Unter der Seufzerbrücke

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Unter der Seufzerbrücke
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Hans Herrmann

Unter der Seufzerbrücke

Zeitlose Prosa für zeitknappe Zeitgenossen

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Bumm

Schertenleib

Mord spielen

Unter der Seufzerbrücke

Das Gottesurteil

Weisse Rosen

Parkuhren füttern

Der Neue Roman

Der Pestwürger

Werren

Silen

Mad Sherlock

Die Rache des Uhrmachers

König für den Rest des Lebens

Ewiger Fall

Impressum neobooks

Vorwort

Ich weiss ich weiss ich weiss. Man soll keine Kurzgeschichten schreiben, sondern Romane. Krimis über irre Serienmörder, gejagt von leidgeprüften Ermittlerinnen, deren private Probleme schwerer zu lösen sind als der Fall selber. Oder Familiensagas mit lebensprallen Figuren, die einem wie Bruder und Schwester ans Herz wachsen und während anderthalb Jahren begleiten. Oder Thriller über die aktuelle politische Lage im Mittleren Osten, die alle zehn Seiten eine überraschende Wendung nehmen. Oder Fantasy-Epen über das Leben, Leiden, Kämpfen und Sterben der Heldengeschlechter auf dem Kontinent Nebulasia. Umfängliche Sachen eben, weit und uferlos wie das Meer, eine Einladung zum Ein- und Abtauchen.

Ja, man soll derlei schreiben. Zumindest für Leute, die Zeit haben, solche gross angelegten Erzählwerke zu lesen. Diese Zeit haben aber nicht alle. Und doch würden sich auch die Zeitknappen gerne ab und an ein Lesehäppchen einwerfen, im Zug von A nach B etwa, während der Mittagspause vielleicht oder vor dem Einschlafen. So ein klein portioniertes, mundfertig angerichtetes Lesestück, ein literarisches Sushi-Röllchen gewissermassen, rasch zu konsumieren und leicht zu verdauen.

Sie gehören auch zu diesen Kurz- und Schnelllesern? Dann liegen Sie hier gerade richtig. Es ist angerichtet. Bedienen Sie sich! Die Geschichten in diesem Band sind nicht nur kurz, sondern auch bekömmlich – gewürzt mit einem Schuss Hintersinn, einer Prise Wahnsinn, einem Löffel Tiefsinn, einer Messerspitze Frohsinn und zwei, drei Tropfen Blödsinn.

Guten Appetit!

Bumm

Als Sebastian von der Arbeit nach Hause kam, sah er, dass sein Haus weg war. Explodiert, bumm. Wohl ein Gasunfall. Sebastian war der Erste, der von der Zerstörung erfuhr; das Haus lag einsam an einem Waldrand und war von der Stadt aus nicht zu sehen. Sebastian glaubte sich zwar zu erinnern, am Nachmittag so zwischen 15 und 15.30 Uhr mal einen lauten Knall gehört zu haben, aber er hatte dabei eher an ein Überschallflugzeug oder eine Felssprengung gedacht denn an eine Hausexplosion.

Es war nur ein kleines Häuschen, aber immerhin, es gehörte Sebastian, war sein Zuhause, sein Eigentum, von einem Grossonkel geerbt. Und jetzt: bumm. Alles weg. Dach, Mauern, Fenster, Tisch, Stühle, Bett, Stereoanlage, Bücher, Computer, Ausweise, Bilder.

Sebastian war nahe am Heulen. Dann aber obsiegte der Berufsmann. Er war Reporter bei einer Tageszeitung. Er zückte das Handy und rief die Redaktion an.

«Hier Sebastian», sagte er zum diensthabenden Redaktor. «Ich habe einen Primeur. Mein Haus ist in die Luft geflogen. Es weiss es ausser mir noch niemand. Schickt einen Fotografen. Soll ich die Geschichte gleich selber schreiben?»

«Ja, schreib sie selber – ich meine, wenn’s dir nichts ausmacht und du dich nicht befangen fühlst. Und bitte aktuell. Ich schiebe den geplanten Hauptstoff und nehme dafür deine Explosion. Dazu bringen wir ein schön grosses Bild», sagte der Diensthabende angeregt.

Sebastian öffnete seine Umhängetasche, nahm Schreibblock und Kugelschreiber, setzte sich auf einen Mauerrest und machte sich zügig ans Werk. Er beschrieb den Schauplatz, schilderte, wie sich das Ereignis für den Besitzer anfühlte – was ihm diesmal besonders leicht fiel, weil er die Informationen nicht erst aus einem geschockten Fremden herauskitzeln musste – und spekulierte ein wenig über die Explosionsursache, indem er Vermutungen über ein Gasleitungsleck und einen elektrischen Funken anstellte.

Zwanzig Minuten später erschien Markus, der Fotograf.

«Stell dich da hin, ich will dich mit drauf», sagte Markus.

Sebastian stellte sich vor den Schutthaufen, der bis vor kurzem noch sein Haus gewesen war.

«Soll ich lächeln?», fragte er.

«Depp», sagte Markus.

Sebastian blickte ernst.

«Sehr gut», lobte Markus. Die Kamera machte klick.

Dann fuhren die beiden auf die Redaktion. Markus sichtete die Bilder, und Sebastian tippte seinen Bericht ins Redaktionssystem.

«Sind wir wirklich die Einzigen, die das haben?», fragte der Diensthabende, als er den fertigen Bericht gegengelesen hatte.

«Ich denke schon», sagte Sebastian. «Sicher können wir natürlich erst morgen sein. Kann ich noch irgendwas tun?»

«Nein, alles klar, danke bestens. Den Frontanriss schreibe ich selber.»

Sebastian verabschiedete sich und radelte nach Hause zu seinen Trümmern. Zufrieden setzte er sich unter einen Haselstrauch im Garten und blickte auf die Ruine.

‚Ich habe gut geschrieben’, sagte er zu sich. ‚Es war auch wieder einmal an der Zeit, bei all dem Stuss, den ich in letzter Zeit zusammengekritzelt habe.’ Vor dem Einschlafen unter dem Strauch dachte er noch: ‚Ich hätte vielleicht doch lächeln sollen.’

Schertenleib

Es war ein Haus aus der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre. Es hatte zwei Wohngeschosse und einen grossen Estrich. Ein Bekannter hatte mir über einen Bekannten, der die Hausbesitzerin kannte, die seit anderthalb Jahren leer stehende Wohnung im Obergeschoss vermittelt. An einem hochsommerlichen Tag zog ich ein, schuftend und schwitzend unter Mithilfe zweier kräftiger Freunde.

Im Erdgeschoss hauste ein älteres Ehepaar, Schertenleib mit Namen. Sie wohnten da, wie man mir gesagt hatte, schon seit Jahrzehnten. Sie bewirtschafteten auch den grossen Garten, der nicht das kleinste Unkraut und kein einziges dürres Blättchen aufwies. Es war dies eine Gemüseplantage, die vor Rechtschaffenheit nur so strotzte.

Ich hatte Herrn Schertenleib bereits eine Woche vor meinem Einzug meine Aufwartung gemacht. Er hatte mich unter der Pergola empfangen, mich bei einem Bier, das er pedantisch zu haargenau gleichen Teilen in zwei Steinguthumpen verteilte, eingehend befragt oder besser: verhört und dabei höflich zum Ausdruck gebracht, dass er, wenn schon nicht der Hausbesitzer, so doch der inoffizielle Hausmeister und ich ein unbedeutender Wurm sei. Dann setzte er den Humpen an und tat fünf oder sechs geräuschvolle Schlucke. Seine in sehnige Falten eingebettete Gurgel bewegte sich säbelnd auf und ab.

«Ich habe fünf Schafe», sagte er und sah mich lauernd an.

«Aha», sagte ich.

Er gab ein trocken blökendes Lachen von sich. Dann war ich entlassen – ob in Gnaden oder Ungnaden, wusste ich nicht.

Frau Schertenleib hatte ich an jenem Abend nicht zu Gesicht bekommen. Ich wusste aber, dass da eine Frau Schertenleib war. Warum ich es wusste, ist mir rückblickend unklar; es könnte sein, dass es mir mein Bekannter mit dem Bekannten, der die Hausbesitzerin – Sie wissen schon –, dass es mir also dieser Bekannte gesagt hatte. Es könnte aber auch sein, dass ich an jenem Abend ihre stille, verborgene Anwesenheit im Hausinnern instinktiv gespürt hatte. Überdies verströmte Schertenleib die Behaglichkeit eines Mannes, dem es gut ging, weil er den Haushalt nicht selbst zu führen brauchte.

Am Tage des Umzugs sah ich die Frau des Hauses zum ersten Mal; sie ging mit einem Kessel dampfenden Seifenwassers von der Waschküche hinauf in ihre Wohnung. Es war eine kurze, nichtssagende Begegnung.

«Guten Tag», sagte ich, während ich eine schwer bepackte Kiste mit Geschirr hinauftrug.

Sie murmelte etwas Unverständliches und verschwand mit dem Seifenwasser in ihrer Wohnung.

Herrn Schertenleib hingegen sah ich den ganzen Tag. Er werkte im Garten. Er trug ein weisses Trägerleibchen und hellbraune kurze Hosen. Seine Beine waren sonnengeröstet und storchendürr, mit Knien wie Knoten in einem Grashalm. Zwischendurch setze er sich auf die grün gestrichene Bank neben dem Hauseingang und sah uns beim Zügeln zu. Zuweilen machte er eine Bemerkung, etwas Launiges wohl, und lachte dazu rumpelnd. Überhaupt hatte er eine rumpelnde Stimme, laut und leicht verrusst.

 

Am nächsten Tag sah ich Frau Schertenleib ausführlicher, von meinem Küchenfenster aus, als sie mit ihrem Herrn Gemahl zum sonntäglichen Spaziergang aufbrach, er in kurzärmligem weissem Hemd vorab, sie in diskret geblümtem Rock behutsam zwei Schritte hintendrein. Ich beschloss, den Kontakt zu diesem Ehepaar soweit als möglich zu meiden.

Am Montagabend, als ich von der Arbeit nach Hause kam, wartete Schertenleib neben der Haustür auf mich.

«Herr Mieter», sprach er mich humorig an – er sollte mich fortan immer so nennen – «darf ich Ihnen rasch etwas zeigen?»

«Ja, bitte», sagte ich.

Er führte mich an die rechtsseitige Hausfassade. «Ich habe mir erlaubt, für Ihr Fahrrad hier einen Abstellplatz herzurichten», sagte er und wies schwungvoll auf ein grosses Brett, das er mit einem unterlegten Kantholz in die Waagrechte gebracht hatte. Der Plattenweg um das Haus herum stieg hier nämlich leicht an.

«Gestern habe ich gesehen», fuhr er fort, «wie Sie das Fahrrad beim Hauseingang abstellten, und da dachte ich mir, dass es nicht beim Eingang stehen sollte, sondern hier. Hier stört es weniger und ist erst noch besser vor Regen geschützt. Macht es Ihnen etwas aus, das Fahrrad künftig hier abzustellen?»

«Nein, ich werde es von jetzt an hier abstellen.»

«Und übrigens: Meine Frau bittet Sie, tagsüber sämtliche Fensterläden zu öffnen; das Haus macht mit offenen Fensterläden einen wohnlicheren Eindruck», fügte er hinzu.

«Ich habe einen Fensterladen im Schlafzimmer absichtlich zubehalten, weil ich dachte, vielleicht schadet zu viel Sonne dem Teppich», verteidigte ich mich zaghaft.

«Sie können ja einen schweren Stoffvorhang anbringen, das sieht weniger verschlossen aus als die Fensterläden.»

«Ich werde es mir überlegen. Und danke für den Abstellplatz.»

«Gern geschehen.»

Ich ging ins Haus. Es roch nach altem, blank geschrubbtem Holz, Kellermoder und Küchendunst. Im Treppenhaus begegnete ich Frau Schertenleib. Sie stieg mit einem Kessel schmutzigen Wassers, worin abgekämpft ein Waschlappen schwamm, in den Keller.

Schertenleib arbeitete in einer grossen Maschinenfabrik und stand am Morgen bereits um halb sechs Uhr auf. Das ging unter Gepolter und Getöse. Er liess dazu laut das Radio laufen – volkstümliche Musik – und gab mürrische Laute von sich. Seine Frau hörte ich derweil zudienend in der Küche hantieren.

Am Mittwochabend fing er mich bereits am Gartentor ab.

«Herr Mieter», sprach er und reckte seine wuchtige, das ganze Gesicht dominierende Nase vor. «Ich habe gedacht, vielleicht kommen Sie von selber drauf, aber ich sage es Ihnen besser doch: Auf dem Abstellplatz, den ich Ihnen gemacht habe, ist Ihr Fahrrad zwar gegen Regen einigermassen geschützt, aber eben doch nicht ganz. Ich schlage daher vor, dass Sie sich einen Überzug anschaffen, wissen Sie, so einen aus Plastik. Sicher ist sicher.»

«Danke für den Tipp», sagte ich. «Vielleicht kaufe ich mir bei Gelegenheit tatsächlich so einen Überzug, wer weiss.»

«Ich würde es Ihnen sehr empfehlen.»

Als ich das Fahrrad zum Abstellpodest schob, lief er mir wie ein Schatten nach.

«Sind Sie übermorgen Abend zu Hause?», fragte er. «Die Hausbesitzerin» – dieses Wort sprach er mit Ehrfurcht aus – «hat sich angekündigt. Sie möchte auch bei Ihnen schnell vorbeischauen.»

«Ist gut, ich werde da sein», sagte ich.

Die Hausbesitzerin kam mit einem hochrädrigen Geländewagen angefahren, einem in der Art, wie sie Segler oder Reiter bevorzugt fahren. Sie war eine blonde, sportliche Frau in mittleren Jahren. In ein paar Sätzen sprang sie die Treppe hoch und klingelte bei mir.

«Haben Sie sich eingerichtet? Haben Sie alles, was Sie brauchen?», fragte sie. «Rufen Sie mich an, falls noch irgendetwas etwas defekt sein sollte, ich lasse es reparieren.» Dann ging sie hinunter zu Schertenleibs.

Dort blieb sie ziemlich lange. Ich hörte sie reden; meistens aber redete Schertenleib. Als sie ging, wurde sie vom Ehepaar feierlich ans Gartentor eskortiert. Er trug zur Feier des Tages ein weisses Hemd, seine Frau ihren diskret geblümten Rock. Die beiden winkten, als die Hausbesitzerin wegfuhr. Sie winkten noch, als das Auto längst ausser Sichtweite war.

Am Dienstag in der zweiten Woche begegnete ich Schertenleib im Treppenhaus. Er hatte einen schweren, altmodischen Lampenschirm aus Alabaster unter dem Arm, einen der drei Exemplare, die noch von meinem Vormieter stammten. Bei meinem Einzug hatte ich sie demontiert und auf dem Estrich gelagert.

«Gut sehe ich Sie gerade, Herr Mieter», sagte Schertenleib. «Ich habe die Hausbesitzerin gefragt, ob ich diese Lampenschirme haben könne, und sie hat Ja gesagt. Sie haben ursprünglich ihren Grosseltern gehört. Die sind wertvoll. Ich nehme doch an, Sie haben nichts dagegen?»

Nein, hatte ich nicht. Schertenleib verschwand mit dem angeblich wertvollen Stück in seiner Wohnung. Was wollte er wohl mit diesen Dingern? Seine Wohnung veredeln? Oder Handel treiben? Vermutlich Letzteres.

Beim Hinaufgehen fiel mein Blick auf das kleine Fenster beim Treppenabsatz. Es war mit einem rot karierten Vorhang versehen. Tagsüber war dieser Vorhang offen; sobald es eindunkelte, wurde er gezogen, vermutlich von Frau Schertenleib, die ich aber bei dieser Verrichtung nie sah. Ich sah sie nur, wenn sie mit einem Kessel Seifenwasser unterwegs war.

«Herr Mieter», sprach Schertenleib am übernächsten Tag, «es geht mich ja nichts an, aber es wäre sinnvoll, wenn Sie Ihre Schuhe jeweils vor Betreten der Wohnung ausziehen und auf einer Kunststoffablage – die sind nicht teuer – ausserhalb der Wohnung lagern würden. So bringen Sie garantiert keinen Dreck in Ihre Wohnung.»

«Das tönt gut», sagte ich. Frau Schertenleib kam gerade die Kellertreppe hochgestiegen. Das Wasser im Kessel dampfte. Es roch nach Seife.

Ich schloss auf, trat in meine Wohnung, warf mich aufs Sofa und plante den ersten Mord meines Lebens. Ich führte ihn aber nicht aus. Stattdessen zog ich eine Woche später bereits wieder aus. Zum Glück hatte ich so schnell eine andere Wohnung finden können. Seither hause ich zwar in einer erbärmlichen Bruchbude, aber Ehepaar Schertenleib gibt’s hier zu meinem unsäglichen Glück keines. Die beiden bin ich los.

Eigentlich haben sie mir ja nichts zuleide getan. Aber Leute, die einem unaufgefordert Veloabstellplätze bauen und ohne Unterlass mit Seifenwasser durchs Haus geistern, machen mich mit der Zeit ein wenig nervös.

Mord spielen

«Huu! Huu!»

Erwin wandte sich um und erschrak. Hinter ihm stand eine kleine, gnomenhafte Gestalt, deren Gesicht zum grössten Teil von struppigen, schmutzverklebten Haaren verdeckt war.

«Hereingelegt, hereingelegt», quäkte die Gestalt mit hoher Piepsstimme und nahm die schmutzige Perücke ab. Darunter kam das kugelrunde Gesicht der kleinen Babs zum Vorschein.

«Hast du mich erschreckt», sagte ihr älterer Bruder. «Wo hast du denn dieses scheussliche Ding her?»

«Das ist neben dem Mann gelegen.»

«Was denn für ein Mann? Du musst ihm das zurückgeben. Das gehört sicher ihm. Wo ist er?»

«Dort, hinter der Tanne. Uh, ist der dreckig. Und stinken tut er. Er liegt am Boden; ganz komisch, wie Anna, wenn sie schläft.» Anna war Babs’ Lieblingspuppe.

«Leg das wieder hin, wo du es gefunden hast, sonst schimpft er, wenn er aufwacht.»

«Und wenn er schon wach ist? Ich will nicht allein zurück.»

«Dann kommen wir halt alle mit.»

Erwin rief in die Höhle. Florian und Willi krochen, über und über lehmverschmiert, aus dem niederen Spalt ins Freie. Vor ungefähr 15’000 Jahren hatten in der Höhle Steinzeitmenschen logiert; wer im Lehm nachgrub, fand immer wieder Teile ihrer Hinterlassenschaft, fein gearbeitetes Gerät aus Feuerstein, Messer, Schaber, Stichel und Speerspitzen, zudem Knochenfragmente und die Zähne erbeuteter Tiere.

An den steinernen Geräten waren die Kinder nicht interessiert; das waren in ihren Augen ganz gewöhnliche Steine, weiter nichts. Wenn sie an schulfreien Nachmittagen herkamen und gruben, dann der Tierzähne wegen, die sie an die örtliche Floristin verkauften. Diese fertigte daraus archaische Schmuckketten, die sie in ihrem Blumengeschäft als besondere Spezialität feilbot.

«Was ist?», fragte Willi, der älteste der vier. Er putzte seinen Pfadfinderdolch, mit dem er gegraben hatte, an den Hosen ab und steckte ihn in die lederne Scheide zurück.

«Dort hinter der Tanne schläft einer», sagte Erwin. «Babs hat ihm die Perücke stibitzt; jetzt hat sie Angst, sie zurückzugeben.»

«Zeig mal her», verlangte Willi und streckte die Hand nach der Perücke aus. Babs reichte sie ihm.

Willi besah sich den grauen, schmutzigen und verstrubbelten Haarschopf.

«Das ist doch der Deckel vom alten Jakob», meinte er dann. «So ein unmögliches Ding trägt nur der. Gell», wandte er sich an Babs, «der dort hinter der Tanne, das ist der alte Jakob.»

«Weiss nicht», sagte Babs. «Sein Gesicht ist im Laub.»

«Na, wir werden ja sehen», sagte Willi. «Vor dem alten Jakob brauchen wir uns jedenfalls nicht zu fürchten. Und wenn’s jemand anderes ist, ein schräger Vogel vielleicht – gut, wir sind zu viert und überdies bewaffnet.» Er deutete vielsagend auf sein Dolchmesser, um sich und den anderen Mut zu machen. «Gehen wir.»

Florian war als erster hinter der Tanne.

«He, der schläft aber wirklich komisch», rief er seinen Kameraden zu.

«Schscht, willst du wohl leise sein», wies ihn Willi gedämpft zurecht, als er einen Augenblick später mit den anderen angekommen war. Dann aber, als er die am Boden liegende Gestalt sah, hob er die Stimme wieder zu normaler Lautstärke an. Würde der Schläfer erwachen, wäre das nicht weiter schlimm. Es war in der Tat der alte Jakob, ein harmloser alter Mann, der ein landstreicherhaftes Leben führte, meistens betrunken war und manchmal auf einem Bauernhof, manchmal im Pfarrhaus, manchmal unter freiem Himmel und zuweilen auch in der Höhle nächtigte. Willi erkannte ihn am dunkelblauen, abgewetzten Eisenbahnermantel. Der Alte lag auf dem Bauch und streckte einen Arm und ein Bein in unnatürlich verwinkelter Haltung ab. Vom Kopf war nur der vollständig kahle hintere Teil zu sehen; das Gesicht war, wie Babs es geschildert hatte, ins feuchte Laub gedrückt.

«So könnte ich nicht schlafen», meinte Erwin. «Der kriegt doch kaum Luft.»

«Sieht wie krank aus», kam es von Florian. «Wir sollten ihn wohl wecken und fragen, ob ihm etwas fehlt. Vielleicht muss er zum Doktor.»

«Gut, sehen wir mal», sagte Willi und stiess den Liegenden mit dem Fuss an, zuerst behutsam, dann kräftiger. Schliesslich versetzte er ihm einen regelrechten Tritt. All das zeigte keine Wirkung.

«Los, drehen wir ihn um», kommandierte Willi.

Die Kinder drehten den alten Jakob mit vereinten Kräften auf den Rücken. Babs stiess einen kreischenden Schrei aus. Den Kindern starrten aus einem weissen Gesicht zwei weit aufgerissene, erloschene Augen entgegen; ein schlaff hängender Unterkiefer zeigte ein willenloses Grinsen.

«Uh, der ist tot», sagte Florian erschrocken und trat einen Schritt zurück.

So war es. Der alte Jakob hatte sich vor zwei Nächten, als er in der Schenke «Zur Traube» einen spendierten Schnaps nach dem anderen zu sich genommen hatte, leicht schwankend die Anhöhe hinaufgearbeitet, um in der Höhle zu übernachten. Kurz vor dem Ziel hatte er einen Herzanfall erlitten und das Zeitliche gesegnet.

«Keine Angst, Tote beissen nicht», sagte Willi kühn, wie er es am Fernsehen schon so oft hatte sagen hören.

«Was machen wir nun?», fragte Erwin. «Gehen wir zur Polizei?»

«Später vielleicht», sagte Willi, dem soeben ein interessanter Gedanke gekommen war. «Wisst ihr was? Wir können die Leiche gut zum Experimentieren brauchen. Jemandem das Messer zwischen die Rippen stecken, das habe ich schon lange einmal gewollt, aber bei lebendigen Menschen geht das leider nicht einfach so. Kommt, wir spielen Mord.»

«He, du darfst doch den alten Jakob nicht ermorden», sagte Babs entsetzt, als sie sah, wie Willi seine Klinge zückte.

«Doch, jetzt darf ich, weil er nämlich schon tot ist», sagte Willi. Er kniete sich hin und stiess den Dolch kräftig nach Jakobs Herzgegend. Die Klinge prallte an einer Rippe ab.

 

«Shit», fluchte Willi. «Das ist gar nicht so einfach, jemanden zu erstechen. Ich versuch’s noch mal.»

Beim zweiten Mal klappte es. Das Messer durchstiess den Stoff des schmutzigen Pullovers und verschwand bis zum Heft in Jakobs Brust. Willi zog den Dolch wieder heraus.

«Da kommt ja gar kein Blut», wunderte sich Florian.

«Das ist, weil er tot ist», sagte Erwin. «Bei einem Toten fliesst kein Blut.»

«Jetzt sind wir wenigstens sicher, dass er wirklich schon tot war, als wir ihn gefunden haben», sagte Willi. «Wenn er bluten würde, hätte ich ihn gerade getötet, und ich wäre ein Mörder.»

«Aber das hast du ja», beharrte Babs. «Du hast ihm ins Herz gestochen.»

«Schon, aber nur zum Spiel», erwiderte Willi. «Der war schon tot, bevor ich zugestochen habe. Wenn du wirklich jemanden ermorden willst, brauchst du ein Opfer, das noch am Leben ist. Kommst du nach?»

Babs nickte, obwohl sie die Zusammenhänge nicht kapierte.

«Will sonst noch jemand?», fragte Willi in die Runde.

«Ja, ich», meldete sich Babs.

«Nein du nicht, du bist noch zu klein», sagte Willi.

«Okay, ich problier’s mal», meldete sich Erwin und nahm den Dolch entgegen. Es klappte perfekt.

«He, ist das vielleicht ein Gefühl», rief er begeistert. «Einfach geil!»

Dann wanderte das Messer zu Florian. Er brauchte vier Versuche, bis der Stahl richtig sass.

«Was nun?», fragte er, als er Willi den Dolch zurückgab. «Gehen wir jetzt zur Polizei?»

«Ich denke schon», antwortete Erwin für Willi. «Oder, Willi?»

Willi überlegte. «Ich weiss nicht, ob das gut ist», sagte er dann. «Wenn die Polizei die Messerstiche sieht, wittern die natürlich Mord und sperren uns ein.»

«Wir haben ihn ja gar nicht getötet», wandte Erwin ein.

«Ja, aber beweis denen das mal», hielt ihm Willi entgegen. «Ich glaube zwar schon, dass die herausfinden können, wie es wirklich war; ganz sicher bin ich aber nicht. Das Gescheiteste ist wohl, wir vergraben die Leiche. Niemand wird fragen, wo der alte Jakob geblieben ist. Ihr wisst ja, manchmal hat er sich wochenlang nicht im Dorf gezeigt.»

«Wir begraben den alten Jakob tief im Boden», sagte Babs ehrfürchtig. «Wir machen ihm eine Beerdigung.»

«Ja, so ist’s am besten», bekräftigte Willi seinen Entschluss. «Und zwar so, wie’s immer gemacht wird, wenn man eine Leiche unauffällig verschwinden lassen will. Wir müssen ihm Kopf, Arme und Beine absägen und alles in verschiedenen Löchern vergraben.»

«Warum denn das?», wollte Florian wissen.

«Kleine Löcher kannst du so herrichten, dass nachher niemand etwas merkt», dozierte Willi. «Bei einem grossen Loch ist das viel schwieriger.»

«Wir brauchen eine Metallsäge», sagte Erwin. «In der Schule haben wir einmal Flöten aus Bambus gemacht, und dazu haben wir Metallsägen benutzt. Knochen ist ähnlich wie Bambus, denke ich mal.»

«Also gut, dann geh zu Hubers und hol dir im Schuppen hinter dem Haus eine Metallsäge. Der alte Huber hat sich da eine kleine Werkstatt eingerichtet. Der Schuppen ist immer offen. Mach, dass dich keiner sieht. Und eine Schaufel kannst du auch gleich mitbringen», kommandierte Willi.

«Warum ich?», begehrte Erwin auf. «Das gibt ein schönes Donnerwetter, wenn die mich in ihrem Garten erwischen.»

«Mach’s gut und pressier ein bisschen», sagte Willi nur. Erwin zog ab.

Nach zwanzig Minuten war er mit Säge und Schaufel wieder zurück. Die anderen hatten unterdessen alles vorbereitet. Sie hatten den alten Jakob ausgezogen und an jenen Körperstellen, wo er zersägt sollte, mit Willis Messer das Fleisch und die Sehnen bis auf die Knochen entfernt.

«Passt auf, dass ihr mit den Händen nicht an den Mund kommt», warnte Willi. «Leichenfleisch ist giftig.»

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