Die Monate kamen, und die Monate gingen, die Jahreszeiten wechselten, und Frau Anna Quangel saß noch immer in ihrer Zelle und wartete auf das Wiedersehen mit Otto Quangel.
Manchmal sagte die Aufseherin, deren Liebling Frau Anna jetzt war, zu ihr: »Ich glaube, Frau Quangel, die haben Sie ganz vergessen.«
»Ja«, antwortete die Gefangene 76 freundlich. »Es scheint beinahe so. Mich und meinen Mann. Wie geht es Otto?«
»Gut!«, antwortete die Aufseherin rasch. »Er lässt auch grüßen.«
Sie waren sich alle einig geworden, die gute, immer fleißige Frau den Tod des Mannes nicht erfahren zu lassen. Sie bestellten ihr regelmäßig Grüße.
Und dieses Mal meinte es der Himmel gnädig mit Frau Anna: kein müßiges Geschwätz, kein pflichtbewusster Pastor zerstörten ihr den Glauben an das Leben Otto Quangels.
Fast den ganzen Tag saß sie an ihrer kleinen Handstrickmaschine und strickte Strümpfe, Strümpfe für die Soldaten draußen, strickte tagaus, tagein.
Manchmal sang sie leise dabei. Sie war jetzt fest davon überzeugt, dass Otto und sie sich nicht nur wiedersehen, nein, dass sie auch lange miteinander noch leben würden. Entweder waren sie wirklich vergessen, oder man hatte sie im Geheimen begnadigt. Es konnte nicht mehr lange dauern, und sie waren frei.
Denn so wenig die Aufseherinnen davon auch sprachen, das hatte Anna Quangel doch gemerkt: es stand schlecht draußen mit dem Krieg, und die Nachrichten wurden von Woche zu Woche schlechter. Sie merkte es auch an dem sich rasch weiter verschlechternden Essen, an dem oft fehlenden Arbeitsmaterial, durch den zerbrochenen Teil ihrer Strickmaschine, dessen Ersatz wochenlang dauerte, dass alles immer knapper wurde. Aber wenn es schlecht mit dem Kriege stand, so stand es gut für die Quangels. Bald waren sie frei.
So sitzt sie und strickt. Sie strickt ihre Träume, Hoffnungen, die sich nie erfüllen werden, Wünsche, die sie früher nie gehabt, in die Strümpfe. Sie malt sich einen ganz anderen Otto aus, als der ist, an dessen Seite sie gelebt hat, einen heiteren, vergnügten, zärtlichen Otto. Sie ist fast zu einem jungen Mädchen geworden, dem das ganze Leben noch frühlingsfroh winkt. Träumt sie nicht manchmal sogar davon, noch Kinder zu haben? Ach, Kinder …!
Seit Anna Quangel das Zyankali vernichtete, als sie beschlossen hatte, nach schwerstem Kampf, auszuhalten bis zum Wiedersehen mit Otto, es möge ihr geschehen, was wolle – seitdem ist sie frei und jung und fröhlich geworden. Sie hat sich selbst überwunden.
Und nun ist sie frei. Furchtlos und frei.
Sie ist es auch in den immer schwereren Nächten, die der Krieg jetzt über die Stadt Berlin gebracht hat, wenn die Sirenen heulen, die Flieger in stets dichteren Schwärmen über der Stadt ziehen, die Bomben fallen, die Minen zerreißend schreien und Feuersbrünste überall aufglühen.
Auch in solchen Nächten bleiben die Gefangenen in ihren Zellen. Man wagt nicht, sie in Schutzräume zu führen, aus Furcht vor Meuterei. Sie schreien in ihren Zellen, sie toben, sie bitten und flehen, werden wahnsinnig vor Angst, aber die Gänge sind leer, keine Wache steht noch dort, keine erbarmende Hand schließt die Zellentüren auf, das Wachtpersonal sitzt in den Luftschutzräumen.
Anna Quangel ist ohne Furcht. Ihre kleine Rundmaschine tickert und tuckert, reiht Maschenkreis an Maschenkreis. Sie benutzt diese Stunden, in denen sie doch nicht schlafen kann, zum Stricken. Und beim Stricken träumt sie. Sie träumt von dem Wiedersehen mit Otto, und in einen solchen Traum bricht ohrenzerreißend die Mine ein, die diesen Teil des Gefängnisses in Schutt und Asche legt.
Frau Anna Quangel hat keine Zeit mehr gehabt, aus ihrem Wiedersehenstraum mit Otto aufzuwachen. Sie ist schon bei ihm. Sie ist jedenfalls dort, wo auch er ist. Wo immer das nun auch sein mag.
Aber nicht mit dem Tode wollen wir dieses Buch beschließen, es ist dem Leben geweiht, dem unbezwinglichen, immer von Neuem über Schmach und Tränen, über Elend und Tod triumphierenden Leben.
Es ist Sommer, es ist der Frühsommer des Jahres 1946.
Ein Junge, ein junger Mann fast schon, kommt über den Hof einer märkischen Siedlung gegangen.
Eine ältere Frau begegnet ihm. »Na, Kuno«, fragt sie. »Was gibt’s heute?«
»Ich will in die Stadt«, antwortet der Junge. »Ich soll unsern neuen Pflug abholen.«
»Na«, sagt sie, »ich schreibe dir noch auf, was du mir mitbringen kannst – wenn du’s kriegst!«
»Wenn’s nur da ist, dann kriege ich es auch schon, Mutter!«, ruft er lachend. »Das weißt du doch!«
Sie sehen sich lachend an. Dann geht sie ins Häuschen zu ihrem Mann, dem alten Lehrer, der längst das Pensionsalter hat und der noch immer seine Kinder lehrt – wie der Jüngste.
Der Junge zieht das Pferd Toni, ihrer aller Stolz, aus dem Schuppen.
Eine halbe Stunde später ist Kuno-Dieter Barkhausen auf dem Wege zur Stadt. Aber er heißt nicht mehr Barkhausen, rechtens und mit allen Formalitäten ist er von den Eheleuten Kienschäper adoptiert, damals, als es klar wurde, dass weder Karl noch Max Kluge aus dem Kriege heimkehren würden. Übrigens ist auch der Dieter bei dieser Gelegenheit ausgemerzt: Kuno Kienschäper klingt ausgezeichnet und ist völlig genug.
Kuno pfeift vergnügt vor sich hin, während der Braune Toni langsam in der Sonne den ausgefahrenen Feldweg entlangzuckelt. Soll er sich Zeit lassen, der Toni, zum Mittag sind sie immer wieder zurück.
Kuno sieht auf die Felder rechts und links, prüfend, fachmännisch beurteilt er den Saatenstand. Er hat viel gelernt hier auf dem Lande, und er hat – gottlob! – fast ebenso viel vergessen. Der Hinterhof mit der Frau Otti, nein, an den denkt er fast nie mehr, und auch nicht mehr an einen dreizehnjährigen Kuno-Dieter, der eine Art Räuber war, nein, das alles gibt es nicht mehr. Aber auch die Träume von der Motorenschlosserei sind aufgeschoben, vorläufig genügt es dem Jungen, den Trecker im Dorf bei der Pflügerei trotz seiner Jugend führen zu dürfen.
Ja, sie sind schön vorangekommen, der Vater, die Mutter und er. Sie sind nicht mehr von den Verwandten abhängig, sie haben im vorigen Jahr Land bekommen, sie sind selbstständige Leute mit Toni, einer Kuh, einem Schwein, zwei Hammeln und sieben Hühnern. Toni kann mähen und pflügen, er hat vom Vater das Säen gelernt und von der Mutter das Hacken. Das Leben macht ihm Spaß, er wird den Hof schon in die Höhe bringen, das tut er!
Er pfeift.
Am Straßenrand richtet sich eine verwahrloste, lange Gestalt auf, zerlumpt der Anzug, verwüstet das Gesicht. Das ist keiner der unseligen Flüchtlinge, das ist ein Verkommener, ein Penner, ein Lump. Die versoffene Stimme krächzt: »He, Jung, nimm mich mit in die Stadt!«
Kuno Kienschäper ist beim Klange dieser Stimme zusammengezuckt. Er möchte aus dem behaglichen Toni einen Galopp herausholen, aber dafür ist es zu spät, und so sagt er mit gesenktem Kopf: »Sitz auf – nee, nicht hier bei mir! Hinten kannst du aufsitzen!«
»Warum nicht bei dir?«, krächzt der Mann herausfordernd. »Bin dir wohl nicht fein genug?«
»Schafskopp!«, ruft Kuno mit angenommener Grobheit. »Weil du hinten auf dem Stroh weicher sitzt!«
Der Mann fügt sich brummend, kriecht hinten auf den Wagen, und Toni fängt jetzt an, ganz von selber zu traben.
Der Kuno hat den ersten Schreck darüber verwunden, dass er da seinen Vater, nein, ausgerechnet den Barkhausen aus dem Straßengraben auf den Wagen hat laden müssen, ausgerechnet er, ausgerechnet den! Aber vielleicht war das gar kein Zufall, vielleicht hat der Barkhausen ihm aufgelauert und weiß genau, wer ihn da fährt.
Kuno schielt über die Schulter nach dem Mann.
Der hat sich ins Stroh gestreckt und sagt jetzt, als habe er den Blick des Jungen gespürt: »Kannste mir wohl sagen, wo hier in der Drehe ein Junge wohnt, aus Berlin, muss so um die sechzehn sind? Hier um die Drehe rum muss er wohnen …«
»Hier um die Drehe rum wohnen noch viele Berliner!«, antwortet Kuno.
»Das hab ich gemerkt! Aber das mit dem Jungen, wo ich meine, das ist ein Spezialfall – der ist nicht evakuiert damals im Kriege, der ist getürmt von seine Eltern! Haste von so ’nem Jungen mal gehört?«
»Nee!«, lügt Kuno. Und nach einer Pause fragt er: »Wissen Sie denn nicht, wie der Junge heißt?«
»Na ja, der heißt Barkhausen …«
»Einen Barkhausen gibt’s hier in der Drehe nicht, das müsste ich wissen.«
»Das ist komisch!«, sagt der Mann, tut, als müsse er lachen, und stößt dem Jungen die Faust schmerzhaft zwischen die Schultern. »Und ich hätt darauf geschworen, ein Barkhausen sitzt hier auf dem Wagen!«
»Da hätten Sie falsch geschworen!«, antwortet Kuno, und jetzt, da die Gewissheit da ist, schlägt sein Herz ruhig und kalt. »Ich heiß nämlich Kienschäper, Kuno Kienschäper …«
»Nee, aber so wat!«, tut der Mann erstaunt. »Der, wo ich suche, heißt nämlich auch Kuno, Kuno-Dieter nämlich …«
»Ich heiße bloß Kuno Kienschäper«, sagte der Junge. »Und dann: wenn ich wüsste, ein Barkhausen sitzt auf meinem Wagen, dann drehte ich die Peitsche um und prügelte den Kerl so lange, bis er runter wäre von meinem Wagen!«
»Nee, so wat! Nee, so wat! Jibt’s denn so wat?«, wunderte sich der Penner. »Ein Junge, der den eigenen Vater vom Wagen prügelt?«
»Und wenn ich den Barkhausen runtergeprügelt hätte«, fuhr Kuno Kienschäper unbarmherzig fort, »dann führe ich in die Stadt zur Polizei und sagte denen: Passt auf, ihr! Da ist ein Mann hier in der Drehe, der kann nichts wie Faulsein und Stehlen und Schaden stiften, der hat gesessen, der ist ein Verbrecher, den langt euch!«
»So wat wirste doch nich machen, Kuno-Dieter«, rief Barkhausen nun wirklich erschrocken aus. »Du wirst mir doch nicht die Polente auf den Hals hetzen! Jetzt, wo ich endlich mal wieder raus bin aus dem Bunker und mir richtig gebessert habe? Ich hab ein Zeugnis vom Paster, ich hab mir wirklich gebessert, und ich fass nischt Verbotenes mehr an mit meine Hände, det schwör ick dir! Aber ick hab gedacht, wo du ’n Gut hast und so in der Fettlebe sitzt, dass du deinen alten Vater auch mal ein bisschen bei dir ausruhen lässt! Es jeht mir jarnich jut, Kuno-Dieter, ich hab’s auf der Brust, ich muss mal ’n bisschen pausieren …«
»Dein bisschen Pausieren, das kenn ich!«, rief der Junge erbittert aus. »Ich weiß, wenn ich dich nur für einen Tag in unser Haus lasse, so machst du dich breit und bist nicht wieder wegzukriegen, und mit dir ist Unfriede und Unglück und Schmarotzerei ins Haus gezogen. Nein, jetzt machst du, dass du von meinem Wagen runterkommst, sonst drehe ich wirklich die Peitsche um!«
Der Junge hatte den Wagen halten lassen und war von ihm abgesprungen. Jetzt stand er da, die Peitsche in der Faust, zu allem bereit, um den Frieden des neuerworbenen Heims zu verteidigen.
Der ewige Pechvogel Barkhausen sagte kläglich: »Das wirste doch nich machen! Deinen eigenen Vater wirste doch nich schlagen!«
»Du bist ja gar nicht mein Vater! Das hast du mir früher leider oft genug gesagt!«
»Det is doch een Witz jewesen, Kuno-Dieter, vasteh det doch bloß!«
»Ich hab keinen Vater!«, schrie der Junge, rasend vor Zorn. »Ich hab eine Mutter, und ich fang ganz von Frischem an. Und wenn da Leute kommen von früher und sagen dies und das, dann prügele ich sie so lange, bis sie mich zufrieden lassen! Ich lass mir mein Leben nicht von dir verderben!«
Er stand so drohend da mit der erhobenen Peitsche, dass der Alte wirklich Furcht bekam. Er kroch vom Wagen und stand nun auf der Straße, feige Angst im Gesicht.
Feige drohend sagte er: »Ick kann dir viel Schaden machen …«
»Darauf hab ich gewartet!«, rief Kuno Kienschäper. »Auf das Betteln folgt das Drohen, so ist es immer bei dir gewesen! Aber das sage ich dir, das schwör ich dir zu: Von hier fahre ich direkt zur Polizei und erstatte Anzeige, dass du mir gedroht hast, unser Haus anzuzünden …«
»Det ha ick ja jarnich jesagt, Kuno-Dieter!«
»Aber gedacht hast du daran, das habe ich deinen Augen angesehen! Da geht dein Weg! Und merke dir, in einer Stunde sind die von der Polizei hinter dir her! Mach also, dass du schnell fortkommst!«
Kuno Kienschäper stand noch so lange auf der Straße, bis die verschlissene Gestalt zwischen den Kornfeldern verschwunden war. Dann klopfte er dem Braunen Toni auf den Hals und sagte: »Was, Toni, wir lassen uns von so einem nicht noch mal das Leben verpfuschen? Wir haben’s neu angefangen. Wie die Mutter mich in das Wasser gesteckt und mit ihren eigenen Händen allen Dreck von mir abgewaschen hat, da hab ich mir’s geschworen: Von nun an halte ich mich alleine sauber! Und das wird gehalten!«
In den nächsten Tagen wunderte sich Mutter Kienschäper manches Mal, dass der Junge so gar nicht vom Hofe zu kriegen war. Sonst war er immer der Erste bei der Feldarbeit gewesen, und jetzt wollte er nicht mal die Kuh auf der Weide tüdern. Aber sie sagte nichts, und der Junge sagte nichts, und als die Tage gingen in den reifen Sommer hinein und die Roggenernte anfing, da ging der Junge mit seiner Sense doch hinaus …
Denn was man gesät hat, soll man auch ernten, und der Junge hatte gutes Korn gesät.
ENDE
Ich habe natürlich nicht immer getrunken, es ist sogar nicht sehr lange her, dass ich mit Trinken angefangen habe. Früher ekelte ich mich vor Alkohol; allenfalls trank ich mal ein Glas Bier; Wein schmeckte mir sauer, und der Geruch von Schnaps machte mich krank. Aber dann kam eine Zeit, da es mir schlecht zu gehen anfing. Meine Geschäfte liefen nicht so, wie sie sollten, und mit den Menschen hatte ich auch mancherlei Missgeschick. Ich bin immer ein weicher Mensch gewesen, ich brauchte die Sympathie und Anerkennung meiner Umwelt, wenn ich mir das auch nicht merken ließ und stets sehr selbstbewusst und sicher auftrat. Das Schlimmere war, dass ich das Gefühl bekam, auch meine Frau wende sich von mir ab.
Es waren zuerst unmerkliche Zeichen, Dinge, die ein anderer ganz übersehen hätte. Zum Beispiel vergaß sie, mir bei einem Geburtstag in unserem Hause Kuchen anzubieten; ich esse zwar nie Kuchen, aber früher bot sie mir trotzdem stets welchen an. Und dann war einmal drei Tage lang ein Spinnweb in meinem Zimmer über dem Ofen. Ich ging alle Zimmer ab, aber in keinem gab es ein Spinnweb, nur in meinem. Ich wollte eigentlich abwarten, wie lange sie es so treiben würde mir zum Ärger, aber am vierten Tage hielt ich es nicht mehr aus und sagte es ihr. Darauf wurde das Spinnweb entfernt. Ich sagte es ihr natürlich ziemlich scharf. Ich wollte mir um keinen Preis merken lassen, wie sehr ich unter diesen Kränkungen und meiner Vereinsamung litt.
Aber es blieb nicht dabei. Bald kam die Sache mit dem Fußabtreter. An jenem Tage hatte ich Schwierigkeiten auf meiner Bank gehabt, zum ersten Male hatten sie mir eine Geldauszahlung verweigert; es hatte sich wohl herumgesprochen, dass ich Verluste erlitten hatte. Der Bankvorsteher, ein Herr Alf, tat sehr liebenswürdig, sprach von vorübergehenden Schwierigkeiten und erbot sich sogar, mit seiner Zentrale wegen eines Sonderkredits für mich zu telefonieren. Ich lehnte das natürlich ab, ich war lächelnd und sicher wie immer gewesen. Aber ich hatte gut gemerkt, dass er mir dieses Mal nicht wie sonst meist eine Zigarre angeboten hatte, dieser Kunde lohnte ihm das wohl nicht mehr.
Sehr niedergedrückt ging ich durch einen schwer herabrauschenden Herbstregen nach Hause. Ich war noch gar nicht in eigentlichen Schwierigkeiten; es war nur eine gewisse Stagnation in meinen Geschäften eingetreten, die zu jenem Zeitpunkt mit einigem Elan sicher noch zu überwinden gewesen wäre. Aber gerade diesen Elan vermochte ich nicht aufzubringen, ich war zu niedergedrückt von all dem stummen Missfallen, dem ich begegnete.
Als ich nach Hause kam (wir wohnen etwas vor der Stadt in eigener Villa, und die Straße dorthin ist noch nicht ausgebaut), wollte ich vor der Tür meine schmutzigen Schuhe reinigen, doch gerade heute fehlte der Fußabtreter. Ärgerlich schloss ich auf und rief ins Haus nach meiner Frau. Es dunkelte schon, aber nirgends sah ich Licht, und Magda kam auch nicht. Ich rief wieder und wieder, aber nichts erfolgte. Ich befand mich in einer höchst fatalen Situation: Ich stand im Regen vor der Tür meiner eigenen Villa und konnte nicht ins Haus, wollte ich nicht Vorplatz und Diele ärgerlich beschmutzen, und das alles, weil meine Frau vergessen hatte, den Fußabtreter hinauszulegen, und zu einer Zeit nicht zur Stelle war, wo ich, wie sie genau wusste, von der Arbeit heimkam.
Schließlich musste ich mich überwinden: Ich ging vorsichtig auf Zehenspitzen ins Haus. Als ich mich auf einen Stuhl in der Diele setzte, um die Schuhe auszuziehen, und dafür Licht machte, sah ich, dass all meine Vorsicht nichts genützt hatte: Auf dem zartgrünen Dielenteppich waren die hässlichsten Flecke entstanden. Ich habe Magda immer gesagt, dass solch ein empfindliches Resedagrün nichts für die Diele sei, aber sie hatte ja gemeint, wir beide seien ja wohl alt genug, ein bisschen aufzupassen, und die Else (unser Dienstmädchen) benütze ja sowieso den Hintereingang und sei gewohnt, im Hause auf Pantoffeln zu gehen. Ich zog sehr ärgerlich meine Schuhe aus, und gerade als ich den zweiten auszog, sah ich Magda, die eben aus der Tür kam, die die Kellertreppe verdeckt. Der Schuh entglitt mir und fiel mit Poltern auf den Teppich, einen weiteren abscheulichen Fleck machend.
»Pass doch ein bisschen auf, Erwin!«, rief Magda sehr ärgerlich. »Wie der schöne Teppich wieder aussieht. Kannst du dir nicht angewöhnen, die Füße ordentlich abzutreten?!«
Die offene Ungerechtigkeit in diesem Vorwurf empörte mich, aber noch hielt ich an mich. »Wo in aller Welt hast du bloß gesteckt?«, fragte ich, sie noch immer anstarrend. »Ich habe mindestens zehnmal nach dir gerufen!«
»Ich war bei der Zentralheizung im Keller«, sagte Magda kühl. »Aber was hat das mit meinem Teppich zu tun?«
»Es ist ebenso gut mein Teppich wie der deine«, antwortete ich erregt. »Ich habe ihn wirklich nicht gerne beschmutzt. Aber wenn kein Abtreter vor der Tür liegt …!«
»Es liegt kein Abtreter vor der Tür? Natürlich liegt er vor der Tür!«
»Es liegt keiner davor!«, rief ich mit Nachdruck. »Bitte, überzeuge dich selbst!«
Aber sie dachte gar nicht daran, vor die Tür zu gehen. »Wenn Else eben vergessen hat, ihn hinzulegen, so hättest du die Schuhe gut auf dem Vorplatz ausziehen können! Jedenfalls hättest du nicht den einen Schuh hier mit solchem Plumps auf den Teppich zu werfen brauchen!«
Ich sah sie, stumm vor Ärger, nur empört an. »Ja«, sagte sie, »da schweigst du. Wenn man dir Vorwürfe macht, schweigst du. Aber mir machst du ständig Vorwürfe …«
Ich fand keinen rechten Sinn in diesen Worten, aber ich sagte doch: »Wann habe ich dir Vorwürfe gemacht?«
»Eben erst«, antwortete sie rasch. »Einmal, weil ich auf dein Rufen nicht gekommen bin, und ich musste doch nach der Heizung sehen, weil Else heute ihren freien Nachmittag hat. Und dann, weil der Abtreter nicht vor der Tür liegt. Aber ich kann doch unmöglich bei all meiner Arbeit auch noch jede Kleinigkeit, die Else zu tun hat, kontrollieren.«
Ich nahm mich zusammen. Ich fand im stillen, Magda hatte in allen Punkten unrecht, aber laut sagte ich: »Wir wollen uns nicht streiten, Magda. Ich bitte dich, mir zu glauben, dass ich die Flecke nicht mit Absicht gemacht habe.«
»Und du glaube mir«, antwortete sie, noch immer ziemlich scharf, »dass ich dich weder mit Absicht habe rufen noch mit Absicht habe warten lassen.«
Ich schwieg dazu. Bis zum Abendessen hatten wir uns beide wieder ziemlich in der Gewalt, eine ganz vernünftige Unterhaltung kam sogar zustande, und plötzlich hatte ich den Einfall, eine Flasche Rotwein, die mir irgendjemand mal geschenkt hatte und die seit Jahren im Keller stand, heraufzuholen. Ich weiß wirklich nicht, wieso ich auf diese Idee kam. Vielleicht löste das Gefühl unserer Aussöhnung bei mir den Gedanken an etwas Festliches wie Trauung oder Taufe aus. Magda war auch ganz überrascht, lächelte aber beifällig.
Ich trank nur anderthalb Glas, obgleich mir an diesem Abend der Wein nicht sauer schmeckte. Ich kam sogar in eine heitere Stimmung und brachte es fertig, Magda allerlei vom Geschäft, das mir so viel Sorgen machte, zu erzählen. Natürlich sprach ich kein Wort von diesen Sorgen, sondern ich log im Gegenteil meine Misserfolge in Erfolge um. Magda hörte mir so interessiert wie schon lange nicht zu. Ich hatte das Gefühl, dass die Entfremdung zwischen uns völlig geschwunden war, und in der Freude darüber schenkte ich Magda hundert Mark, damit sie sich etwas recht Hübsches kaufen könnte: ein Kleid oder einen Ring oder wonach sonst ihr Herz stand.