr haben wollte. Da hatten wir das mit den Postkarten doch schon vor.«
»Da hat er ihr also als Grund gesagt, dass er das mit den Postkarten vorhat?«
»Nein, darüber hat er nie mit einem Menschen gesprochen.«
»Was hat er ihr denn als Grund gesagt?«
»Dass er keinen Verkehr mehr will. Oh, Herr Kommissar!«
»Wenn Sie mir den wirklichen Grund sagen, mache ich für heute sofort Schluss!«
»Aber das ist der wirkliche Grund!«
»Nein, das ist er nicht! Ich sehe doch, dass Sie lügen. Wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen, so vernehme ich Sie noch zehn Stunden. Was hat er also gesagt? Wiederholen Sie mir die Worte, die er zu der Trudel Baumann gesagt hat.«
»Die weiß ich nicht mehr. Er war so wütend.«
»Warum war er denn so wütend?«
»Weil ich die Trudel Baumann bei mir habe schlafen lassen.«
»Aber er hat’s ihr doch erst hinterher verboten, oder hat er sie gleich weggeschickt?«
»Nein, erst am Morgen.«
»Und am Morgen hat er es ihr verboten?«
»Ja.«
»Warum war er denn so wütend?«
Frau Anna Quangel gab sich einen Stoß. »Ich will es Ihnen sagen, Herr Kommissar. Ich tue keinem einen Schaden mehr damit. Ich habe auch die alte Jüdin, die Rosenthal, die sich nachher aus einem Fenster totgesprungen hat, in der Nacht heimlich bei mir versteckt gehabt. Darüber war er so wütend, und da hat er die Trudel gleich mit rausgeschmissen.«
»Warum hat sich denn die Rosenthal bei Ihnen versteckt?«
»Weil sie Angst gehabt hat so allein in ihrer Wohnung. Die hat über uns gewohnt. Der haben sie den Mann weggeholt. Da hat sie Angst gehabt. Herr Kommissar, Sie haben mir versprochen …«
»Gleich. Gleich sind wir so weit. Also die Trudel hat gewusst, dass Sie eine Jüdin bei sich versteckt hatten?«
»Aber das war doch nicht verboten.«
»Natürlich war das verboten! Ein anständiger Arier nimmt keine Judensau auf, und ein anständiges Mädchen geht hin und meldet so was der Polizei. Was hat denn die Trudel dazu gesagt, dass die Jüdsche in eurer Wohnung war?«
»Herr Kommissar, jetzt sage ich nichts mehr aus. Jedes Wort verdrehen Sie mir. Die Trudel hat nichts verbrochen, sie hat von nichts was gewusst!«
»Aber dass eine Jüdin bei euch geschlafen hat, das hat sie doch gewusst!«
»Das war nichts Schlechtes!«
»Da denken wir anders darüber. Morgen werde ich mir mal die Trudel vorknöpfen.«
»Oh, lieber Gott, was habe ich da wieder angerichtet!«, weinte Frau Quangel los. »Nun habe ich auch die Trudel ins Unglück gestürzt. Herr Kommissar, der Trudel dürfen Sie nichts tun, die ist jetzt in anderen Umständen!«
»Ach nee, das wissen Sie plötzlich doch, wo Sie die Trudel angeblich zwei Jahre nicht gesehen haben! Woher wissen Sie denn das?«
»Aber das habe ich Ihnen doch gesagt, Herr Kommissar, dass mein Mann sie noch mal auf der Straße getroffen hat.«
»Wann war denn das?«
»Das wird ein paar Wochen her sein. Herr Kommissar, Sie haben mir eine kleine Pause versprochen. Nur eine kleine Pause, bitte. Ich kann wirklich nicht mehr.«
»Nur noch einen Augenblick! Gleich sind wir so weit. Wer hat denn angefangen zu sprechen, die Trudel oder Ihr Mann, wo sie doch beide miteinander verkracht waren?«
»Sie waren doch nicht verkracht, Herr Kommissar.«
»Wo ihr dein Mann das Haus verboten hat!«
»Das hat die Trudel ihm doch nicht übelgenommen, die kennt doch meinen Mann!«
»Wo haben sie sich denn getroffen?«
»Ich glaube, in der Kleinen Alexanderstraße.«
»Was hat denn dein Mann in der Kleinen Alexanderstraße gemacht? Sie haben doch gesagt, er ist immer nur zur Fabrik und zurückgegangen.«
»Das ist auch so.«
»Und was hat er in der Kleinen Alexanderstraße zu tun? Wohl ’ne Postkarte wegbringen, was, Frau Quangel?«
»Nein, nein!«, rief sie angstvoll und erbleichte plötzlich.
»Die Postkarten habe ich immer verteilt! Immer ich allein, er nie!«
»Warum sind Sie denn eben so blass geworden, Frau Quangel?«
»Ich bin doch nicht blass geworden. Doch, ich bin. Weil mir nämlich schlecht ist. Sie wollten doch eine Pause machen, Herr Kommissar!«
»Gleich, sobald wir das klar haben. Also, Ihr Mann hat eine Postkarte weggebracht und hat dabei die Trudel Baumann getroffen? Was hat die denn zu den Karten gesagt?«
»Aber sie hat doch gar nichts davon gewusst!«
»Hat Ihr Mann denn, als er die Trudel sah, die Karte noch in der Tasche gehabt, oder hatte er sie schon abgelegt?«
»Die hatte er schon abgelegt.«
»Sehen Sie, Frau Quangel, jetzt kommen wir der Sache schon näher. Nun sagen Sie mir nur noch, was die Trudel Baumann zu der Karte gesagt hat, und wir machen für heute Schluss.«
»Aber sie kann doch nichts gesagt haben, er hatte die Karte doch schon vorher abgelegt.«
»Überlegen Sie sich das man noch mal! Ich sehe Ihnen doch an, dass Sie lügen. Wenn Sie dabei bleiben, werden Sie morgen früh noch hier sitzen. Warum wollen Sie sich denn unnötig so quälen? Ich sage es ja morgen doch der Trudel Baumann auf den Kopf zu, dass sie von den Postkarten gewusst hat, und die wird’s auch gleich zugeben. Warum wollen Sie sich also Schwierigkeiten machen, Frau Quangel? Sie werden auch froh sein, wenn Sie auf Ihre Pritsche kriechen dürfen. Also, wie steht’s, Frau Quangel? Was hat die Trudel Baumann zu den Postkarten gesagt?«
»Nein! Nein! Nein!«, schrie Frau Quangel, verzweifelt aufspringend. »Ich sage kein Wort mehr! Ich verrate niemanden! Sie können sagen, was Sie wollen, Sie können mich totschlagen: ich rede nichts mehr!«
»Setzen Sie sich nur ruhig wieder hin«, sagte der Kommissar Laub und versetzte der Verzweifelten ein paar Schläge. »Wann Sie aufstehen dürfen, bestimme ich. Und wann das Verhör zu Ende ist, das bestimme ich auch. Jetzt wollen wir erst mal die Sache mit der Trudel Baumann zu Ende bequatschen. Nachdem Sie mir eben gestanden haben, dass sie Hochverrat begangen hat …«
»Das habe ich nicht gestanden!«, rief die gequälte, verzweifelte Frau.
»Sie haben gesagt, Sie wollen die Trudel nicht verraten«, sagte der Kommissar gleichmütig. »Und nun lass ich nicht eher nach, bis Sie mir gesagt haben, was es da zu verraten gibt.«
»Nie sage ich das, nie!«
»Na also! Sehen Sie, Frau Quangel, Sie sind dumm. Sie müssen sich doch selbst sagen, dass ich das, was ich wissen will, morgen in fünf Minuten der Trudel Baumann glatt und bequem aus der Nase ziehe. So ’ne schwangere Frau, die hält doch solch Verhör nicht lange aus. Wenn ich der ein paar runterhaue …«