Als Kufalt am nächsten Morgen auf die Schreibstube kommt, sitzt Beerboom schon an seinem Platz und schmiert, die Schultern hochgezogen. Von hinten fasst Kufalt ihn und zieht ihn hoch. Schon sieht er wieder den weinerlichen, flehenden Blick: Beerboom ist unglücklich, dass ihm alles verquer geht.
»Beerboom, Idiot«, sagt Kufalt und nimmt nicht die geringste Rücksicht auf die geheiligte Ordnung der Schreibstube. »Wenn’s Ihnen noch einmal einfallen sollte, meiner Wirtin oder irgendeinem Menschen im Hause zu erzählen, dass Sie ein Raubmörder sind –: Ich kriege Sie und …«
Er schüttelt ihn.
Beerbooms Körper wird unter seinen Fäusten ganz weich, er wankt hin und her, wie knochenlos.
»Pssst!« macht Mergenthal. »Herr Kufalt, ich muss doch sehr bitten …«
»Sie sind ein Idiot!« sagt Kufalt zu Beerboom. »Aber wenn Sie zehnmal ein Idiot sind, ich verdresche Sie derartig …!«
»Ich will’s ja auch nicht wieder tun«, bereut Beerboom. »O Gott, was bin ich unglücklich! Sie war so teilnahmsvoll, ich dachte, sie hätte Mitleid mit uns. Sie hat gefragt, warum wir so ’ne gelbe Farbe hätten, wir arbeiten wohl in einer chemischen Fabrik, und da habe ich …«
»Idiot!« sagt Kufalt, gibt Beerboom noch einen abschließenden Stoß und setzt sich. »Noch mal vermasseln Sie mir nischt. Ich schlag Sie tot, verstehen Sie!«
»Jetzt bitte ich aber endgültig um Ruhe«, sagt Mergenthal. »Sonst rufe ich Herrn Seidenzopf.«
Beerboom seufzt schwer. Und schreibt. Auch Kufalt schreibt. Er denkt: Der verquatscht mich nicht ein zweites Mal. Aber es gibt so viele Möglichkeiten. Auf dem Revier kann man der Wirtin einen Wink geben. Oder die schicken mir einen Brief vom Gefängnis nach. Oder eine Anfrage kommt … Auch Kufalt seufzt schwer.
Aber dann – in der von Seidenzopf großmütig verlängerten Mittagspause, aber Herrn Petersen schickt er doch zur Begleitung mit –, aber dann, auf dieser Einkaufsfahrt in das Warenhaus, sein Junggesellenheim auszustatten – da erweist es sich, dass er doch guter Stimmung ist.
»So. Teller, Tasse, Aufschnittschale haben wir. Was braucht man sonst noch als Junggeselle, Fräulein?«
»Eine Käseglocke?«
»Käseglocke? Vielleicht. Was kostet eine Käseglocke? Nein. Aber eine Butterdose, Fräulein, dass Sie daran nicht gedacht haben …!«
Kufalt, Petersen und Fräulein kaufen eine Butterdose. Aber: Solch möbliertes Zimmer ist keine Speisekammer, ist oft heiß, also diese Tondose mit Wasserkühlung …
»Sehr teuer. Und ob es praktisch ist …?«
Der Student erläutert: »Wissen Sie, Kufalt, es beruht auf dem Prinzip der Verdunstung. Sie müssen es in den tollsten Sonnenschein stellen, umso kälter wird es, verstehen Sie? Schon die alten Ägypter …«
»Also schön, Fräulein, was braucht man noch für einen Junggesellenhaushalt? Nichts? Fertig? Alles erledigt? Dann schreiben Sie auf … Ich finde das Porzellan ja wirklich hübsch mit diesem roten Rand …«
»Ich an Ihrer Stelle«, sagt das Fräulein mit einem schrägen, raschen, lächelnden Aufblick von ihrem Kassenblock, »ich an Ihrer Stelle hätte mir alles ja gleich doppelt gekauft …«
»Doppelt?« fragt Kufalt. »Butterdose doppelt?«
»Nein«, lacht sie, »Butterdose nicht. Aber Teller und Tassen. Man bleibt ja doch nicht allein.«
»Ach nee!« sagt Kufalt lachend. »Sie müssen’s ja wissen.« Und nachdenklich schaut er den weißen, sanften Brustausschnitt im schwarzen Kleid an.
»Weiß ich auch«, lacht sie halb verlegen. »Und nachher kriegt man dasselbe Muster nicht wieder. Und es soll doch alles zusammenpassen.«
»Das soll es«, bestätigt Kufalt, angesichts der atmenden Brust. In der Zelle, in den fünf Jahren, hatten sich die früheren Mädchen verbraucht. Sie waren ihm zergangen, sie waren so oft zurückgeführt auf die einfachsten körperlichen Dinge, sie waren ineinander übergegangen. Erst glichen sie einander alle, dann entschwanden sie in einem Nebel, Haar und Fleisch – nichts mehr …
Nun, an diesem herrlichen Juninachmittag, da Kufalt wieder Umschlag nach Umschlag in die Maschine spannt, schmettert, ausspannt – nun ist das buntere Leben wieder da: ein Herzgesicht und ein weißer, atmender, milchfarbener Ausschnitt. Schon zwei. Schon zwei statt keiner.
Alles hängt zusammen. Da war die Verabredung mit Batzke gewesen. Es wäre trübe und gemein geworden, es kam aus der Zelle, es ging in die Zelle.
Das junge lebendige Grün im Garten, die strahlende Sonne, ein Herzgesicht und: »Man bleibt doch nicht allein« – kann eine Schreibmaschine singen …? Er singt im Takt: »Es gibt einen Weg ins Freie – man bleibt ja doch nicht allein. – Es gibt einen Weg ins Freie – am besten gehst du ihn zu zwein …«
Nette Welt, denkt er.
*
Die alte Behn ist im Zimmer und hilft ihrem neuen Mieter beim Auspacken.
Was die junge Behn ist …
»Die Liese«, sagt die alte Behn, »ich weiß nicht, was immer mit der Liese ist. Ich kann es Ihnen so genau nicht sagen, aber jeden Abend ist sie unterwegs. Sie sagt, sie höre im Hammer Park Musik – was das wohl für ’ne Musik ist, die die hört.«
Oh, was für ein böser Drache! denkt Kufalt und fragt laut: »Ist es Ihre Einzige, Frau Behn?«
»Nee, dreizehn. – Nun könnte sie Ihnen so fein helfen bei den Sachen, aber nein, Musik. Wissen Sie, als ich jung war, ich habe nichts gekannt wie Arbeit, von früh viere bis nachts zehne. Ich bin bei den Bauern gewesen seit meinem vierzehnten Jahr …«
»Dreizehn Kinder haben Sie?«
»Zwei leben noch. – Nachher hab ich in die Stadt gemacht. Aber dumm bin ich gewesen. Die Frau sagt zu mir in der Stadt: ›Geh, hol vier Pfund Roastbeef.‹« (Sie spricht es Rossbehf.) »Ich steh auf der Straße, ich denke: Nein, Pferdefleisch essen, das fängst du gar nicht erst an. Ich sag zur Frau: ›Rossbehf is alle.‹ Hat die ’nen Stunk gemacht, wie sie dahinterkam, warum ich nie Rossbehf brachte.«
Die alte Frau lacht, Kufalt lacht mit.
»Heute sind die Mädchen schlauer, aber die Liese könnte es ruhig halbweg ein bisschen sachter angehen lassen. Jeden Abend unterwegs …«
»Wenn man jung ist, Frau Behn.«
»Ich sage ja nichts! Ich sage doch nichts! Die Liese ist so schlecht noch nicht, sie gibt pünktlich ihr Kostgeld. Aber mein Junge, der Willi, soviel Geld verdient er, Chauffeur ist er. Aber ein Räuber. Ein Räuber. Kommt, sagt: ›Mutter, hast du was zu essen?‹ Isst mir mein Essen weg, fragt: ›Mutter, hast du zehn Mark? Du kriegst sie heute Abend wieder, ich muss nur schnell mal tanken.‹ – Geht, lässt sich vier Wochen nicht wieder sehen. – Man müsste keine Kinder haben, junger Herr, wozu? Man rackert sich ab, füttert sie, dann gehen sie weg, aber ewig ziehen sie von einem.«
»Aber doch nicht alle, Frau Behn, Sie sagen doch selbst, Ihre Tochter …«
»Was sage ich? Weil sie ihr Kostgeld bezahlt? Darum? Weil sie mir, wenn’s schiefgeht, ihren Balg andrehen will, junger Herr, darum doch! Ich bin nicht dumm, ich bin vom Lande, ich weiß, wie’s kommt. Die Mädchen sind heute so schlau, sie lachen. Sie sagt: ›Mutter, was du denkst, is nich …‹ Ich sage: ›Wieso is nich?‹ – ›Na, lass man, Mutter‹, lacht sie. ›Bei mir Fehlverbindung von wegen dreizehn wie du – das is nich.‹ Aber ich sage …«
Kufalt ist heiß geworden, er rückt mit den Schultern im Jackett hin und her, er sieht nach dem Fenster hin.
Nein, das Fenster steht offen, ein guter Nachtwind bewegt die Gardinen.
»Ja, die Bücher«, sagt er gedankenlos. »Wo bleiben wir mit den Büchern? Vielleicht können Sie die Nippes vom Vertiko nehmen, Frau Behn?«
»Kann ich«, sagt die Alte. »Mir macht das nichts. Der eine Mieter will die Bilder von den Wänden, der andere will keinen Nachttopf – Sie wollen keinen Nipps – mir ist es Wurst, wir werden alle auf die Schippe genommen, wie wir gebacken sind. Aus Büchern wird man auch nicht schlau.«
»Nein«, bestätigt Kufalt.
»Weiß ich«, sagt die Alte befriedigt. »Sie haben Ränder um die Augen, und wenn ich von der Liese klöne, können Sie nicht hergucken. Ich versteh alles, lieber Herr, mir macht es nichts mehr. Eins rat ich Ihnen (aber Sie hören doch nicht), lassen Sie sich mit der Liese nicht ein, die ist ein Aas, die kennt kein Mitleid …«
»Wer ist ein Aas? Wer kennt kein Mitleid?« fragt es von der Tür, und die beiden über der großen Kiste fahren zusammen wie ertappte Sünder.
Liese Behn steht in der Tür, klein: ja. Zierlich: ja. Herzgesicht: ja. Aber eine senkrechte böse Falte zwischen den Augenbrauen. Mit einem roten Mund, aber mit einem scharfen, schmalen Mund.
»Hast du wieder gequatscht, Mutter? Hast du wieder die Zunge laufen lassen, Mutter? Hat sie Ihnen wieder erzählt, dass ich eine halbe Hure bin, Herr Kufalt? Dass ich es mit allen Männern habe? Leg dich schlafen, geh raus, Mutter. Sollst dich was schämen. Pfui!«
Die Alte mit dem runden, verarbeiteten Buckel hat lautlos mit leerem Gesicht neben der Kiste gehockt, ohne ein Widerwort, ohne das Gesicht auch nur zu bewegen. Jetzt steht sie auf, schlurft ohne ein Wort mit gesenktem Kopf gegen die Tür. Sie zögert, die Tochter steht im Türrahmen, die macht kein bisschen Platz. Die Alte guckt demütig, dann drückt sie sich vorbei, ohne ein Wort. Das Schlurfen verklingt auf dem Gang, eine Tür fällt zu, Stille.
Kufalt, auch beklommen (jetzt komme ich dran), wirft einen scheuen Blick auf das Mädchen. Sie steht noch genauso da, benagt die Unterlippe, sieht ihn nicht an. Er hebt einen Stoß Bücher aus der Kiste, geht zum Vertiko, sieht die Liese von der Seite an.
Sie trägt ein Kleid mit roten Tupfen, weiß, ihr heller Hut ist innen auch rot – nun ja, die Alte hat sicher gelogen, so sieht sie nicht aus …
»Mutter ist krank«, sagt sie stockend. »Am besten, Sie reden gar nicht mit ihr, sie erfindet von allen Menschen Geschichten, lauter Schmutz …«
»Jaja«, sagt Kufalt. »Man braucht Sie nur anzusehen, Fräulein Behn …«
»Sie sollen mich nicht ansehen!« ruft sie und stampft mit dem Fuß auf. »Jetzt nicht. Jetzt danach nicht. Gestern Abend ja, heute nein.«
»Ich stelle die Bücher weg«, murmelt Kufalt. »Ich sehe gar nicht hin.«
Eine Weile ist Stille. Kufalts Herz klopft sehr, alles ist doch anders, wie wachsen Menschen auf, Mädchen, was gibt es alles …
Sie räuspert sich. Sie nimmt ein Buch, sieht es an, stellt es weg, sieht ein anderes an. Was sagt sie? Sie sagt: »Also, gute Nacht.«
Sie geht aus dem Zimmer, sieht ihn nicht wieder an, gibt ihm nicht die Hand.
Es ist auf der Schreibstube immer davon gemunkelt worden, dieser Betrieb in der Apfelstraße sei nicht der einzige Schreibsaal des Pastors Marcetus, es gebe noch einen anderen drinnen in der Stadt, neuzeitlich eingerichtet, wo es nicht nur Adressen zu schreiben gäbe, sondern auch feinere Arbeit: Briefe, Manuskripte, Diktate. Aber es war nicht mehr als Gemunkel, Bestimmtes wusste keiner. Manchmal ging ein kleiner, dicker, rotpickliger Mann durch die Schreibstube Apfelstraße, er hieß Jauch, und Herr Mergenthal wie Herr Seidenzopf waren sehr höflich zu Herrn Jauch. Manchmal auch verschwand der eine oder andere Schreibstubenarbeiter, Herr Seidenzopf ging mit ihm fort, er kam nicht wieder.
Gab es die sagenhafte Schreibstube wirklich?
Ein paar Tage nach Kufalts Umzug in die Marienthaler Straße erscheint Vater Seidenzopf auf der Schreibstube und sagt: »Herr Maack! Herr Kufalt! Liefern Sie die fertige Arbeit ab. Geben Sie die Adressbücher zurück. Säubern Sie Ihre Arbeitsplätze. Ziehen Sie sich Ihre Mäntel an, und setzen Sie Ihre Hüte auf. Sie treffen mich auf dem Vorplatz.«
Die anderen sehen nur einmal hoch, und schon schreiben sie weiter, nur der ewige Beerboom stimmt seinen Klagegesang an: »O Gott, o Gott, Sie kommen wohl weg? Und wann komme ich aus dieser Bruchbude? Sie haben’s fein. Wieso Sie eigentlich, Kufalt, versteh ich nicht. Sie schreiben doch höchstens siebenhundert Adressen.«
Kufalt schüttelt Mergenthal die Hand, sagt in die Luft hinein unter der Tür: »Guten Morgen«, und trifft Vater Seidenzopf auf dem Vorplatz.
»Wo bleibt Herr Maack? – Schön, da sind Sie, mein lieber Maack. Also gehen wir. Wir müssen schnell gehen, viele Dinge harren heute noch meiner. Ein schöner Tag das, ein rechter Gottestag, überhaupt ein recht erfreuender Sommer, dies Jahr.«
Er zottelt zwischen den beiden großen, jungen Männern, der kleine, ältliche Mann mit dem schwarzen, krausen Bart, er brabbelt so vor sich hin.
»Wohin gehen wir eigentlich, Vater Seidenzopf?« fragt Kufalt.
»Still, mein junger Freund, husch!« macht Vater Seidenzopf. »Man muss warten können. Warten. Ausgezeichnet werden Sie vor vielen – haben Sie einmal von der Schreibstube Presto gehört, dem modernsten Betrieb Hamburgs? Nun, Sie werden sehen, Sie werden erleben.«
Und am Schalter der Hochbahn: »Ja, wie ist es, meine Herren, wollen Sie Ihre Fahrkarten nicht selbst lösen? – Nun gut, ich verauslage den Betrag, er kann Ihnen von Ihrer nächsten Arbeitsbelohnung abgezogen werden. Oder …«, er kämpft sich zu einem heroischen Entschluss durch, »… wir können auch großzügig sein –: Es werden Spesen der Schreibstube werden.«
Vater Seidenzopf findet einen Sitzplatz, Maack und Kufalt stehen an der Tür und rauchen.
Kufalt sagt: »Es freut mich, dass wir zusammen auf die neue Schreibstube kommen.«
»Ja? Jauch soll ein wahnsinniges Schwein sein.«
»Jauch …?«
»Der dicke Rotpicklige, der manchmal bei uns durchkam. Das ist der Bürovorsteher von Presto.«
»Sie wissen Bescheid? Ach, Maack, Sie reden auch nie ein Wort! Ist es so eine Schreibstube wie bei uns? Verdienen wir mehr da?«
»Vielleicht, wenn Sie zu irgendeiner Firma zur Aushilfe geschickt werden. Oder wenn Sie auf die Diktatstube kommen. Aber das dauert noch lange. Erst geht es wieder mit den Adressen los. Dann bekommen Sie Zeugnisabschriften und so was. Und wenn das alles gut gegangen ist und, die Hauptsache, Ihre Nase gefällt dem Jauch, dann bekommen Sie eine Aushilfe.«
»Aber in den Satzungen heißt es doch, wir sollen nur möglichst kurz auf den Schreibstuben arbeiten und möglichst rasch in die Betriebe.«
»Ich will dir was sagen, Kumpel«, erklärt Maack. »Das ist doch alles Mist, das ist doch nur darum, damit sie uns immer gleich auf die Straße setzen können, wenn ihnen was nicht passt oder die Arbeit wird knapp. Siehst du, ich arbeite seit anderthalb Jahren für die, ich bin noch nicht mal arbeitslosenversichert. Wenn ich krank werde, muss ich auf die Wohlfahrt und um einen Arzt betteln – und die sparen sich die Krankenkassenbeiträge.«
»Aber das ist doch Gesetz, dass jeder, der arbeitet, versichert ist!«
»So blau, die sind doch ein Wohltätigkeitsverein. Das ist doch Gnade, das Geld, das wir am Sonnabend kriegen. Wir arbeiten doch gar nicht richtig!«
»Na, weißt du …«
»Ich weiß schon, was man machen müsste. Drei, vier Kerls, die stiekum sind, und ein paar Kröten. Ich spare schon wie wild, aber der Pfaffe, der Marcetus, sagt ja, mehr als drei Mark soll man möglichst nicht den Tag verdienen, mehr verführt zu Liederlichkeit.«
»Na, glaubst du, dass der nur drei Mark am Tage verdient?!«
»Eben! Verdienst du je mehr als zwanzig Mark die Woche? Mal einundzwanzig, mal zweiundzwanzig, wenn du dir die Finger wund schreibst, aber da ziehen sie schon Gesichter und möchten die Löhne am liebsten wieder runtersetzen. Ich, ich wohne mit einer zusammen. Verkäuferin, kriegt fünfundsechzig Mark im Monat – was kann man da viel sparen?«
»Glaubst du, dass man mit hundert Mark im Monat leben kann?« fragt Kufalt ängstlich.
»Aber sicher! Aber gut kannst du das! Was gibst du fürs Zimmer?«
»Fünfundzwanzig.«
»Viel zu viel. Ich besorg dir eins mit fünfzehn. Mit zwölf. Was brauchst du denn schon? Bett und Stuhl, alles andere ist doch nur Quatsch, wenn man vorwärtskommen will. Machst die Bude selber sauber, unterm Dach irgendwo. – Nun pass auf: Essen morgens und abends zusammen fünfzig Pfennig, mittags noch mal fünfzig Pfennig …«
»Es gibt doch keinen Mittagstisch für fünfzig Pfennig!«
»Mittagstisch? Willst du jeden Tag warm fressen? Wer tut denn so was heute noch? Brot, Margarine, ein Bückling, ein halber Liter Milch, damit kommst du fein durch, fällst nicht von Kräften, und der« – Handbewegung – »steigt dir nicht zu Kopfe. Sonntags kannst du ja warm essen, neunzig Pfennig höchstens. Also fünfzehn Mark Miete, fünfunddreißig Mark Essen höchstens. Wäsche vielleicht fünf Mark, dann noch mal fünf Mark für Rauchen, Kino, und das alles macht zusammen im Monat sechzig Mark. – Vielleicht kann ich dir auch ein Mädchen besorgen, das ein bisschen was verdient. Dann fällt noch die Wäsche weg, und die Miete geht auf Kippe.«
»So machst du das«, sagt Kufalt bewundernd und fest entschlossen, es nicht so zu machen.
»Wie soll man es denn sonst machen? Überleg es dir, und wenn du willst, sag mir Bescheid, ich such dir dann ein Zimmer.«
Der Zug hält, Leute steigen aus und ein. Der Zug fährt wieder an.
»Sag mal«, sagt Kufalt zögernd, »hast du nicht mal dran gedacht, dass man ja viel leichter zu Geld kommen kann?«
Stille.
Dann sagt Maack zögernd: »Ja, Kumpel, da denken wir natürlich immer daran. Und verreden will ich es nicht. Ich gehör nicht zu den Brüdern, die immer ›nie wieder‹ schreien. Was weiß ich, was passiert? Wenn mein Mädel mir abhaut, weil irgend so ein reicher Stubben sie ködert, oder es schnappt mal. Das ist doch auch so ein Mist, dass der Gummi viel zu teuer für unsereinen ist. Dann fasse ich vielleicht wieder was an. Aber sonst – ausgeschlossen, den Laden kenne ich nun.«
»Aber was hast du denn von deinem Leben? Alles Nette kostet Geld, und du kriegst nie was.«
»Ich verrede es ja nicht, ich sage, ich weiß auch nicht, ob ich es durchhalte. Aber vielleicht kriecht man wirklich mal wieder unter in einem Geschäft mit hundertvierzig oder hundertsechzig. Vorläufig versuch ich es weiter auf diese Tour …«
»Nun, meine lieben Freunde, haben Sie den Hafen im Sonnenschein gesehen? Die ›Cap Arcona‹ lag da, nicht wahr? Welch schönes Schiff! Da ist man doch stolz, dass man ein Deutscher ist!«
»Jawohl, Herr Seidenzopf.«
»Und nun, meine Lieben, führe ich Sie in unsere Schreibstube Presto. Machen Sie dem Friedensheim Ehre. Zeigen Sie sich würdig der Wahl.«
Die brummeln was vor sich hin.
Dann geht es eine Treppe in einem Bürohaus hinauf.
»Schreibstuben Presto – Erledigung sämtlicher Schreibarbeiten – Unerreicht billig – Unerreicht schnell – Unerreicht genau.«
»Mein lieber Herr Jauch, hier bringe ich Ihnen zwei neue Schützlinge, die sich bereits bei mir bewährt haben. Herr Maack. Herr Kufalt. – Nun, Sie haben die beiden schon bei mir gesehen.«
»Wieso zwei? Was soll ich mit zweien? Einen brauch ich, hab ich Ihnen gesagt. Immer machen Sie solche Geschichten! Aber natürlich, da heißt es, der Jauch, der Jauch wird das schon richten.«
Der kleine Dicke, mit dem kahlgeschorenen Kopf, ganz übersät von Pickeln, Pusteln und Mitessern, stürmt auf und ab.
»Können die überhaupt was? So sehen die nicht aus! Die haben Sie wohl los sein wollen? Na, Sie da, Sie, Sie! Ja, Sie meine ich, setzen Sie sich mal da an die Maschine! Haben Sie so ’ne Maschine schon mal gesehen? Ist ’ne Schreibmaschine, wissen Sie! Zum Schreiben, verstehen Sie! Mit Durchschlag, normalzeilig, ich diktiere. Mein Gott, mein Gott, mein Gott, mein himmlischer Heervater, wie spannen Sie das denn ein?! Heißt das Einspannen? Zwei Millimeter sitzt der Bogen mindestens schief, und die Verschiebung wächst proportional! Verstehen Sie das …?«
»Ja …«, flüstert Kufalt.
»Ja, sagt er, aber er hat keine Ahnung. Ich diktiere: Hamburg, am 23. Juni … Lieber Seidenzopf, was für ein Anschlag! Nehmen Sie den Mann wieder mit, hier brauchen wir perfekte Kräfte. Ich diktiere: Sehr geehrter Herr … Wo ist denn das S? Das schwebt ja, schlagen Sie die Taste gefälligst ordentlich an! Wie Maschinengewehrfeuer muss das klingen, wenn Sie schreiben. Sind Sie im Felde gewesen? Nein, natürlich nicht, wie sollen Sie da wissen, was Maschinengewehrfeuer ist?! Lieber Herr Seidenzopf, nehmen Sie den Mann wieder mit. Ich habe hier keine Schreibschule. Ausgebildete Kräfte brauche ich. Ich diktiere: Bezug nehmend auf Ihr Wertes vom 3. currentis … O Gott, o Gott, o Gott …«
»Lieber Freund Jauch …! Meine Herren, ich bitte Sie, gehen Sie erst einmal in die Schreibstube, sehen Sie sich da um. – Also hören Sie, lieber Jauch, Herr Pastor Marcetus wünscht …«
»Was für ein Schwein!« flüstert Kufalt atemlos.
»Lass dich doch nur nicht aus der Ruhe bringen, du warst ja ganz nervös.«
»Wenn der Kerl ewig meckert!«
»Lass ihn doch meckern, brauchst ja nicht hinzuhören.«
Sie sehen sich um.
Eigentlich ist es genau dasselbe wie in der Apfelstraße. Nur etwas größer: nicht zehn, sondern zwanzig Maschinen, nicht zehn, sondern zwanzig Schreiber.
Die Tür zu einem Nebenzimmer öffnet sich. Ein Mädchenkopf erscheint, dann noch einer. Sie betrachten ungeniert die beiden Neulinge und verschwinden wieder.
»Die Zibben sind neugierig«, flüstert Maack.
»Sind die auch wie wir?«
»I wo. Das sind ganz feine, mit unsereinem sprechen die überhaupt kein Wort. Die sind fest engagiert, die Weiber, zum Bedienen der Vervielfältigungsmaschinen. So was kann man Vorbestraften ja doch nicht anvertrauen.«
Die Tür zum Chefbüro öffnet sich.
Seidenzopf geht hastig. »Also leben Sie wohl, meine jungen Freunde.«
Dann nach einer Weile kommt Herr Jauch, sehr mürrisch.
»Das ist Ihre Maschine. Und das Ihre. Arbeit habe ich heute nicht für Sie. Sehen Sie sich die Maschinen an. Sie, Sie können das große S üben. So was von Schreiberei habe ich noch nicht gesehen! – Hören Sie mal, wenn ich mit Ihnen spreche, sehen Sie nicht die Maschine an, dann sehen Sie mich an, ja? Was ist das für eine Schrift auf dieser Karte?«
»Vervielfältigte Schreibmaschinenschrift«, sagt Kufalt nach einigem Überlegen.
»O Gott, o Gott, himmlischer Herr, mit so was soll man nun arbeiten! Violette Schrift ist das! Die Farbe ist violett, ja?«
»Ja.«
»Na, gottlob, ich dachte schon, Sie würden sagen, sie wäre grün.«
Herr Jauch meckert, und im Saal an den Schreibmaschinen heben sich da und dort Köpfe und meckern nach. Maack sieht umher und merkt sich die Köpfe, die gesenkt bleiben.
Jauch fährt fort: »Dort ist ein Kasten. Sehen Sie den schwarzen Kasten dort?«
»Ja.«
»In dem sind Farbbänder. Sie suchen sich da für Ihre Maschine ein violettes Farbband aus, nicht grün, werter Herr (würden Sie auch kaum finden). Violett, das genau zu dieser Schrift passt. Aber genau! Ganz genau! Dasselbe Violett. Auf einen Zehntel Grad genau. Verstanden?«
»Ja.«
»Also machen Sie das.«
Jauch verschwindet, die beiden suchen im Kasten.
»Haben Sie ’ne Ahnung, was ein Zehntel Grad Farbe ist?«
»Keinen Schimmer. Na, Sie kriegen es nicht gut hier. Der hat Sie gefressen vom ersten Augenblick an. Ich werde es umso besser haben. Nehmen Sie dieses Farbband. Das stimmt am besten. Ich nehme das andere. So, nun wollen wir unsere Maschinen versuchen.«