Er muss sehr fest geschlafen haben. Als er aufwacht, sieht er, dass – mit dem Rücken gegen ihn – eine kurze fette Gestalt an seinem Schränkchen steht, in Uniform, mit einem dicken, kurzgeschorenen Schädel darüber: der Hauptwachtmeister Rusch.
Er hat das Gesangbuch in der Hand. Nun fasst er es bei beiden Deckeln, schüttelt es – und nichts fällt zur Erde. Dann schaut Rusch durch die Rückenhöhlung.
Er legt das Gesangbuch in den Schrank zurück und kriegt die Bibel vor.
Kufalt denkt: Such du nur! und bleibt liegen, mit offenen Augen.
Der Hauptwachtmeister schließt die Schranktür und geht an den Tisch. Er macht eine tiefe Kniebeuge und sieht unter die Tischplatte. Als er sich wieder aufrichten will, begegnet sein Blick dem des Gefangenen. Aber der Hauptwachtmeister hat sich in der Gewalt. Er geht gegen das Bett. »Schlafen! Schlafen! Heller Tag! Arbeiten!«
»Die haben mir ja die Arbeit fortgeholt«, sagt Kufalt.
»Scheuern! Reinmachen! Wienern! Tischplatte ist ganz schietig! Drunter! Drunter!«
»Mach ich, Herr Hauptwachtmeister. Mach ich, mach den Tisch auch von unten reine!« sagt Kufalt und eilt zum Tisch.
»Halt! Wann haben Sie Post gehabt?«
»Wann …? Ja, das ist lange her, Herr Hauptwachtmeister. Warten Sie …«
»Heute keinen Brief bekommen?«
»Nee. Ist ein Brief für mich da? Au fein, der ist von meinem Schwager, der schickt Geld.«
»So!!!« sagt der Hauptwachtmeister, betrachtet sich noch einmal seinen Gefangenen und murrt: »Wienern! Scheuern! Reinmachen! Bett hochmachen!« Und geht aus der Zelle.
»Und mein Brief?« ruft Kufalt, aber der Hauptwachtmeister ist schon fort.
So stürzt er sich wirklich über den Tisch, er hat noch nie daran gedacht, dass man den auch von unten reinmachen könnte. Und als er damit fertig ist, hängt er sein Schränkchen ab und scheuert die Rückwand.
Er ist gerade dabei, als er merkt, dass ein ungewohnter Lärm durchs Haus geht. In allen Stationen wird Zelle um Zelle aufgeschlossen, etwas hineingerufen – Kufalt springt auf und lauscht. Aber er versteht nicht, bis er das Wort »Brief« hört, dann »falscher«, er grinst.
Näher und näher kommt seiner Zelle das Gerassel, nun sind sie in der Zelle nebenan, und nun …
Seine Tür geht auf, ein Wachtmeister steckt den Kopf rein. »Ist hier ein falscher Brief … ach so, Sie sind das, Kufalt, nee, ist schon alles in Ordnung.«
»Was ist denn los, Herr Wachtmeister?«
Der ist schon weiter.
Als Kufalt aber seinen Schrank sauber hat, stellt sich die Notwendigkeit heraus, den Zellenboden neu zu wienern. Er hat stramm zu tun. Der Bau ist voll von den leisen, gedämpften Taggeräuschen, die Eisenstange eines Netzestrickers klirrt, ein Kübeldeckel klappert, einer fängt an zu pfeifen und bricht rasch ab, ein paar Rollen Strickgarn werden vor einer Nachbarzelle abgeworfen. Von der hochstehenden Sonne wird seine Zelle ganz hell.
Neugierig bin ich doch, was die tun werden.
Es ist schon bald Abendessenszeit, also nach fünf, als seine Zellentür sich wieder öffnet. Drei Mann hoch treten sie ein: Polizeiinspektor, Pfarrer und Hauptwachtmeister. Die Tür wird sorgsam angezogen. Kufalt stellt sich unter das Fenster mit dem Gesicht gegen die Beamten und wartet.
Der Pfarrer spricht zuerst: »Kufalt, hören Sie. Es ist da ein Versehen vorgekommen, es wird sich noch aufklären. Heute ist ein Brief eingegangen für Sie …«
»Ja, ich weiß. Herr Hauptwachtmeister hat mir schon gesagt. Von meinem Schwager, mit Geld.«
»Hab nichts gesagt«, grollt der Hauptwachtmeister. »Lügst. Gar nichts. Sie haben’s gesagt.«
»Nein, nicht mit Geld, mein lieber junger Freund. Es war – ein Schlüssel darin.«
»So?« fragt Kufalt gedehnt. »Darf ich den Brief haben …?«
»Das ist es eben. Der Brief ist verlegt. Er wird sich wieder anfinden. Aber Sie gehen morgen schon ab …«
»Verlegt?« fragt Kufalt. »Hier verschwindet doch nichts? Warum soll ich das Geld nicht haben? Herr Polizeiinspektor, der Direktor hat auch angeordnet, dass ich meine Arbeitsbelohnung voll ausbezahlt bekomme, und die von der Abfertigung wollen mir nur sechs Mark geben. Das ist doch ungerecht. Wenn Herr Direktor es anordnet …«
»Nun, nun, Kufalt, immer ruhig! Darüber ließe sich vielleicht reden. Aber …«
»Aber das Geld von meinem Schwager, das ist mein Geld! Das müssen Sie mir aushändigen. Warum wollen Sie mir den Brief nicht geben …?«
»Kufalt«, sagt der Hauptwachtmeister, »mach keinen Quatsch! Es ist kein Geld darin gewesen. Der Pastor weiß es bestimmt. Der Brief ist mir weggekommen.«
»Ich hatte Ihren Brief gerade gelesen«, sagt nun wieder der Pastor. »Ihr Schwager schrieb Ihnen gar nicht selbst, er ließ Ihnen durch seinen Prokuristen sagen, er könnte Ihnen nicht helfen. Und Geld wollte er Ihnen auch nicht geben, Sie hätten ja Ihre Arbeitsbelohnung …«
»Die soll ich ja auch nicht kriegen!«
»Aber Ihr Schwager schickt Ihnen einen Teil Ihrer Sachen. Das andere können Sie später haben.«
»Ich hab mich erkundigt, Kufalt. Ihr Koffer ist schon da. Sie können ihn ausnahmsweise heute nach Einschluss einsehen, wir lassen ihn in Ihrer Gegenwart aufmachen. Der Hausvater bleibt extra Ihretwegen hier.« Der Polizeiinspektor ist so sanft …
»Kufalt«, sagt der Hauptwachtmeister, »der Brief ist wirklich weg. Wenn Sie darauf bestehen, muss der Polizeiinspektor eine Meldung schreiben, und ich bin haftbar.«
Der Polizeiinspektor sagt: »Sie sind doch ein Mann von Bildung und Verstand, Kufalt. Warum wollen Sie dem Herrn Rusch Schwierigkeiten machen? Versehen kommen überall vor.«
Kufalt sieht sich die drei an. Er sagt: »Und wie mir beim Baden meine Strümpfe geklaut wurden, da kriegte ich drei Tage Entziehung der warmen Kost und musste sie von meiner Arbeitsbelohnung bezahlen, nicht? Das haben Sie damals angeordnet, Herr Inspektor! Warum soll denn der Rusch ohne Strafe ausgehen, wenn er sich Briefe klauen lässt?«
Alle drei sind bei dem nackten »Rusch« zusammengezuckt.
Dann sagt der Pastor: »Man muss auch verzeihen können, lieber Kufalt. Sie werden auch Fehler machen und der Verzeihung bedürfen.«
Aber nun ist es bei Kufalt alle. Er schreit wütend: »Gehen Sie raus aus meiner Zelle, Herr Pastor! Gehen Sie raus! Ich schlag alles in den Klump. Und Sie, Herr Inspektor, gehen Sie auch raus!«
»Ich finde, Sie werden unverschämt …«, bricht der Inspektor los.
Und der Pastor: »Schämen Sie sich, Kufalt …«
Aber Rusch ist energisch: »Bitte doch, bitte!«
Sie gehen. Gehen mit bösen Blicken. Und sind weg.
Kufalt steht da und sieht die Tür an. Er ist immer noch wütend, er hat rot gesehen, er sagt hastig: »Warum bringen Sie die mit, Herr Hauptwachtmeister? Solche Lügner wie die. Das macht mich wild, wenn ich die Schleicher nur sehe! – Sie haben mir nie was vorgemacht, Herr Hauptwachtmeister, versprechen Sie mir, dass ich morgen meine Arbeitsbelohnung voll ausbezahlt kriege?«
»Versprech ich dir, Kufalt.«
»Geben Sie den Zettel her, ich unterschreibe, dass ich den Brief bekommen habe.«
Der Hauptwachtmeister gibt den Zettel nicht her, er denkt nach.
»Woher wissen Sie denn, dass es ein Einschreibebrief war, Kufalt?«
»Na, mein Schwager wird doch einen Schlüssel nicht in einem einfachen Brief schicken!«
Rusch denkt immer noch nach.
Kufalt setzt fort: »Wo sogar Einschreibebriefe verschwinden …?«
Der Hauptwachtmeister zieht den Zettel aus der Tasche. »Kufalt, bist en Aas. Na, unterschreib schon. Kriegst dein Geld – trotzdem.«
Es ist am Vormittag des anderen Tages, gegen elf Uhr.
Kufalt steht in der Abgangszelle. Sein Handkoffer, der von Schwager Pause nachgesandte große Handkoffer, neben ihm. Er steht und wartet.
Die Zeit kriecht, nichts kann er tun. Er hat Bücher im Koffer, aber wer kann jetzt lesen? In zwei Stunden sind fünf Jahre herum, in zwei Stunden ist er ein freier Mensch, kann hingehen, wohin er will, kann sprechen, zu wem er mag, kann mit einem Mädchen ausgehen, Wein trinken, sich ins Kino setzen … nein, es ist immer noch nicht vorstellbar … er ist immer noch so gefangen …
Keine Glocke mehr morgens. Kein Pensum mehr zu stricken. Keine Gehässigkeiten mehr mit anderen Gefangenen. Kein Papps des Mittags. Kein Zellenwienern. Keine Sorge, ob der Tabak auch reicht. Kein Wachtmeister, kein stinkender Kübel, keine schlottrige Kluft … es ist nicht auszudenken.
Wie fest der Anzug sitzt! Im Bauch sogar zu stramm, trotzdem er Westen- und Hosenschnallen aufhat, er hat einen Bauch gekriegt von der Wasserkost. Es hat Zeiten gegeben, wo er mittags zwei Liter Essen und dann noch einen Schlag verdrückt hat. Auf dem Bauch hat er eine Uhr, seine silberne Konfirmationsuhr. Sie zeigt die Zeit, es ist elf Uhr achtzehn.
Die anderen sind schon über vier Stunden draußen, schön dumm ist er gewesen, dass er nicht auch das noch herausgepresst hat aus Rusch. Die sind weg – und der Bastel, der Hausvaterkalfaktor, hat ihm beim Einkleiden erzählt, dass auch Sethe weg ist. Gleich früh haben sie ihn gefragt, ob er die Strafe annimmt wegen Beamtenbeleidigung, sonst muss er hierbleiben … nun, er hat sie angenommen. Er wird Bewährungsfrist kriegen. Immerhin … Schweine sind das hier. Schweine. Und alle werden Schweine. Ein Schwein ist auch er gewesen mit dem Brief gestern Abend, ein Schwein ist er gewesen mit dem Hundertmarkschein, tausendmal ist er ein Schwein gewesen diese fünf Jahre. Und was hat es für einen Zweck gehabt …? Andersherum wäre er auch zur gleichen Stunde herausgekommen – aber mit anderen Gefühlen.
Nun ist es jedenfalls zu Ende. Er wird von nun an genau das tun, was recht ist, er will ruhig schlafen können. Keine Sorgen mehr haben, nur keine Sorgen mehr! Wenn er auch den Hunderter mit rausnimmt. Das ist das letzte Mal, dass er so was tut.
Kufalt läuft auf und ab, hin und her. Die Zelle ist wieder so hell. Ein herrlicher Tag ist draußen. All diese letzten Tage ist die Zelle immer so hell gewesen wie alle Jahre vorher nicht. Hoffentlich bleibt das Wetter gut, wenn er draußen ist …
Nur dieses Friedensheim … Der Inspektor hat zu gemein gegrinst. Jedenfalls kriegte er nachher im Torhaus sein ganzes Geld, und würde es ihm zu dumm im Friedensheim, schmiss er denen einfach den Kram hin …
Es kratzt an der Tür. Kufalt ist mit einem Satz da. »Ja?«
»Du! Du bist doch Willi?«
»Na, natürlich, kannst du nicht linsen?«
»Man erkennt dich gar nicht mehr in deiner feinen Schale! Ich bin der Kalfaktor von deiner Station. Hast du die Toilettenseife in deinem Koffer?«
»Ja.«
»Lass mir die da, Mensch. Leg sie unter den Kübel. Ich hol sie mir gleich aus der Zelle, wenn du raus bist.«
»Meinethalben.«
»Aber bestimmt, Willi!«
»Kannst durch den Spion sehen. Ich hol sie gleich raus, siehst du …«
»Du, Willi, du hast doch auch Tabak? Kannst dir ja gleich wieder welchen kaufen. Leg ihn hin.«
»Ihr Räuber, ihr!«
»Mensch, ich hab noch drei Jahre Knast.«
»Was ist denn das? Ich habe fünf Jahre gehabt und der Bruhn, der heute rausgekommen ist, elf!«
»Au wei! Au wei! Der Bruhn! Das weißt du noch nicht?! Mensch, der ganze Bau ist voll davon!«
»Was denn? Was ist denn mit Bruhn?«
»Der ist schon wieder drin! Drei Stunden ist er gerade draußen gewesen, ist schon wieder drin!«
»Du spinnst wohl! Das ist ’ne Scheißhausparole!«
»Wo’s der Hausvater selber erzählt hat! Wie die rausgekommen sind, heute früh, sind sie gleich saufen gegangen. Nur der Sethe ist mit der Bahn abgefahren. Und einer hat gewusst, wo Mädchen sind. Da sind sie zu denen ins Haus gegangen. Aber die Weiber haben noch geschlafen und haben den besoffenen Kerls nicht aufmachen wollen. Die haben Krach geschlagen, der Hauswirt ist gekommen und hat sie aus dem Haus gewiesen. Da haben sie den Hauswirt die Treppe runtergeschmissen, aus seinem eigenen Haus rausgeschmissen! Und wie der Wirt wieder zurückgekommen ist mit Polizei, sind die Jungens doch drin bei den Weibern gewesen! Haben die geschrien, wie die Polente kam, die hätten’s mit Gewalt gemacht, die Tür hätten sie aufgebrochen – na, dass die Hunger gehabt haben, die Jungen, das ist doch sicher! Und jetzt sitzen sie alle im Vater Philipp! Heute Nachmittag kommen sie ins Untersuchungsgefängnis, sagt der Hausvater.«
»Glaube ich nicht! Glaube ich nie im Leben! Wenn’s alle machen, verstehen kann man es ja, aber nicht der Emil Bruhn! Der nicht!«
»Dicke Luft! Rusch!!«
Kufalt springt vom Spion fort, ans Fenster. Draußen hört er den Hauptwachtmeister hinter dem Kalfaktor her schimpfen.
Ja, es ist doch möglich! denkt Kufalt. Emil Bruhn, so ein armes Aas! Immer solche muss es treffen. Immer still gewesen, nie hat er ’ne Stange angegeben, all die elf Jahre nicht – dich haben sie fein angeschissen mit deiner Freude aufs Rauskommen! Und wenn du auch nur ein paar Wochen Knast kriegst, die Bewährungsfrist ist doch verfallen, und du fängst noch einmal von vorne an.
Er hat Angst, der Willi Kufalt, er fühlt, ihm kann es auch so gehen. Keiner kann so auf sich aufpassen, der rauskommt aus dem Bau, irgendwie ist ihm ein Bein gestellt …
Wer einmal aus dem Blechnapf frisst, frisst immer wieder daraus!
Kufalt besinnt sich. Er nimmt das Heft von der Wand, das blaue Heft mit dem Auszug aus der Strafvollzugsordnung. Er blättert nur einen Augenblick, dann liest er:
»Bei dem Vollzuge der Strafen sind mit der Zufügung des Strafübels und mit der Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung geistige und sittliche Hebung, Erhaltung der Gesundheit und Arbeitskraft anzustreben. Auf Erziehung zu einem geordneten, gesetzmäßigen Leben nach der Entlassung ist besonders hinzuwirken. Das Ehrgefühl ist zu schonen und zu stärken.«
Kufalt schlägt das Heft wieder zu. Na also, denkt er. Dann ist ja alles in schönster Butter. Klappt der Laden. Alles richtig, wie es ist. Was so ’ne Leute sich bei so was denken …
Es ist dreizehn Uhr fünfzehn, Kufalt steht da mit der Uhr in der Hand. Er wartet. Sein Herz klopft sehr. Schritte kommen, nähern sich, gehen an seiner Zelle vorbei. Wenn die mich vergessen, die Lumpen …! Wenn die mich aus Schikane drei Minuten länger warten lassen …!
Schritte kommen, nähern sich, machen vor seiner Zelle halt. Papier raschelt. Dann wird der Schlüssel ins Loch gestoßen, der Riegel geht zurück, und Oberwachtmeister Feder sagt gelangweilt: »Na, denn kommen Sie man mit Ihren sieben Zwetschgen, Kufalt!«
Er geht, er sieht noch einmal zurück, gegen den Glaskasten, die Zentrale. Da ist der große Bau mit seinen siebenhundert Zellen, er ist hier zu Haus gewesen, Jahr um Jahr, viele Jahre zu Hause. Um die Ecke späht sein Stationskalfaktor, ob er schon in die Zelle rein kann. Er nickt ihm zu.
Dann durch den Kellergang beim Hausvater vorbei. Hier ist alles still. Kufalt fällt etwas ein. »Ist das wahr, Herr Oberwachtmeister, mit Bruhn? Dass der schon wieder sitzt?«
»Habe was gehört, kann aber auch ’ne Scheißhausparole sein.«
»Hier ist er noch nicht wieder?«
»Nee, kann er auch nicht. Muss doch erst zum Richter, der Haftbefehl erlässt.«
Sie kommen über den Vorhof. Im Torgebäude steht Oberwachtmeister Petrow.
»Na, komm, mein Sohn. Komm, viele Pinunse kriegst du.«
In der Wachstube quittiert Kufalt.
»Steck sie gut weg, deine Pinunse, wirst du brauchen. Warte, Scheine in Geldtasche. So. Hast du schöne Tasche. Dass sie immer voll ist! Und hier in Porteh1 Silber und hier Messing und hier Kupfer. Und nun komm, mein Jung.«
Sie stehen unter dem Torbogen. Petrow schiebt Riegel um Riegel zurück. Dann nimmt er den Schlüssel.
»Musst du jetzt loslaufen, ohne Umsehen. Musst nicht wieder rücksehen auf Kittchen. Spuck ich dich dreimal in Rücken, musst du nicht abwischen, ist gut dafür, dass du nicht wiederkommst. – Hau ab, mein Sohn!«
Das Tor geht auf. Kufalt sieht vor sich einen großen besonnten Platz in greller Sonne. Der Rasen ist grün. Die Kastanien blühen. Menschen gehen drüben, Frauen in hellen Kleidern.
Er geht langsam und vorsichtig hinaus ins Licht.
Nein, er sieht sich nicht um.
1 kurz für Portemonnaie, Geldbörse <<<
Erstens hatte Petrow viel zu doll auf den Mantel gespuckt; Kufalt hatte das Gefühl, alle Leute lachten. So hing er den Mantel über den Arm, die Placken verwischten sich nun zwar, aber das galt nicht: Er kam doch nicht wieder rein!
Zweitens hatte er vom Zug auf die Stadt zurückgeschaut, da sah er plötzlich zwischen den Häusern noch einmal die grauen, steilen Zementwände mit ihren vielen Gitterlöchern – auch das galt nicht, denn jetzt fuhr er dem Bunker fort: Er kam doch nicht wieder rein!
Wenn er es aber recht überdachte, jetzt im Zug, so hatte er doch schon Verschiedenes ganz verkehrt gemacht. Einmal hatte er sich eine Autodroschke genommen zum Bahnhof, weil ihn die Leute so ansahen, er konnte es nicht vertragen, dass sie ihn so ansahen. Und dann hatte er auf dem Bahnhof zu Mittag gegessen, wo er doch im Kittchen seinen Rumfutsch hatte stehenlassen. Und dann zehn Zigaretten zu sechs, die Sorte vom Direktor. Und dann eine Zeitung. Und dann, was das schlimmste war, zum Mittagessen auch noch ein Glas Bier, trotzdem er dem Alkohol abgeschworen hatte. Fünf Mark neunzig völlig überflüssig ausgegeben, die Arbeitsbelohnung für dreiundsechzig Pensums. Dreiundsechzig Tage hatte er dafür stehen müssen und stricken, und im Anfang hatte er zwölf, dreizehn Stunden für ein Pensum gebraucht. In zwei Stunden weg, die Arbeit von dreiundsechzig Tagen, es fing ganz niedlich wieder an!
Eigentlich hatte er sie sich etwas anders gedacht, die Fahrt in die Freiheit. Da ging es nun durch das sommerliche Land, gewiss, es war ganz angenehm anzusehen, aber hatte er Zeit dafür? Er musste sich Sorgen machen, ebenso Sorgen wie in der Zelle. Und wie es mit dem Heim wurde …?
»Kann einer von den Herren mir wohl sagen, wo ich in Hamburg aussteigen muss, wenn ich zur Apfelstraße will?«
Stille – schon fürchtet Kufalt, keiner wird antworten, schon wird ihm zweifelhaft, ob er wirklich laut gefragt hat, da lässt der Herr in der Ecke die Zeitung sinken und sagt: »Apfelstraße? Da müssen Sie beim Hauptbahnhof umsteigen. Sie fahren dann noch bis Berliner Tor weiter.«
»Erlauben Sie mal«, widerspricht der Herr neben Kufalt, »das stimmt doch nicht. Da ist doch keine Apfelstraße. Wo soll die denn da sein?«
»Natürlich ist sie da. Das ist die bei der Badeanstalt …«
»Der Herr hat Ihnen nicht richtig Bescheid gesagt«, bemerkt Kufalts Nachbar, »Holstenstraße müssen Sie aussteigen. Die Apfelstraße ist da gleich …«
Ein kleiner Dicker entscheidet: »Der Herr hat recht. Und der Herr hat auch recht. Es gibt nämlich eine Apfelstraße in Altona und eine in Hamburg. Zu welcher wollen Sie denn?«
»Mir ist gesagt worden, Hamburg.«
»Dann müssen Sie also bis Berliner Tor fahren, Hauptbahnhof umsteigen.«
Stille herrscht.
Plötzlich fängt Kufalts Nachbar neu an: »Wo wollen Sie denn da hin in der Apfelstraße? Man sagt das so hin, Hamburg, und nachher ist doch Altona gemeint.«
»Bitte, der Herr hat gesagt, Hamburg, also muss er auch Berliner Tor raus.«
»Ist Ihnen denn ausdrücklich gesagt worden: Hamburg? Oder nur so hin?«
»Ja, ich weiß doch nicht. Ich will zu Verwandten.«
»Und wie haben Sie denn geschrieben an die Verwandten: Hamburg oder Altona?«
»Ja – ich habe nie selbst geschrieben. Das hat jemand für mich gemacht – meine Mutter.«
Der Nachbar hat ein pickliges Gesicht und blinzelnde Augen. Außerdem riecht er schlecht, wenn er sich so nah zu Kufalt beugt. »Du willst doch – dahin?« flüstert er.
»Wieso? Wohin«, tut Kufalt.
»Na, Mensch. Ich weiß doch. Und ich rate dir, steig Holstenstraße aus, da ist es. Sonst tippelst du nachher mit deinem Koffer durch die ganze Stadt.«
»Ja, danke. Ich weiß ja nicht. Ich fahre zu Verwandten nach Hamburg.«
»Wenn du mit denen verwandt bist …«
Kufalt verflucht sich, dass er dies Gespräch entfesselt hat. Sucht nach seiner Zeitung.
»Wenn ich du wäre, ich führe ja lieber zu den Hallelujabrüdern in der Steinstraße.«
Kufalt entfaltet die Zeitung.
»Da kostet es auch nur vier Groschen die Nacht.«
Kufalt liest.
»Wenn du willst, ich trag dir deinen Koffer.«
Kufalt hört nicht.
»Ich geh dir damit nicht über den Harz, verstehste. Ich trag dir den Koffer, und wenn du bis Blankenese tippelst.«
Kufalt steht auf und geht aufs Klo.