Es ist noch Nacht, als ein Aufseher die Tür zu Otto Quangels Zelle aufschließt.
Quangel, aus tiefem Schlaf erwacht, sieht blinzelnd auf die große, schwarze Gestalt, die in seine Zelle getreten ist. Im nächsten Augenblick ist er hellwach, und sein Herz klopft schneller als sonst, denn er hat begriffen, was diese große, dort schweigend unter der Tür stehende Gestalt bedeutet.
»Ist es so weit, Herr Pastor?«, fragt er und greift schon nach seinen Kleidern.
»Es ist so weit, Quangel!«, antwortet der Geistliche. Und fragt: »Fühlen Sie sich bereit?«
»Ich bin jede Stunde bereit«, antwortet Quangel, und seine Zunge berührt das Röhrchen in seinem Munde.
Er fängt an, sich anzukleiden. Alle seine Griffe geschehen ruhig, ohne Hast.
Einen Augenblick mustern sich die beiden schweigend. Der Pastor ist ein noch junger, grobknochiger Mann, mit einem einfachen, vielleicht etwas törichten Gesicht.
Nicht viel los mit dem, entscheidet Quangel. Kein Mann wie der gute Pastor.
Der Pastor wieder sieht vor sich einen langen, verarbeiteten Mann. Das Gesicht mit dem scharfen, vogelhaften Profil missfällt ihm, der musternde Blick des dunkeln, merkwürdig runden Auges missfällt ihm, es missfällt ihm auch der schmale, blutlose Mund mit den eingekniffenen Lippen. Aber der Geistliche gibt sich einen Stoß und sagt so freundlich, wie er kann: »Ich hoffe, Sie haben Ihren Frieden mit dieser Welt gemacht, Quangel?«
»Hat diese Welt Frieden gemacht, Herr Pastor?«, fragt Quangel dagegen.
»Leider noch nicht, Quangel, leider noch nicht«, antwortet der Geistliche, und sein Gesicht versucht, einen Kummer auszudrücken, der nicht empfunden wird. Er übergeht diesen Punkt und fragt weiter: »Aber den Frieden mit Ihrem Herrgott haben Sie doch gemacht, Quangel?«
»Ich glaube an keinen Herrgott«, antwortet Quangel kurz.
»Wie?«
Der Pastor scheint fast erschrocken von dieser brüsken Erklärung. »Nun«, fährt er fort, »wenn Sie vielleicht auch an keinen persönlichen Gott glauben, so werden Sie doch ein Pantheist sein, nicht wahr, Quangel?«
»Was ist das?«
»Nun, das ist doch klar …« Der Pastor versucht etwas zu erklären, was ihm selbst nicht ganz klar ist. »Eine Weltseele, verstehen Sie. Alles ist Gott, Sie verstehen? Ihre Seele, Ihre unsterbliche Seele wird in die große Weltenseele heimkehren, Quangel!«
»Alles ist Gott?«, fragt Quangel. Er ist jetzt mit Anziehen fertig geworden und steht vor der Pritsche. »Ist Hitler auch Gott? Das Morden draußen Gott? Sie Gott? Ich Gott?«
»Sie haben mich falsch verstanden, vermutlich absichtlich falsch verstanden«, antwortet gereizt der Geistliche. »Aber ich bin nicht hier, Quangel, um mit Ihnen über religiöse Fragen zu diskutieren. Ich bin gekommen, Sie auf Ihren Tod vorzubereiten. Sie werden sterben müssen, Quangel, in wenigen Stunden. Sind Sie bereit?«
Statt einer Antwort fragt Quangel: »Haben Sie den Pastor Lorenz gekannt im Untersuchungsgefängnis beim Volksgerichtshof?«
Der Pastor, schon wieder aus dem Konzept gebracht, antwortet ärgerlich: »Nein, aber ich habe von ihm gehört. Ich darf wohl sagen, der Herr hat ihn zur rechten Zeit abberufen. Er hat unserm Stande Schande gemacht.«
Quangel sah den Geistlichen aufmerksam an. Er sagte: »Er war ein sehr guter Mann. Viele Gefangene werden mit Dankbarkeit an ihn denken.«
»Ja«, rief der Pastor in unverhülltem Ärger. »Weil er euren Lüsten nachgegeben hat! Er war ein sehr schwacher Mann, Quangel. Der Diener Gottes hat ein Kämpfer zu sein in diesen Kriegszeiten, kein flauer Kompromissmacher!« Er besann sich wieder. Er sah hastig auf die Uhr und sagte: »Ich habe nur noch acht Minuten für Sie, Quangel. Ich habe noch einige Ihrer Leidensgefährten, die gleich Ihnen heute den letzten Gang antreten, mit meinem geistlichen Trost zu versehen. Wir wollen jetzt beten …«
Der Geistliche, dieser starkknochige, grobe Bauer, hatte ein weißes Tuch aus der Tasche gezogen und entfaltete es behutsam.
Quangel fragte: »Versehen Sie auch die hinzurichtenden Frauen mit Ihrem geistlichen Trost?«
Sein Spott war so undurchdringlich, dass der Pastor nichts von ihm merkte. Er breitete das schneeweiße Tuch auf dem Zellenboden aus und antwortete dabei gleichgültig: »Es finden heute keine Hinrichtungen von Frauen statt.«
»Erinnern Sie sich vielleicht«, fragte Quangel hartnäckig weiter, »ob Sie in der letzten Zeit bei einer Frau Anna Quangel gewesen sind?«
»Frau Anna Quangel? Das ist Ihre Frau? Nein, bestimmt nicht. Ich würde mich erinnern. Ich habe ein ungewöhnlich gutes Namengedächtnis …«
»Ich habe eine Bitte, Herr Pastor …«
»Nun, sagen Sie schon, Quangel! Sie wissen, meine Zeit ist knapp!«
»Ich bitte Sie, meiner Frau, wenn es so weit ist, nicht zu sagen, dass ich vor ihr hingerichtet worden bin. Sagen Sie ihr bitte, dass ich in der gleichen Stunde mit ihr sterbe.«
»Das wäre eine Lüge, Quangel, und ich als Diener Gottes darf mich nicht gegen sein achtes Gebot vergehen.«
»Sie lügen also nie, Herr Pastor? Sie haben noch nie in Ihrem Leben gelogen?«
»Ich hoffe«, sagte der Pastor, verwirrt unter dem spöttisch musternden Blick des anderen, »ich hoffe, dass ich mich stets nach meinen schwachen Kräften bemüht habe, Gottes Gebote zu halten.«
»Und Gottes Gebote verlangen also von Ihnen, meiner Frau den Trost, dass sie in der gleichen Stunde mit mir stirbt, zu versagen?«
»Ich darf nicht falsch Zeugnis reden wider meinen Nächsten, Quangel!«
»Schade, schade! Sie sind wirklich nicht der gute Pastor.«
»Wie?«, rief der Geistliche, halb verwirrt, halb drohend.
»Herr Pastor Lorenz hieß im Gefängnis nur der gute Pastor«, erklärte Quangel.
»Nein, nein«, rief der Pastor zornig, »ich sehne mich nicht nach einem solchen von euch gespendeten Ehrennamen! Ich würde das einen Unehrennamen heißen!« Er besann sich. Mit einem Plumps fiel er auf die Knie, genau auf das weiße Taschentuch. Er deutete auf eine Stelle des dunklen Zellenbodens neben sich (denn das weiße Tuch reichte nur für ihn aus): »Knien Sie auch nieder, Quangel, wir wollen beten!«
»Vor wem soll ich knien?«, fragte Quangel kalt. »Zu wem soll ich beten?«
»Oh!«, brach der Pastor ärgerlich aus, »fangen Sie doch nicht schon wieder damit an! Ich habe schon viel zu viel Zeit an Sie verschwendet!« Er sah kniend zu dem Mann mit dem harten, bösen Gesicht auf. Er murmelte: »Gleichviel, ich werde meine Pflicht tun. Ich werde für Sie beten!«
Er senkte den Kopf, faltete die Hände, und seine Augen schlossen sich. Dann stieß er den Kopf vor, öffnete die Augen weit und schrie plötzlich so laut, dass Quangel erschrocken zusammenfuhr: »O Du mein Herr und mein Gott! Allmächtiger, allwissender, allgütiger, allgerechter Gott, Richter über Gut und Böse! Ein Sünder liegt hier vor Dir im Staube, ich bitte Dich, Du wollest die Augen in Barmherzigkeit wenden auf diesen Menschen, der viele Missetat begangen hat, ihn erquicken an Leib und Seele und ihm alle seine Sünden in Gnaden vergeben …«
Der kniende Pastor schrie noch lauter: »Nimm an das Opfer des unschuldigen Todes Jesu Christi, Deines lieben Sohnes, für die Bezahlung seiner Missetat! Er ist ja auch auf desselbigen Namen getauft und mit desselbigen Blut gewaschen und gereinigt. So errette ihn nun von des Leibes Qual und Pein! Verkürze ihm seine Schmerzen, erhalte ihn wider die Anklage des Gewissens! Verleihe ihm eine selige Heimfahrt zum ewigen Leben!«
Der Geistliche senkte seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern: »Schicke Deine heiligen Engel her, dass sie ihn begleiten zur Versammlung Deiner Auserwählten in Christo Jesu, unserm Herrn.«
Der Pastor rief wieder sehr laut: »Amen! Amen! Amen!«
Er stand auf, faltete das weiße Tuch sorgfältig wieder zusammen und fragte, ohne Quangel anzusehen: »Es ist wohl vergeblich, dass ich Sie frage, ob Sie bereit sind, das heilige Abendmahl einzunehmen?«
»Völlig vergeblich, Herr Pastor.«
Der Pastor streckte zögernd seine Hand gegen Quangel aus.
Quangel schüttelte den Kopf und legte seine Hände auf den Rücken.
»Auch das ist vergeblich, Herr Pastor!«, sagte er.
Der Pastor ging, ohne ihn anzusehen, zur Tür. Er wandte sich noch einmal um, warf einen flüchtigen Blick auf Quangel und sagte: »Nehmen Sie noch diesen Spruch mit zur letzten Richtstätte, Philipper 1,21: Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.«
Die Tür klappte, er war gegangen.
Quangel atmete auf.
Der Geistliche war kaum gegangen, da trat ein kleiner, untersetzter Mann in einem hellgrauen Anzug in die Zelle. Er warf einen raschen, scharf prüfenden, klugen Blick auf Quangels Gesicht, ging dann auf ihn zu und sagte: »Dr. Brandt, Gefängnisarzt.« Er hatte dabei Quangels Hand geschüttelt und behielt sie nun in der seinen, während er sagte: »Darf ich Ihnen den Puls fühlen?«
»Immer zu!«, sagte Quangel.
Der Arzt zählte langsam. Dann ließ er die Hand Quangels los und sagte beifällig: »Sehr gut. Ausgezeichnet. Sie sind ein Mann.«
Er warf einen raschen Blick zur Tür, die halb offengeblieben war, und fragte flüsternd: »Kann ich was für Sie tun? Was Betäubendes?«
Quangel bewegte verneinend den Kopf. »Ich danke schön, Herr Doktor. Es wird auch so gehen.«
Seine Zunge berührte die Ampulle. Er überlegte einen Augenblick, ob er dem Arzt noch irgendeinen Auftrag an Anna geben sollte. Aber nein, dieser Pastor würde ihr doch alles erzählen …
»Sonst etwas?«, fragte der Arzt flüsternd. Er hatte Quangels Schwanken sofort bemerkt. »Vielleicht ein Brief zu bestellen?«
»Ich habe hier kein Schreibzeug – ach nein, ich will es auch lassen. Ich danke Ihnen jedenfalls, Herr Doktor, wieder ein Mensch mehr! Gottlob sind auch in solch einem Bau nicht alle schlecht.«
Der Arzt nickte trübe, gab Quangel noch einmal die Hand, überlegte und sagte rasch: »Ich kann Ihnen nur sagen: Bleiben Sie so mutig.«
Und er verließ rasch die Zelle.
Ein Aufseher trat ein, gefolgt von einem Gefangenen, der eine Schüssel und einen Teller trug. In der Schüssel dampfte heißer Kaffee, auf dem Teller lagen mit Butter bestrichene Brote. Daneben zwei Zigaretten, zwei Streichhölzer und ein Stückchen Reibfläche.
»So«, sagte der Aufseher. »Sie sehen, wir lassen uns nicht lumpen. Und alles ohne Karten!«
Er lachte, und der Kalfaktor lachte pflichtschuldigst mit. Es war zu merken, dass dieser »Witz« schon oft gemacht worden war.
In einer plötzlichen, überraschenden Aufwallung von Ärger sagte Quangel: »Nehmen Sie das Zeug wieder raus! Ich brauche eure Henkersmahlzeit nicht!«
»Das soll mir keiner zweimal sagen!«, sagte der Aufseher. »Übrigens ist der Kaffee bloß Muckefuck und die Butter Margarine …«
Und wieder war Quangel allein. Er ordnete sein Bett, zog die Bezüge ab und legte sie neben der Tür nieder, klappte das Gestell an die Wand. Dann machte er sich daran, sich zu waschen.
Er war noch dabei, als ein Mann, gefolgt von zwei Burschen, die Zelle betrat.
»Die Wascherei sparen Sie sich man«, sagte der Mann lärmend. »Jetzt werden wir Sie erstklassig rasieren und frisieren! Los, Jungens, macht ein bisschen schnell, wir sind spät dran!« Und entschuldigend zu Quangel: »Ihr Vorgänger hat uns zu sehr aufgehalten. Manche wollen gar keine Vernunft annehmen und begreifen nicht, dass ich nichts ändern kann. Ich bin nämlich der Scharfrichter von Berlin …«
Er streckte Quangel die Hand hin.
»Nun, Sie werden sehen, ich werde weder trödeln noch quälen. Macht ihr keine Schwierigkeiten, mache ich auch keine. Ich sage immer zu meinen Jungens: ›Jungens‹, sage ich, ›wenn einer sich unvernünftig anstellt und schmeißt sich hin und brüllt und schreit, so seid ihr auch unvernünftig. Packt ihn an, wo ihr ihn zu fassen kriegt, und wenn ihr ihm die Hoden rausreißt!‹ Aber bei vernünftigen Leuten, wie du einer bist, immer fein sachte!«
Während er so immer weiterredete, war eine Haarschneidemaschine über Quangels Kopf hin und her gewandert, sein sämtliches Kopfhaar lag auf dem Zellenboden. Der andere Henkersgehilfe hatte Seife zu Schaum geschlagen und rasierte Quangels Bart. »So«, sagte der Scharfrichter befriedigt. »Sieben Minuten! Wir haben wieder aufgeholt. Noch ein paar solche Vernünftige, und wir sind pünktlich wie die Eisenbahn.« Und bittend zu Quangel: »Sei so nett und feg dein Zeug selber zusammen. Du bist nicht dazu verpflichtet, verstehst du, aber wir sind knapp mit der Zeit. Der Direktor und der Ankläger können jeden Augenblick kommen. Schmeiß die Haare nicht in den Kübel, ich leg dir hier ’ne Zeitung hin: wickle sie ein und lege sie neben die Tür. Es ist ein kleiner Nebenverdienst, du verstehst?«
»Was machst du denn mit meinen Haaren?«, fragte Quangel neugierig.
»Verkauf ich an einen Perückenmacher. Perücken werden immer gebraucht. Nicht nur für die Schauspieler, auch so. Na, dann dank ich auch schön. Heil Hitler!«
Auch die waren gegangen, muntere Burschen, konnte man wohl sagen, sie verstanden ihr Handwerk, man konnte nicht mit mehr Seelenruhe Schweine schlachten. Und doch entschied Quangel, dass diese rohen, herzlosen Burschen besser zu ertragen seien als der Pastor vorhin. Dem Scharfrichter hatte er doch sogar ohne Weiteres die Hand gegeben.
Quangel hatte gerade die Wünsche des Scharfrichters, die Zellenreinigung betreffend, erfüllt, als schon wieder die Tür geöffnet wurde. Es traten ein, begleitet von einigen Uniformierten, ein dicker Herr mit rotem Schnurrbart und einem fetten, bleichen Gesicht – der Gefängnisdirektor, wie sich gleich herausstellte, und ein alter Bekannter Quangels: der Ankläger aus der Hauptverhandlung, der wie ein Pinscher kläffte.
Zwei Uniformierte packten Quangel und rissen ihn roh gegen die Zellenwand zurück, wo sie ihn zwangen, Haltung einzunehmen. Dann stellten sie sich neben ihn.
»Otto Quangel«, schrie der eine.
»Ach so!«, kläffte der Pinscher los. »An das Gesicht erinnere ich mich doch!« Er wandte sich an den Direktor. »Dem habe ich selber sein Todesurteil verschafft!«, sagte er stolz. »Ein ganz unverschämter Bursche das. Er dachte, er könnte dem Gericht und mir frech kommen. Aber wir haben’s dir gegeben, Bursche!«, kläffte er, zu Quangel gewendet, weiter. »Was, wir haben’s dir gegeben! Wie ist dir nun? Nicht mehr ganz so frech, wie?«
Einer der Männer neben ihm puffte Quangel in die Seite. »Antworten!«, flüsterte er befehlend.
»Ach, leckt mich doch alle!«, sagte Quangel gelangweilt.
»Wie? Was?« Der Ankläger tanzte vor Erregung von einem Bein aufs andere. »Herr Direktor, ich verlange …«
»Ach was!«, sagte der Direktor, »lassen Sie die Leute doch zufrieden! Sie sehen doch, das ist ein ganz ruhiger Mann! Nicht wahr, das sind Sie doch?«
»Natürlich!«, antwortete Quangel. »Er soll mich nur zufrieden lassen. Ich lasse ihn schon in Ruhe.«
»Ich protestiere! Ich verlange …!«, schrie der Pinscher.
»Was denn?«, sagte der Direktor, »was können Sie denn jetzt noch verlangen? Mehr als hinrichten können wir den Mann doch nicht, und das weiß der sehr gut. Also, machen Sie los, lesen Sie ihm schon das Urteil vor!«
Endlich beruhigte sich der Pinscher, entfaltete ein Aktenstück und begann vorzulesen. Er las hastig und undeutlich, übersprang Sätze, verwirrte sich und schloss ganz plötzlich: »Also, Sie wissen Bescheid!«
Quangel antwortete nicht.
»Führen Sie den Mann nach unten!«, sagte der rotbärtige Direktor, und die beiden Wachen packten Quangel fest bei den Armen.
Er machte sich unwillig los.
Sie packten ihn noch fester an.
»Lassen Sie den Mann allein gehen!«, befahl der Direktor. »Der wird schon keine Schwierigkeiten machen.«
Sie traten auf den Gang hinaus. Dort standen eine Menge Leute, Uniformierte und Zivilisten. Plötzlich hatte sich ein Zug gebildet, dessen Mittelpunkt Otto Quangel war. An der Spitze gingen Wachtmeister. Dann folgte der Pastor, der jetzt einen Talar mit weißem Kragen trug und irgendetwas Unverständliches vor sich hin betete. Hinter ihm ging Quangel, in eine ganze Traube von Aufsehern gehüllt, aber der kleine Arzt im hellen Anzug hielt sich dicht bei ihm. Dahinter folgten der Direktor und der Ankläger, denen wieder Zivilisten und Uniformierte nachgingen, die Zivilisten zum Teil mit Fotoapparaten bewaffnet.
So bewegte sich der Zug über Korridore, die schlecht beleuchtet waren, über eiserne Treppen, deren Linoleumbelag schlüpfrig war, durch das Totenhaus. Und wo er vorbeikam, schien ein Stöhnen in den Zellen laut zu werden, ein verhaltenes Ächzen aus tiefster Brust. Plötzlich rief eine Stimme aus einer Zelle sehr laut: »Lebe wohl, Genosse!«
Und ganz mechanisch antwortete Otto Quangel laut: »Lebe wohl, Genosse!« Erst einen Augenblick später fiel ihm ein, wie widersinnig dieses »Lebewohl« an einen Sterbenden gewesen war.
Jetzt wurde eine Tür aufgeschlossen, und sie traten auf den Hof hinaus. Noch hing das nächtliche Dunkel zwischen den Mauern. Quangel sah rasch rechts und links, seiner überwachen Aufmerksamkeit entging nichts. Er sah an den Fenstern des Zellengefängnisses das Rund vieler bleicher Gesichter, die Kameraden, die, gleich ihm zum Tode verurteilt, noch lebten. Ein Schäferhund fuhr laut bellend dem Zuge entgegen, wurde von dem Posten zurückgepfiffen und zog sich knurrend zurück. Der Kies knirschte unter den vielen Füßen, es sah aus, als müsse er bei Tageslicht leicht gelblich aussehen, jetzt, im Schein der elektrischen Lampen, wirkte er weißlichgrau. Über die Mauer sah schattenhaft der Umriss eines entblätterten Baumes. Die Luft war fröstelig und feucht. Quangel dachte: In einer Viertelstunde werde ich nicht mehr frieren – komisch!
Seine Zunge tastete nach der Glasampulle. Aber es war noch zu früh …
Seltsam, so deutlich er alles sah und hörte, was um ihn vorging, bis auf die geringste Kleinigkeit, so unwirklich schien ihm doch alles. Dies war ihm einmal erzählt worden. Er lag in seiner Zelle und träumte davon. Ja, es war ganz unmöglich, dass er hier körperlich wandelte, und sie alle, die hier mit ihm gingen, mit ihren gleichgültigen oder rohen oder gierigen oder traurigen Gesichtern, sie alle waren nichts Körperliches. Der Kies war kaum Kies, und das Scharren der Füße, das Knirschen der Steinchen unter den Sohlen – das waren Traumgeräusche …
Sie traten durch eine Tür und kamen in einen Raum, der so grell beleuchtet war, dass Quangel zuerst nichts sah. Seine Begleiter rissen ihn plötzlich nach vorn, an dem niederknienden Geistlichen vorbei.
Der Scharfrichter kam mit seinen beiden Gehilfen auf ihn zu. Er streckte ihm die Hand hin.
»Also, nimm mir’s nicht übel!«, sagte er.
»Nee, zu was denn?«, antwortete Quangel und nahm mechanisch die Hand.
Während der Scharfrichter Quangel die Jacke auszog und den Kragen seines Hemdes abschnitt, sah Quangel zurück auf die, die ihn begleitet hatten. Er sah in der blendenden Helle nur einen Kranz weißer Gesichter, die alle ihm zugewandt waren.
Ich träume das, dachte er, und sein Herz begann stärker zu klopfen.
Aus dem Zuschauerraum löste sich eine Gestalt, und als sie näher kam, erkannte Quangel den kleinen, hilfsbereiten Arzt im hellgrauen Anzug.
»Nun?«, fragte der Arzt mit einem matten Lächeln. »Wie geht es uns?«
»Immer ruhig!«, sagte Quangel, während ihm die Hände auf dem Rücken gebunden wurden. »Im Augenblick habe ich ziemliches Herzklopfen, aber ich nehme an, das wird sich in den nächsten fünf Minuten geben.«
Und er lächelte.
»Warten Sie, ich gebe Ihnen was!«, sagte der Arzt und griff in seine Tasche.
»Machen Sie sich keine Mühe, Herr Doktor«, antwortete Quangel. »Ich bin gut versorgt …«
Und für einen Augenblick zeigte die Zunge zwischen den dünnen Lippen die Glasampulle …
»Ja, dann!«, meinte der Arzt und sah verwirrt aus.
Sie drehten Quangel um. Jetzt sah er vor sich den langen Tisch, der mit einem glatten, stumpfen, schwarzen Überzug bedeckt war, wie Wachstuch. Er sah Riemen, Schnallen, aber vor allem sah er das Messer, das breite Messer. Es schien ihm sehr hoch über dem Kopf zu hängen, drohend hoch. Es blinkte grausilbern, es sah ihn tückisch an.
Quangel seufzte leicht …
Plötzlich stand der Direktor neben ihm und sprach mit dem Scharfrichter einige Worte. Quangel sah unverwandt auf das Messer. Er hörte nur halb hin: »Ich übergebe Ihnen als dem Scharfrichter der Stadt Berlin diesen Otto Quangel, dass Sie ihn mit dem Fallbeil vom Leben zum Tode bringen, wie es angeordnet ist durch rechtskräftiges Urteil des Volksgerichtshofes …«
Die Stimme schallte unerträglich laut. Das Licht war zu hell …
Jetzt, dachte Quangel. Jetzt …
Aber er tat es nicht. Eine fürchterliche, peinigende Neugier kitzelte ihn …
Nur noch ein paar Minuten, dachte er. Ich muss noch wissen, wie es auf diesem Tisch ist …
»Nun mal los, alter Junge!«, mahnte der Scharfrichter. »Mach jetzt keine langen Geschichten. In zwei Minuten hast du es ausgestanden. Hast du übrigens an die Haare gedacht?«
»Liegen an der Tür«, antwortete Quangel.
Einen Augenblick später lag Quangel auf dem Tisch, er fühlte, wie sie seine Füße festschnallten. Ein stählerner Bügel senkte sich auf seinen Rücken und presste seine Schultern fest gegen die Unterlage …
Es stank nach Kalk, nach feuchtem Sägemehl, es stank nach Desinfektionsmitteln … Aber vor allem stank es, alles andere übertäubend, widerlich süß nach etwas, nach etwas …
Blut …, dachte Quangel. Es stinkt nach Blut …
Er hörte, wie der Scharfrichter leise flüsterte: »Jetzt!«
Aber so leise er auch flüsterte, so leise konnte kein Mensch flüstern, Quangel hörte es doch, dieses »Jetzt!«
Er hörte auch ein surrendes Geräusch …
Jetzt!, dachte es auch in ihm, und seine Zähne wollten die Zyankaliampulle zerbeißen …
Da würgte es in ihm, ein Strom von Erbrochenem füllte seinen Mund, riss das Glasröhrchen mit …
O Gott, dachte er, ich habe zu lange gewartet …
Das Surren war ein Sausen geworden, das Sausen war ein gellendes Geschrei geworden, das bis in die Sterne, bis vor Gottes Thron zu hören sein musste …
Dann krachte das Beil durch sein Genick.
Quangels Kopf fällt in den Korb.
Einen Augenblick lag er ganz still, als sei dieser kopflose Körper verblüfft über den Streich, den man ihm da gespielt. Dann bäumte der Leib sich auf, er wand sich zwischen Riemen und Stahlbügeln, die Gehilfen des Scharfrichters warfen sich auf ihn und versuchten, ihn niederzudrücken.
Die Venen in den Händen des Toten wurden dick und dicker, und dann fiel alles zusammen. Man hörte nur das Blut, das zischende, rauschende, dumpf niederfallende Blut.
Drei Minuten nach dem Fall des Beils verkündete der bleiche Arzt mit etwas zitternder Stimme den Tod des Hingerichteten.
Sie räumten den Kadaver fort.
Otto Quangel war nicht mehr.