Pastor Friedrich Lorenz, der unermüdlich im Gefängnis seinen Dienst verrichtete, war ein Mann in den besten Jahren, das heißt um die Vierzig herum, sehr lang, schmalbrüstig, ewig hüstelnd, ein von der Tuberkulose Gezeichneter, der seine Krankheit ignorierte, weil die Arbeit ihm für die Pflege und Heilung seines Körpers keine Zeit ließ. Sein blasses Gesicht mit dunklen Augen hinter Brillengläsern und der schmalrückigen, feinen Nase hatte einen Backenbart, aber die Mundpartie war stets tadellos rasiert und zeigte einen schmallippigen, blassen, großen Mund und ein festes rundes Kinn.
Dies war der Mann, auf den Hunderte von Gefangenen jeden Tag warteten, der einzige Freund, den sie in diesem Hause wussten, der noch eine Brücke zur Außenwelt war, dem sie ihre Sorgen und Nöte vortrugen und der half, soviel in seiner Macht stand, jedenfalls bei Weitem mehr, als ihm gestattet war. Unermüdlich ging er von Zelle zu Zelle, nie abgestumpft gegen das Leiden der anderen, stets sein eigenes Leid vergessend, völlig furchtlos, was die eigene Person anging. Ein wahrer Seelsorger, der nie nach dem Bekenntnis, nach dem Glauben der Hilfesuchenden fragte, der mit ihnen betete, wenn es erbeten wurde, und der sonst nur der Bruder Mensch war.
Der Pastor Friedrich Lorenz steht vor dem Pult des Gefängnisdirektors, Schweißtropfen stehen auf seiner Stirn, zwei rote Flecke zeichnen sich auf seinen Backen ab, aber er sagt ganz ruhig: »Das ist der siebente durch Vernachlässigung hervorgerufene Todesfall in den letzten zwei Wochen.«
»Auf dem Totenschein steht Lungenentzündung«, widerspricht der Direktor, sieht aber dabei von seiner Schreiberei nicht auf.
»Der Arzt tut seine Pflicht nicht«, sagt der Pastor hartnäckig und klopft dabei sanft mit dem Knöchel auf den Schreibtisch, als begehre er Einlass bei dem Direktor. »Es tut mir leid, sagen zu müssen, der Arzt trinkt zu viel. Seine Patienten vernachlässigt er.«
»Oh, der Doktor ist schon ganz in Ordnung«, antwortet der Direktor flüchtig und schreibt weiter. Er gewährt dem Pastor keinen Einlass. »Ich wollte, Sie wären ebenso in Ordnung, Herr Pastor. Wie ist es, haben Sie Nummer 397 einen Kassiber zugesteckt oder nicht?«
Jetzt endlich begegnen sich der beiden Blicke, der des rotgesichtigen Direktors mit seinem Gesicht voller Schmisse und der Blick des von seinem Fieber verbrannten Geistlichen.
»Es ist der siebente Todesfall in zwei Wochen«, sagt Pastor Lorenz beharrlich. »Das Gefängnis braucht einen neuen Arzt.«
»Ich fragte Sie eben etwas, Herr Pastor. Würden Sie mir gütigst antworten?«
»Jawohl, ich habe Nummer 397 einen Brief übergeben, aber keinen Kassiber. Es war ein Brief seiner Frau, der ihm meldet, dass der dritte Sohn dieses Mannes nun doch nicht gefallen, sondern in Kriegsgefangenschaft geraten ist. Zwei Söhne hat er schon verloren, den dritten glaubte er auch tot.«
»Sie finden stets einen Grund, die Gefängnisordnung zu übertreten, Herr Pastor. Aber ich sehe mir dieses Spiel nicht lange mehr an.«
»Ich bitte um Ablösung des Arztes«, wiederholt der Pastor hartnäckig und klopft wieder leise auf den Schreibtisch.
»Ach was!«, schreit der rotgesichtige Direktor plötzlich los. »Belästigen Sie mich nicht mehr mit Ihrem blöden Geschwätz! Der Doktor ist gut, er bleibt! Und Sie, sehen Sie zu, dass Sie die Gefängnisordnung befolgen, sonst passiert Ihnen noch was!«
»Was kann mir passieren?«, fragte der Pastor. »Ich kann sterben. Und ich werde sterben. Sehr bald. Ich bitte nochmals um die Ablösung des Arztes.«
»Sie sind ein Narr, Pastor«, sagte der Direktor kalt. »Ich nehme an, Ihre Schwindsucht hat Sie ein bisschen verrückt gemacht. Wenn Sie nicht so ein harmloser Trottel wären – eben ein Narr! –, wären Sie längst gehängt. Aber ich habe Mitleid mit Ihnen.«
»Wenden Sie Ihr Mitleid lieber Ihren Gefangenen zu«, antwortete der Pastor ebenso kalt. »Und sorgen Sie für einen pflichtbewussten Arzt.«
»Sie machen die Tür jetzt am besten von außen zu, Herr Pastor.«
»Ich habe Ihr Versprechen, dass Sie für einen anderen Arzt sorgen?«
»Nein, nein, zum Donnerwetter, nein! Scheren Sie sich zum Henker!«
Jetzt war der Direktor doch in Wut geraten, er war aufgesprungen hinter seinem Schreibtisch und hatte zwei Schritte auf den Pastor zu gemacht. »Soll ich Sie mit Körpergewalt rausschmeißen, wollen Sie das?«
»Es würde nicht gut für die Gefangenen draußen in der Schreibstube aussehen. Es würde das bisschen Ansehen, das die Staatsautorität bei ihnen noch genießt, noch weiter erschüttern. Aber immerhin, wie Sie wollen, Herr Direktor!«
»Narr!«, sagte der Direktor, war aber durch den Hinweis des Pastors so weit ernüchtert, dass er sich wieder auf seinen Stuhl setzte. »Gehen Sie jetzt. Ich habe zu arbeiten.«
»Die dringendste Arbeit ist die Bestellung eines neuen Arztes.«
»Glauben Sie, durch Ihre Hartnäckigkeit etwas zu erreichen? Gerade das Gegenteil erreichen Sie! Der Doktor bleibt nun erst recht!«
»Ich erinnere mich«, sagte der Pastor, »eines Tages, da Sie selbst mit diesem Arzt nicht ganz zufrieden waren. Es war Nacht, es stürmte. Sie hatten um andere Ärzte geschickt und telefoniert, die nicht kamen. Ihr sechsjähriger Berthold hatte eine Vereiterung des Mittelohrs, er wimmerte vor Schmerzen. Es bestand Lebensgefahr. Ich holte auf Ihre Bitten den Gefängnisarzt. Er war betrunken. Beim Anblick des sterbenden Kindes verlor er den Rest seiner Besinnung; er verwies auf seine zitternden Hände, die jeden chirurgischen Eingriff unmöglich machten, und brach in Tränen aus.«
»Der betrunkene Schuft!«, murmelte der Direktor, der plötzlich finster geworden war.
»Ihr Berthold ist gerettet worden damals, durch einen anderen Arzt. Aber was einmal geschah, kann sich wiederholen. Sie rühmen sich, kein Christ zu sein, Herr Direktor, trotzdem sage ich Ihnen: Gott lässt seiner nicht spotten!«
Der Gefängnisdirektor sagte mit Überwindung, ohne hochzusehen: »Also gehen Sie jetzt, Herr Pastor.«
»Und der Arzt?«
»Ich will sehen, was sich tun lässt.«
»Ich danke Ihnen, Herr Direktor. Viele werden Ihnen danken.«
Der Geistliche ging durch das Gefängnis, in seinem abgetragenen schwarzen Rock, dessen Ellenbogen grau schimmerten, mit seinen ausgebeutelten schwarzen Hosen, den dicksohligen, gefetteten Schuhen und der verrutschten schwarzen Binde, eine skurrile Figur. Manche von den Wärtern grüßten ihn, andere wandten sich ostentativ bei seinem Nahen um und spähten ihm dann argwöhnisch nach, sobald er vorüber war. Aber alle auf den Gängen beschäftigten Gefangenen hatten einen Blick für ihn (da sie ihn nicht grüßen durften), einen Blick voller Dankbarkeit.
Der Geistliche geht durch viele Eisentüren, über eiserne Treppen, sich am eisernen Geländer festhaltend. Aus einer Zelle hört er Weinen, er bleibt einen Augenblick stehen, schüttelt dann aber den Kopf und geht eilig weiter. Er kommt durch einen eisernen Kellergang, rechts und links gähnen die offenen Türen der Dunkelzellen, der Strafzellen, vor ihm brennt in einem Raume Licht. Der Pastor bleibt stehen und sieht hinein.
In dem hässlichen, schmutzigen Raum sitzt an einem Tisch ein Mann mit einem grauen, finsteren Gesicht und starrt mit fischigen Augen auf sieben Männer, die, erbärmlich vor Kälte zitternd, splitternackt vor ihm stehen, unter der Aufsicht von zwei Wachtmeistern.
»Na, ihr meine Hübschen!«, grölt der Mann. »Was wackelt ihr denn so? Ein bisschen kalt, wie? Oh, nicht doch, was Kälte ist, das werdet ihr erst erleben, wenn ihr im Bunker sitzt, zwischen Eisen und Zement, bei Wasser und Brot …«
Er unterbricht sich. Er hat die schweigende, beobachtende Gestalt in der Tür gesehen.
»Hauptwachtmeister«, befiehlt er mürrisch. »Führen Sie die Leute ab! Alle gesund und dunkelarrestfähig. Hier haben Sie den Wisch!«
Er hat seinen Namen unter eine Liste gesetzt und gibt sie dem Beamten.
Die Gefangenen gehen an dem Pastor vorüber, nicht ohne einen erbarmungswürdigen Blick auf ihn zu werfen, in dem doch schon eine leise Hoffnung glimmt.
Der Pastor wartet, bis der Letzte von ihnen verschwunden ist, dann erst tritt er ganz in den Raum und sagt leise: »Also 352 ist nun auch tot. Und ich hatte Sie doch gebeten …«
»Was kann ich machen, Pastor? Ich selbst habe heute zwei Stunden bei dem Manne gesessen und ihm Umschläge gemacht.«
»Dann muss ich geschlafen haben. Ich glaubte bisher, ich hätte die ganze Nacht bei 352 gesessen. Und es war auch mit seiner Lunge nichts, Herr Doktor, 357 hatte eine Lungenentzündung. Der tote Hergesell auf 352 hatte einen Schädelbruch.«
»Sie sollten an meiner Stelle hier Arzt sein«, sagte der schwammige Mann spöttisch. »Ich kann ja den Seelsorger machen.«
»Ich fürchte nur, Sie würden einen noch schlechteren Seelsorger abgeben als Arzt.«
Der Doktor lachte. »Wenn Sie frech werden, Pfäfflein, liebe ich Sie. Darf ich nicht einmal Ihre Lunge untersuchen?«
Der Pastor sagte unbeirrt: »Nein, das dürfen Sie nicht, das wollen wir lieber einem anderen Arzt überlassen.«
»Aber auch ohne Untersuchung kann ich Ihnen mitteilen, dass Sie es kein Vierteljahr mehr machen werden«, fuhr der Arzt boshaft fort. »Ich weiß, Sie werfen schon seit Mai Blut aus – nein, es wird nicht mehr lange dauern bis zum ersten Blutsturz.«
Der Pastor war bei dieser grausamen Eröffnung vielleicht einen Schatten blasser geworden, aber seine Stimme schwankte nicht, als er sagte: »Und wie viel Zeit werden die Leute, die Sie eben in Dunkelarrest haben abführen lassen, bis zu ihrem ersten Blutsturz noch haben, Herr Medizinalrat?«
»Die Leute sind sämtlich gesund und dunkelarrestfähig – laut ärztlichem Befund.«
»Freilich sind sie gar nicht erst untersucht worden.«
»Wollen Sie meine Amtsführung kontrollieren? Ich warne Sie! Ich weiß mehr von Ihnen, als Sie glauben!«
»Und mit meinem ersten Blutsturz wird Ihr Wissen wertlos! Übrigens habe ich ihn schon hinter mir …«
»Was? Was haben Sie hinter sich?!«
»Meinen ersten Blutsturz – vor drei oder vier Tagen.«
Der Arzt stand schwerfällig auf. »Also kommen Sie mit mir, Pfäffchen, ich werde Sie oben in meiner Bude untersuchen. Ich werde erreichen, dass Sie sofort Urlaub bekommen. Wir werden einen Antrag machen, dass Sie in die Schweiz dürfen, und bis der bewilligt ist, schicke ich Sie nach Thüringen.«
Der Pastor, nach dessen Arm der Halbtrunkene gegriffen hatte, stand unbeweglich. »Und was wird unterdes mit den Männern im Dunkelarrest? Zwei von ihnen sind bestimmt nicht fähig, die Nässe, die Kälte und den Hunger dort zu ertragen, und allen sieben würde es dauernden Schaden tun.«
Der Arzt antwortete: »Sechzig Prozent der Leute in diesem Hause werden hingerichtet. Ich schätze, dass mindestens fünfunddreißig Prozent der übrigen zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt werden. Was kommt es also darauf an, ob sie ein Vierteljahr früher oder später sterben?«
»Da Sie so denken, haben Sie kein Recht mehr, sich hier Arzt zu nennen. Treten Sie von Ihrem Amt zurück!«
»Der nach mir kommt, wird auch nicht anders sein. Warum also ändern?« Der Medizinalrat lachte. »Kommen Sie, Pastor, lassen Sie sich untersuchen. Sie wissen doch, ich habe eine Schwäche für Sie, trotzdem Sie ständig gegen mich wühlen und hetzen. Sie sind so ein prachtvoller Don Quichotte!«
»Ich habe eben auch gegen Sie gewühlt und gehetzt. Ich habe beim Direktor Ihre Ablösung beantragt und eine Dreiviertelzusage bekommen.«
Der Arzt fing an zu lachen. Er klopfte dem Pastor auf die Schulter und rief: »Aber das ist ja prächtig von Ihnen, Pfäfflein, da muss ich Ihnen ja direkt dankbar sein. Denn wenn ich abgelöst werde, falle ich bestimmt die Treppe hinauf, werde Obermedizinalrat und brauche gar nichts mehr zu tun. Meinen innigsten Dank, Pfäfflein!«
»Zeigen Sie ihn dadurch, dass Sie den Kraus und den kleinen Wendt aus dem Dunkelarrest holen. Sie überstehen ihn nicht lebend. Wir haben in den letzten beiden Wochen schon sieben Todesfälle durch Ihre Nachlässigkeit gehabt.«
»Sie Schmeichler! Aber ich kann Ihnen nun mal keinen Korb geben. Ich werde die beiden heute Abend rausholen. Jetzt gleich, nachdem ich eben meine Unterschrift gegeben habe, würde es doch etwas zu kompromittierend für mich aussehen, oder was meinen Sie, Pastor?«
Die Verlegung in das Untersuchungsgefängnis hatte Trudel Hergesell von Anna Quangel getrennt. Es wurde Trudel schwer, die »Mutter« entbehren zu müssen. Sie hatte längst vergessen, dass Anna der Grund ihrer Verhaftung gewesen war, nein, sie hatte es nicht vergessen, aber sie hatte es verziehen. Mehr noch, sie hatte eingesehen, dass es eigentlich auch nichts zu verzeihen gab. In diesen Verhören war niemand seiner ganz sicher, die gerissenen Kommissare konnten eine harmlose Erwähnung zu einer Schlinge machen, in der man sich rettungslos fing.
Nun war Trudel ohne die Mutter, sie hatte niemanden mehr, mit dem sie sprechen konnte. Von dem Glück, das sie einmal besessen, von der Sorge um Karli, die sie jetzt ganz erfüllte, musste sie schweigen. Ihre neue Zellengenossin war ein ältliches, gelbes Frauenzimmer – die beiden hatten sich vom ersten Augenblick gehasst, und immer hatte dieses Weib mit den Wärterinnen und Aufseherinnen zu tuscheln. War der Pastor in der Zelle, entging kein Wort ihrer Aufmerksamkeit.
Durch den Pastor hatte Trudel freilich doch etwas über ihren Karli erfahren. Frau Hänsel, ihre Zellengenossin, war gerade mal wieder vorne auf der Verwaltung, sicher, um irgendeinen Menschen durch ihre Klatschereien ins Unglück zu stürzen. Der Pastor hatte Trudel erzählt, dass ihr Mann mit ihr im gleichen Gefängnis sei, dass er aber krank liege, meist ohne klare Besinnung – immerhin könne er ihr aber einen Gruß von Karli ausrichten.
Seitdem lebte Trudel nur in der Hoffnung auf des Pfarrers Besuche. Wenn auch die Hänsel dabei war, immer brachte es der Geistliche fertig, ihr eine Nachricht zuzuschanzen. Oft saßen sie dabei unter dem Fenster, die Schemel eng aneinandergerückt, und der Pastor Lorenz las ihr ein Kapitel aus dem Neuen Testament vor, während die Hänsel meist an der anderen Zellenwand stand, den Blick aufmerksam auf die beiden gerichtet.
Für Trudel war die Bibel etwas ganz Neues. Sie war religionslos durch die Hitlerschulen gegangen, und sie hatte nie ein religiöses Bedürfnis gespürt. Gott war für sie kein Begriff, Gott war für sie nur ein Wort in Ausrufen wie: »Ach, du lieber Gott!« Man konnte ebenso gut »Ach, du lieber Himmel!«, sagen – es machte keinen Unterschied.
Auch jetzt, als sie aus dem Evangelium Matthäi vom Leben Christi erfuhr, sagte sie dem Pastor, sie könne sich darunter, dass er »Gottes Sohn« sei, nichts vorstellen. Aber der Pastor Lorenz hatte dazu nur sanft gelächelt und gemeint, das schade jetzt nichts. Sie solle nur darauf achten, wie dieser Jesus Christus auf der Erde gelebt habe, wie er die Menschen geliebt habe, auch seine Feinde. Die »Wunder« solle sie nehmen, wie sie wolle, als schöne Märchen, aber sie solle doch erfahren, wie einer auf dieser Erde gelebt habe, sodass seine Spur noch nach fast zweitausend Jahren unvergänglich strahle, ewiges Abbild dessen, dass die Liebe stärker sei als der Hass.
Trudel Hergesell, die ebenso kräftig hassen wie lieben konnte (und die beim Empfang dieser Lehre die Frau Hänsel in drei Metern Entfernung aus tiefstem Herzen hasste), die Trudel Hergesell hatte sich zuerst gegen eine solche Lehre aufgelehnt. Sie kam ihr gar zu weichlich vor. So war es nicht Jesus Christus, der ihr Herz empfänglicher machte, sondern sein Pastor Friedrich Lorenz. Wenn sie diesen Mann betrachtete, dessen schwere Krankheit niemand übersehen konnte, wenn sie erlebte, dass er an ihren Sorgen teilhatte, als seien es seine eigenen, dass er nie an sich selbst dachte, wenn sie seinen Mut erkannte, der ihr beim Lesen einen Zettel in die Hand spielte, auf dem eine Botschaft über Karli stand, und wenn sie ihn dann mit der Angeberin Hänsel genauso freundlich-gütig sprechen hörte wie mit ihr selbst, mit dieser Frau, von der er doch wusste, sie war zu jeder Minute fähig, ihn zu verraten, ihn dem Henker auszuliefern, so empfand sie etwas wie Glück, einen tiefen Frieden, der von diesem Manne ausging, der nicht hassen, sondern nur lieben wollte, auch noch den schlechtesten Menschen lieben.
Dieses neue Gefühl bewirkte nun freilich nicht in ihr, dass nun die Trudel Hergesell milder zur Hänsel geworden wäre, aber sie wurde ihr vielleicht gleichgültiger, der Hass war ihr nicht mehr so wichtig. Sie konnte manchmal auf ihren Wanderungen durch die Zelle plötzlich vor der Hänsel stehen bleiben und sie fragen: »Warum machen Sie das eigentlich? Warum verklatschen Sie jeden? Hoffen Sie eine geringere Strafe zu bekommen?«
Die Hänsel wendete bei einer solchen Ansprache den Blick ihrer gelben, bösen Augen nicht von Trudel ab. Entweder antwortete sie gar nichts, oder sie sagte: »Denken Sie denn, ich habe nicht gesehen, wie Sie Ihre Brust gegen den Arm vom Pastor gedrückt haben? So ’ne Gemeinheit, einen halbtoten Mann noch verführen zu wollen! Aber warte, ich erwisch euch beide noch mal! Ich erwisch euch!«
Bei was die Hänsel den Pastor und die Trudel Hergesell eigentlich erwischen wollte, blieb unklar. Trudel hatte für solche Schmähungen auch nur ein kurzes, spöttisches Auflachen und nahm dann wortlos ihre endlose Zellenwanderung wieder auf, immer mit dem Gedanken an Karli beschäftigt. Es war nicht zu verkennen, dass die Nachrichten über ihn stets schlechter wurden, so vorsichtig und schonend sie der Pastor auch abfasste. Wenn es etwa hieß, dass nichts Neues vorlag, da sein Zustand unverändert sei, so bedeutete das, dass Karli ihr keinen Gruß bestellt hatte, was wieder so zu verstehen war, dass er besinnungslos lag. Denn der Pastor log nicht, das hatte Trudel auch schon gelernt, er bestellte keinen Gruß, wenn ihm keiner aufgetragen war. Er verschmähte jeden billigen Trost, der sich eines Tages doch als Lüge entpuppen musste.
Aber auch durch die Vernehmungen durch den Untersuchungsrichter wusste Trudel, dass es schlimm mit ihrem Manne stand. Nie wurde auf eine neuere Aussage von ihm Bezug genommen, über alles sollte sie Auskunft geben, und sie wusste doch wirklich nichts über den Koffer des elenden Grigoleit, der sie beide – willentlich? – ins Unglück gerissen hatte. Wenn die Vernehmungsmethoden des Untersuchungsrichters auch nicht so bodenlos gemein und brutal waren wie die des Kommissars Laub, die gleiche Hartnäckigkeit wie Laub hatte er auch. Trudel kam von diesen Sitzungen immer völlig erschöpft und mutlos in ihre Zelle zurück. Ach, Karli, Karli! Ihn nur einmal wiedersehen dürfen, an seinem Lager sitzen, seine Hand halten dürfen, ganz still, ohne ein Wort!
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie geglaubt, sie liebte ihn nicht, sie würde ihn nie lieben können. Nun war sie wie durchtränkt von ihm, die Luft, die sie atmete, war er, das Brot, das sie aß, er, die Decke, die sie wärmte, er. Und er war so nahe, ein paar Gänge, ein paar Treppen, eine Tür – aber auf der ganzen Welt war kein Mensch so barmherzig, dass er sie einmal, ein einziges Mal nur zu ihm hingeführt hätte! Auch dieser schwindsüchtige Pastor nicht!
Sie hatten eben alle Angst um ihr liebes Leben, sie wagten nichts Ernstliches, um einer Hilflosen wirklich zu helfen. Und plötzlich kommt in ihre Erinnerung der Leichenkeller aus dem Gestapobunker, der lange SS-Mann, der sich eine Zigarette ansteckte und zu ihr »Mädel! Mädel!« sagte, ihr Suchen zwischen den Leichen, nachdem Anna und sie die tote Berta entkleidet hatten – und es scheint ihr, als ob das damals noch eine milde, barmherzige Stunde war, als sie Karli suchen durfte. Und nun? Eingeschlossen das zuckende Herz zwischen Eisen und Stein! Allein!
Die Tür wird geschlossen, viel langsamer und sachter, als es die Aufseherinnen tun, nun klopft es gar: der Pastor.
»Darf ich eintreten?«, fragt er.
»Kommen Sie bitte, kommen Sie doch, Herr Pastor!«, ruft Trudel Hergesell weinend.
Während die Frau Hänsel mit einem gehässigen Blick murmelt: »Was will der denn schon wieder?«
Und da lehnt Trudel plötzlich ihren Kopf gegen die schmale, rasch atmende Brust des Geistlichen, ihre Tränen fließen, sie verbirgt das Gesicht an seiner Brust, und sie fleht: »Herr Pastor, mir ist so angst! Sie müssen mir helfen! Ich muss den Karli sehen, nur einmal noch! Ich fühle, es wird das letzte Mal sein …«
Und die grelle Stimme der Frau Hänsel: »Das melde ich! Das melde ich aber sofort!« Während der Pastor ihr tröstend über den Kopf streicht und sagt: »Ja, mein Kind, Sie sollen ihn sehen, einmal noch!«
Da schüttelt sie ein immer stärker werdendes Schluchzen, und sie weiß, dass Karli tot ist, dass sie ihn nicht umsonst im Leichenkeller gesucht hat, dass es eine Vorahnung war, eine Warnung.
Und sie schreit: »Er ist tot! Herr Pastor, er ist tot!«
Und er antwortet, er spendet den einzigen Trost, den er diesen Todgeweihten spenden kann, er sagt: »Kind, er leidet nicht mehr. Du hast es schwerer.«
Sie hört es noch. Sie will darüber nachdenken, es richtig verstehen, aber es wird ihr dunkel vor den Augen. Das Licht erlischt. Ihr Kopf sinkt vornüber.
»Fassen Sie doch mit an, Frau Hänsel!«, bittet der Pastor. »Ich bin zu schwach, sie zu halten.«
Und dann ist auch draußen Nacht, Nacht zu Nacht, Dunkel zu Dunkel.
Trudel, verwitwete Hergesell, ist aufgewacht, und sie weiß, dass sie nicht in ihrer Zelle ist, und sie weiß wieder, dass Karli tot ist. Sie sieht ihn wieder liegen auf seiner schmalen Zellenpritsche, mit dem so klein und jung gewordenen Gesicht, und sie denkt an das Gesicht des Kindes, das sie geboren, und beide Gesichter gehen ineinander über, und sie weiß, dass sie alles verloren hat auf dieser Welt, Kind und Mann, dass sie niemals wird lieben, nie wird Kinder gebären dürfen, und alles dies, weil sie für einen alten Mann eine Postkarte auf ein Fensterbrett gelegt hat, dass darum ihr ganzes Leben zerbrochen ist und das von Karli dazu und dass es nie wieder Sonne und Glück und Sommer für sie geben wird, und keine Blumen …
Blumen auf mein Grab, Blumen auf dein Grab …
Und bei dem ungeheuren Schmerz, der sich immer weiter in ihr ausbreitet, der sie durchkältet wie Eis, schließt sie die Augen wieder und will zurück in Nacht und Vergessen. Aber die Nacht ist draußen, sie bleibt dort, sie dringt nicht in sie ein, aber plötzlich durchströmt Hitze sie … Sie springt mit einem Schrei vom Bett auf und will fort, nur laufen, diesem grässlichen Schmerz entlaufen. Aber eine Hand fasst nach ihr …
Es wird hell, und wieder ist es der Pastor, der bei ihr gesessen hat, der sie nun festhält. Ja, es ist eine fremde Zelle, es ist Karlis Zelle, aber sie haben ihn schon fortgebracht, und der Mann, der hier mit Karli in der Zelle lag, ist auch fort.
»Wo ist er hingebracht?«, fragt sie atemlos, als sei sie einen weiten Weg gelaufen.
»Ich werde an seinem Grabe meine Gebete sprechen.«
»Was helfen ihm jetzt noch Ihre Gebete? Hätten Sie um sein Leben gebetet, als noch Zeit dafür war!«
»Er hat den Frieden, Kind!«
»Ich will hier fort!«, sagt Trudel fieberhaft. »Bitte, lassen Sie mich zurück in meine Zelle, Herr Pastor! Ich habe dort ein Bild von ihm, ich muss es sehen, jetzt gleich. Er sah so anders aus.«
Und während sie so spricht, weiß sie sehr wohl, dass sie den guten Pastor belügt und dass sie ihn betrügen will. Denn sie besitzt kein Bild von Karli, und sie will nie wieder in ihre Zelle zu der Frau Hänsel zurück.
Und flüchtig schießt es ihr durch den Kopf: Ich bin ja wahnsinnig, aber jetzt muss ich mich gut verstellen, dass er es nicht merkt … Nur fünf Minuten noch meinen Wahnsinn verstecken!
Der Pastor führt sie sorglich an seinem Arm aus der Zelle über viele Gänge und Treppen in das Frauengefängnis zurück, und aus vielen Zellen hört sie tiefes Atmen – die schlafen – und aus anderen rastlose Schritte – die sorgen sich – und wieder aus anderen Weinen – die tragen Leid, aber niemand trägt so viel Leid wie sie.
Aber als der Pastor eine Tür auf- und hinter ihr wieder abgeschlossen hat, nimmt sie seinen Arm nicht wieder, und schweigend gehen die beiden weiter durch den nächtlichen Gang mit den Dunkelarrestzellen, aus denen der betrunkene Arzt gegen sein Versprechen die beiden Kranken nicht erlöst hat, und nun steigen sie viele Treppen im Frauengefängnis hinan bis zur Station V, wo die Trudel liegt.
Dort auf dem obersten Gang schlurft ihnen eine Wärterin entgegen und sagt: »Jetzt nachts um elf Uhr vierzig bringen Sie erst die Hergesell zurück, Herr Pastor? Wo waren Sie denn so lange mit ihr?«
»Sie war viele Stunden ohnmächtig. Ihr Mann ist gestorben, wissen Sie.«
»So – und da haben Sie die junge Frau also getröstet, Herr Pastor? Sehr hübsch! Die Frau Hänsel hat mir erzählt, sie soll Ihnen ganz schamlos immer gleich um den Hals fallen. Da muss solch nächtliches Trösten besonders hübsch sein! Ich werde das ins Wachtbuch schreiben!«
Aber ehe der Pastor sich noch mit einem Wort gegen diese Schmutzerei hat zur Wehr setzen können, sehen sie beide, dass Frau Trudel, verwitwete Hergesell, über das Eisengitter des Ganges geklettert ist. Einen Augenblick steht sie da, hält sich noch mit einer Hand am Geländer fest, mit dem Rücken zu ihnen.
Und sie rufen: »Halt! Nein! Bitte nicht!«
Und sie stürzen zu ihr hin, die Hände greifen schon nach ihr.
Aber wie eine Schwimmerin, die einen Kopfsprung machen will, hat sich Trudel Hergesell schon in die Tiefe gestürzt. Sie hören ein Flattern und Sausen, ein dumpfes Aufschlagen.
Und dann ist alles totenstill, während sie die bleichen Gesichter über das Geländer neigen und doch nichts sehen.
Dann machen sie einen Schritt zur Treppe hin.
Und in demselben Augenblick bricht die Hölle los.
Es ist, als sei’s durch die eisenbeschlagenen Zellentüren zu sehen gewesen, was geschehen ist. Erst ist es vielleicht nur ein hysterischer Schrei gewesen, aber er lief weiter von Zelle zu Zelle und von Station zu Station, von der einen Gangseite zur anderen, über den Abgrund fort.
Und während er weiterlief, wurde aus dem einen Schrei ein Brüllen, Heulen, Zetern, Keifen, Toben.
»Ihr Mörder! Ihr habt sie umgebracht! Bringt uns doch gleich alle um, ihr Henker!«
Und es gab welche, die hingen sich an die Fenster und schrien es auf die Höfe, sodass auch die Männerflügel aus ihrem angstdünnen Schlaf erwachten, und es tobte, es schrie, es geiferte, es plärrte, es grunzte, es verzweifelte.
Es klagte an, es klagte an mit tausend, mit zweitausend, mit dreitausend Stimmen, schrie das Tier seine Anklage aus tausend, zweitausend, dreitausend Mäulern.
Und die Alarmglocke schrillte, und sie trommelten mit den Fäusten gegen die Eisentüren, mit den Schemeln rannten sie dagegen an. Die Eisenbetten fielen, knallend in ihren Scharnieren, und wurden wieder hochgerissen und knallten neu. Scheppernd fuhren die Essschüsseln auf dem Boden herum, die Kübeldeckel lärmten, und das ganze Haus, dieses Riesengefängnis, stank plötzlich wie eine verhundertfachte Latrine.
Und die Bereitschaften fuhren in ihre Kleider und griffen nach ihren Gummiknütteln.
Und Zellentüren wurden aufgeschlossen: Knackknack!
Und der klatschend dumpfe Laut von Gummiknütteln auf die Schädel hernieder wurde laut und das Gebrüll wütender, vermischt mit dem Gescharr kämpfender Füße, und die hohen, tierhaften Schreie der Epileptiker und das Juhu-Gejodel idiotischer Spaßmacher und die gellenden Ludenpfiffe …