Loe raamatut: «Mit Feuer und Schwert», lehekülg 2

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KAPITEL 2 · WADI NATRUN – ÄGYPTEN

„Man kann es aus den Gesichtern lesen“

Wie koptische Mönche mit ihren muslimischen Nachbarn leben

Je weiter weg von der Welt, desto so näher bei Gott. Dieser Glaube hat vor 1.700 Jahren junge Christen scharenweise in die ägyptischen Wüsten getrieben. Allein im Wadi Natrun sind es mindestens 5.000 gewesen, die seit dem 4. Jahrhundert als Eremiten leben wollten. Sie zogen sich in eine Gegenwelt aus Höhlen und Zellen zurück. Obwohl sie rein gar nichts besitzen durften, hatten sie offensichtlich eine große Anziehungskraft auf benachbarte Stämme. In den Klöstern, die da aus dem Boden schossen, gab es Wasser und Brot, kostbare Güter in der Wüste. Es gab wärmende Kutten, die Nomaden sich gern überstreiften, wenn die Nächte besonders kalt wurden. Es gab Brennholz und Essensvorräte, gestapelt in Kellerräumen. Es gab kunstvolle Ikonen, die sich als Raubgut an reisende Händler verkaufen ließen. Ein Kloster war eine lohnende Beute für Berber und Beduinen, die als Nomaden durch die nördliche Sahara zogen.

Den ersten Überfall im Wadi Natrun gab es im Jahr 407, ein halbes Dutzend ist schriftlich dokumentiert. Die wehrlosen Mönche wurden ihrer Kleider beraubt, niedergemacht oder auf Kamelen verschleppt und danach als Sklaven gehalten. Erst im 9. Jahrhundert begannen die Gottesdiener, ihre Klöster mit schützenden Mauern zu umgeben. Jeder Konvent hatte von nun an einen Fluchtturm mit einer Zugbrücke. In ihn zogen sich die Mönche zurück, wenn feindliche Horden heranrückten. Dort hatten sie so viele Nahrungsmittel gehortet, dass sie wochenlang ausharren konnten – so retteten sie wenigstens ihr Leben.

Heute stehen vier Klöster im Wadi Natrun, eineinhalb Autostunden westlich der ägyptischen Hauptstadt Kairo. Die Türme ihrer Kirchen ragen wie mächtige Pfeiler in die Landschaft. Die Mönche haben die Wüste rundum in fruchtbares Land verwandelt, mit Feigen- und Olivenbäumen, Obst- und Gemüsegärten, Schaf- und Hühnerfarmen, Kuh- und Büffelherden. Freitags und samstags streben Tausende von Kairoern, Christen wie Muslime, diesen Bastionen zu. Viele Besucher kommen aus keinem anderen Grund, als einen Gesprächspartner zu finden, bei dem sie ihre Sorgen ausschütten können. Die Nachbarn aber, die nahe den Klöstern siedeln, sind offenbar ein etwas anderer Menschenschlag.

Ich sitze vor Pater Bertie, sein Name ist eine Kurzform von „Bartholomäus“. Er ist Jahrgang 1952 und lebt seit 40 Jahren im Kloster St. Makarios. „Hier war Wüste, nichts als Wüste“, erzählt er, „ich bin selber barfuß durch sie hindurchgegangen. Als wir Mitte der 1970er-Jahre mit der Bewässerung begannen, war noch kein Mensch hier auf diese Idee gekommen.“ Dann erzählt er, was die Mönche so alles auf ihrem neu kultivierten Land erlebten.

Es begann im Jahr 1976. Da kamen Leute und warfen plötzlich Stroh auf ein Grundstück, um es auf diese Weise in Besitz zu nehmen. „Es waren Beduinen vom Westrand des Wadi Natrun, sie wollten dort Wassermelonen pflanzen.“ Ein Abgesandter des Klosters suchte in der Hauptstadt den Innenminister auf, bald darauf wurden die Landbesetzer von der Polizei vertrieben. Der zweite Versuch war 1980. Die Bevölkerung wuchs, Nahrung wurde knapp, wieder ging es um Wassermelonen. Die Leute, die sich ein Stück Klosterland genommen hatten, brachten immerhin eine Ernte ein. Dann mussten auch sie auf behördliche Anordnung hin wieder abziehen. Der dritte Versuch war 1985. Ein Beduine namens Abdel Kader Latif Qadallah fuhr mit Begleitern im Kloster vor. „Das ist das Land meiner Vorväter“, eröffnete er den Mönchen, und das wolle er nun umgehend zurückhaben. „Er war von einem Anwalt geschickt worden, der für eine Firma arbeitete“, hat Pater Bertie damals recherchiert. „Dieser Anwalt gehörte der Muslimbruderschaft an.“

DIE ORTHODOXEN KOPTEN

Der Name rührt von „kubti“, der arabischen Bezeichnung für Ägypter, her. Mit schätzungsweise elf Millionen Mitgliedern ist die Koptisch-Orthodoxe Kirche die mit Abstand größte aller christlichen Glaubensgemeinschaften im Nahen Osten. Beim Konzil von Chalcedon 451 wurde die Zwei-Naturen-Lehre verkündet, wonach in Christus sowohl das Göttliche als auch das Menschliche vorhanden sei. Die orientalischen Kirchen spalteten sich daraufhin ab, weil sie Christus nur als Gott, seine menschliche Natur hingegen als eine Art „Verkleidung“ ansahen. Das Oberhaupt der Kopten trägt seither den Titel „Papst“. Das christliche Klosterleben erfährt in seinem Stammland Ägypten, anders als in Europa, eine Renaissance – trotz oder gerade wegen des islamischen Drucks.

Die Mönche von St. Makarios wurden nun doch von Unruhe gepackt. Sie suchten die zuständigen Behörden auf und legten ihre Besitzurkunden vor. Sie schrieben einen langen Bericht für die Polizei. Sie gingen vor Gericht, und das gab ihnen recht. Aber was ist so ein Urteil in Ägypten auf Dauer wert? Sie begannen eine zweite Mauer zu bauen, nach 14 Monaten war sie fertig. Drei Meter hoch und 16 Kilometer lang, umgab sie das gesamte Land, das dem Kloster St. Pischoi gehörte. So leben die Brüder wie in einer Festung und fast alle koptischen Klöster in Ägypten haben es ihnen mittlerweile gleichgetan.

2011 war in Ägypten das Jahr der Revolution. Nach dem Sturz von Staatschef Mubarak, erzählt Pater Bertie, sei weit und breit keine Polizei mehr zu sehen gewesen, und die Islamisten hätten mehr und mehr Oberwasser bekommen. Eines Tages zertrümmerte ein Bulldozer die größte und schönste von insgesamt 33 kartierten Höhlen, in denen einst Mönche ihr asketisches Leben geführt hatten. Sie lag vier Kilometer vor der Außenmauer von St. Makarios und war reich mit Wandmalereien verziert gewesen. Wieder schrieben die Mönche einen Bericht, doch nie wurde ein Täter gefunden, nie einer bestraft.

„Was sollte denn die Attacke auf die Höhle?“, frage ich.

„Es ging halt gegen die Christen, gegen das Kreuz.“ Pater Bertie sagt es in einem Ton, als sei das doch irgendwie logisch.

Die Mönche haben lange versucht, ein halbwegs freundschaftliches Verhältnis zu den Nachbardörfern zu entwickeln. 1996 schickten sie eine Delegation nach Beni Salema, das am nächsten gelegene Dorf. Sie fragten die Bewohner, was sie am dringendsten bräuchten. Eine gute Schule, lautete die Antwort, man habe derzeit nur zwei elende Klassenräume. Die Klosterbrüder hatten einen Architekten und zwei Ingenieure in ihren Reihen, so bauten sie gratis neue Unterrichtszimmer, richteten eine Bibliothek ein und statteten sie gleich mit Büchern aus. Dann kamen sie auf die Idee, an Weihnachten und Ostern bis zu hundert Familienoberhäupter einzuladen. Sie servierten ihnen ein festliches Essen und gaben ihnen am Ende noch ein wenig Geld mit auf den Heimweg.

„Goodwill-Aktionen um des lieben Friedens willen“, meine ich, „Diplomatie mit christlichem Touch.“

„Das ist die Interpretation eines westlichen Autors“, sagt Pater Bertie lächelnd. „Für uns war es schlicht ein Gebot der Nächstenliebe.“ Der Kontakt habe lange ganz gut funktioniert, meint er abschließend. Aber seit einigen Jahren würden immer weniger Menschen den Einladungen Folge leisten. Bei all der Hitze, die ein Großteil des Jahres im Wadi Natrun herrscht – das Klima um die Klöster herum scheint frostiger zu werden. Es ist, als braue sich wieder etwas zusammen.

Im Kloster St. Pischoi ist heute ein besonderer Tag. Genau zwanzig Jahre ist es her, dass Pater Bejimi ordiniert wurde. Er sagt es ganz beiläufig, als wir durch den Hof zu dem Friedhof spazieren, auf dem auch er dereinst seine ewige Ruhe finden wird. Der heutige Tag, so eröffnet er mir, sollte eigentlich ein Wendepunkt in seinem Leben werden. Er hatte vor, seine Mitbrüder ein letztes Mal um sich zu versammeln, um sich von ihnen zu verabschieden. Er war als Seelsorger für sieben Jahre nach Kairo geschickt worden, dann hatte er – seiner Sprachkenntnisse wegen – sieben Jahre in Österreich, drei Jahre in Deutschland und ein Jahr in Tschechien als Diaspora-Priester gewirkt. Das waren 18 Jahre Pfarrdienst in der Welt, die er doch eigentlich hinter sich lassen wollte. „Es reicht nun wirklich, es reicht!“, platzt es aus ihm heraus. „Ich möchte eigentlich nichts lieber als eine Höhle ganz für mich allein.“

Der 48-Jährige hat all die Jahre stets nach einer Eremitage gesucht. Zuletzt landete er in den französischen Pyrenäen, acht Kilometer vom Benediktinerkloster Saint-Michel-de-Cuxa entfernt. Durch den Tod eines katholischen Einsiedlers war eine Felsenhöhle in Traumlage frei geworden: 200 Meter über einer Straße versteckt, mit einem rauschenden Fluss tief unten im Tal. Doch als er sich durch den Wald dorthin kämpfte, schossen Jäger auf ihn, weil sie ihn für ein Wildschwein hielten, nur mit viel Glück entkam er ihnen. Und gerade einmal einen Tag später erfuhr er von Mönchen, gleich nach seiner Besichtigungstour habe sich ein großes Stück Fels gelöst und die ganze Höhle zum Einsturz gebracht. War das ein Fingerzeig Gottes zur richtigen Zeit? War es die Warnung vor dem selbst erkorenen Weg?


Koptische Mönche beim Gebet. Viele junge ägyptische Christen suchen ein Leben in der Einsamkeit der Wüste.

Pater Bejimi gab sich noch immer nicht geschlagen. Eine Woche vor seinem 20. Jubiläum fuhr er ins Kloster St. Anton, das nahe dem Roten Meer in der Wüste liegt. Dort wollte er in dem Gebirge leben, das hinter dem Konvent aufsteigt, ganz allein mit Gott und sich selber, der Welt entzogen bis zu seinem Tod. Er brauchte dazu die Genehmigung von Bischof Yostos, dem Oberhaupt von St. Anton – doch von diesem kam ein hartes Nein. Offensichtlich fürchtete der Bischof, dass diese Art von radikaler Isolation auch andere auf den Gedanken bringen und die Klostergemeinschaft dadurch schwächen würde.

„Dies war nun wirklich mein letzter Versuch“, sagt Pater Bejimi. „Ich werde mich endlich fügen.“ Er wird vertrauen auf das, was ihm der Abt von St. Pischoi und sein spiritueller Begleiter empfehlen. Sie gestehen ihm eine Art „gemäßigte“ Isolation im Kloster zu. Dabei lebt der Mönch zwar weiterhin in einer Zelle, jedoch vom Trakt der anderen getrennt. Keine Besuche mehr, keine Teilnahme an den gemeinsamen Gebeten und Messen. Um etwas von seinem Traum zu retten, wird er den Weg gehen, den man ihm weist. „Ich habe gelernt, auf Gott zu vertrauen“, sagt Pater Bejimi, „statt meine inneren Wünsche zu erfüllen.“

Wir steigen über Treppen hoch auf das Dach der Festung, in der sich die Mönche einst vor den Räubern verschanzt haben. Von hier aus haben wir einen weiten Blick hinaus aufs Land. Meine Augen gleiten an der Mauer entlang, die sich schnurgerade durch die graubraune Wüste zieht. Wie weit kann er dieser verteufelten Welt noch entrinnen, die immer wieder nach den Mönchen greift?

Die muslimischen Nachbarn, sagt er, hätten nur mit Widerwillen gesehen, wie das Kloster sich ausgebreitet habe. Es habe Neid hervorgerufen, dass St. Pischoi, wie auch die anderen Konvente, eine leistungsfähige Oasenwirtschaft aufgebaut hatte. „Sie haben an den Enden unserer Mauer vier Moscheen gebaut, je eine in jeder Himmelsrichtung, um dadurch jede weitere Expansion zu stoppen. Ja, die Minarette wirken wie Verteidigungstürme.“

Pater Bejimi hat schon ein paar Mal versucht, außerhalb der Mauer durch die Dörfer zu spazieren. Da hätten sie ihn zur Rede gestellt und gefragt, was er hier wolle. Und sie hätten ihm klargemacht, dass er in ihrem Ort nichts zu suchen habe. „Eines Tages werden sie kommen“, sagt er, so wie damals die Berber und Beduinen. „Sie warten nur auf ein Signal. Man spürt es, wenn man durch ihre Dörfer geht. Man kann es aus ihren Gesichtern lesen.“ Sind die Mönche auch in ihrem Denken eingemauert? Oder haben sie ein Gespür, das andere nicht haben? Es gibt ja auch die Lehre, dass Angriff die beste Verteidigung sei.

„Bereiten Sie sich etwa auf einen Überfall vor?“, frage ich.

„Nein, nein“, sagt er lächelnd. „Was sollen wir denn machen?“

„Sie warten also einfach auf den Tag X?“

„Wir wissen, dass es passieren wird“, antwortet er. „Der Boden dafür ist bereitet.“

Er sagt es so kurz und schlicht, als sei es die sicherste Sache der Welt.

KAPITEL 3 · LASSA – LIBANON

„Wir haben vor euch keine Angst“

Wie der Streit um eine kleine Kapelle eskalierte

Was ist denn das?“, frage ich erstaunt. „Kanonen mitten in einer Berglandschaft? Auf wen soll hier geschossen werden?“ An einem Hang direkt neben der Straße, auf der wir fahren, zähle ich sage und schreibe acht Panzer, in Reih und Glied aufgestellt. „Bloß nicht fotografieren!“, rufen meine Begleiter, als hätten sie meine Gedanken erraten.

Wir fahren ein paar hundert Meter weiter und kommen zu einem Landhaus mit direktem Blick auf die Panzerrohre, das schon bessere Tage gesehen hat. Es ist eine alte Sommerresidenz, erfahre ich. „Sie wurde um 1850 für den hiesigen Bischof gebaut. Nach 1950 fanden hier Bildungsseminare statt. Seit 2005 aber steht das Gebäude leer.“ Irgendwie, so ahne ich, muss das mit den Panzern da drüben zu tun haben. In der Tat kommen jetzt Soldaten auf uns zu, eine 30-Mann-Truppe campiert in der alten Villa. „Bloß nicht fotografieren!“, rufen meine Begleiter. Zum Glück weiß der Kommandeur Bescheid, dass wir zu einer Ortsbesichtigung kommen. Er stellt uns zwei seiner Leute an die Seite, damit wir auch wirklich keinen falschen Schritt tun.

Ich streife mit meiner Eskorte durch hohes Gras und Gebüsch. „Was ist denn das?“, entfährt es mir schon wieder. „Wer hat dieses Ungetüm gebaut?“ Gut 100 Meter hinter der zweckentfremdeten Villa ragt ein 20 Meter hoher Stahlmast in die Höhe, vier Lautsprecher sind an ihm angebracht. Die Soldaten und meine Begleiter schauen sich bedeutungsvoll an. „Das Ding steht schon seit zehn Jahren hier“, bekomme ich zu hören. „Muslime aus der Gegend haben es gebaut. Bloß nicht fotografieren!“

Ich stapfe noch ein paar hundert Meter weiter, bis zu einem Punkt an der Nordseite dieses Hügels, von dem man eine grandiose Aussicht auf das Yanouh-Tal hat. Nun steht eine mächtige, weiße, aus Kunststoff gefertigte Marienstatue vor mir. Die Gottesmutter mit dem Jesuskind blickt auf christliche Dörfer, die ihr zu Füßen liegen, Yanouh unten am Fluss, Kartaba drüben am Hang. Wenigstens von dieser Schutzpatronin darf ich eine Aufnahme machen.

„Da habt ihr ja wirklich ein tolles Ambiente“, sage ich zu den Soldaten. „Eine Bischofsresidenz, eine Marienfigur, ein Minarett aus Stahl und die acht Panzer da drüben.“ Die Männer in Uniform nicken und prusten. Aber reden dürfen sie nicht mit mir. Plötzlich springt an dem hohen Turm ein automatisches Tonband an. Aus den vier Megafonen schnarrt die Stimme eines Imams das Mittagsgebet, und zwar so laut, dass ich mir unwillkürlich die Ohren zuhalte. Tag für Tag muss dieser Trupp der libanesischen Streitkräfte das über sich ergehen lassen, zum Glück nur drei- statt fünfmal, weil in dieser Gegend nicht Sunniten, sondern Schiiten wohnen.

Der Distrikt Jbeil, wie dieser Teil des Libanon-Gebirges heißt, war einst eine Hochburg maronitischer Christen. 14 Patriarchen haben nach dem 10. Jahrhundert hier ganzjährig residiert. Es war eine der wenigen Regionen, wo selbst in der Zeit des Bürgerkriegs, der das Land von 1975 bis 1990 verwüstete, keine Kämpfe ausbrachen. Aber der Libanon ist eben voll von Paradoxien. Genau von dem Moment an, da auf nationaler Ebene wieder so etwas wie Frieden herrschte, brach in dieser Gegend Streit zwischen Christen und Muslimen aus.

DIE MARONITEN

Die Maronitische Kirche ist eine von 18 Glaubensgemeinschaften, die im Libanon offiziell anerkannt sind. Sie entstand im 7. Jahrhundert als eine Abspaltung der Syrisch-Orthodoxen Kirche. Ihr Name geht auf einen Eremiten namens Maron zurück, der 410 starb. Sie hat weltweit rund sechs Millionen Mitglieder und erkennt den katholischen Papst in Rom als Oberhaupt an. Mit knapp einer Million Anhängern ist sie die größte christliche Kirche im Libanon. Ihr Patriarch, seit 2011 Béchara Pierre Kardinal Raï, hat seinen Sitz im Kloster Bkerke bei Jounieh. Die Maroniten sind in rivalisierende Familienclans gespalten, fühlen sich aber auch unter wachsendem Druck der Muslime. In religiös gemischten Gebieten kommt es oft zu Landstreitigkeiten.

Meine Begleiter sind Mounir Khoueiry, Jahrgang 1960, Bürgermeister des christlichen Dorfes Kahmes, und Takla Khoueiry, geboren 1981, seine Schwester. Mitte der 1990er-Jahre, sagen sie, seien die Muslime hier zahlenmäßig immer stärker geworden. Im Dorf Lassa haben sich die Verhältnisse auf besonders dramatische Weise umgekehrt: 4.500 Einwohner sind heute Schiiten, nur noch etwa 300 Christen. So wurde Lassa, das den Panzern am nächsten liegt, zur Keimzelle von Auseinandersetzungen, die nun schon seit 20 Jahren toben. Lassa ist, wenn man so will, ein libanesischer Mikrokosmos. In ihm spielen sich Konflikte ab, die dieses Land seit seiner Gründung lähmen – wenn nicht gar seine Existenz bedrohen.

Nicht weit von der verfallenen Bischofsresidenz steht die kleine Kapelle „Unsere Frau“. Das Grundstück um sie herum, das belegen Besitzurkunden aus dem Jahr 1939, war von der Maronitischen Kirche im 19. Jahrhundert erworben worden. Schiitische Führer in Lassa aber behaupteten, es sei muslimisches Land. Im Jahr 2000 kam Scheich Mohammed Itawi, der in Lassa wohnt, auf die Idee, diesen Anspruch mit einer spektakulären Aktion zu unterstreichen. Er wollte die Kapelle, die von den Christen kaum noch genutzt wurde, in eine Moschee für Frauen verwandeln. Mit ein paar Anhängern besetzte er kurzerhand die Kapelle, die unverschlossen war, und ließ darin Gebetsteppiche und den Koran auslegen.

Die Christen versuchten zunächst, ihre privaten Kontakte zu nutzen. Sie mobilisierten ihre Leute in den Behörden, ihre Minister in der Regierung und ihre Abgeordneten im Parlament. Nach einer Woche schafften sie es tatsächlich, den Scheich zum Rückzug zu zwingen. Die Kapelle wurde für beide Konfessionen geschlossen. Dieser Fall war aber, wie sich zeigen sollte, nur die Spitze eines Eisbergs.

Seit Jahren verfolgten die Christen mit Ingrimm, dass Muslime neue Häuser auf Grundstücken bauten, die sie gar nicht besaßen. Auch diese Ländereien waren nämlich, wie Dokumente nachwiesen, seit Langem Eigentum der Maronitischen Kirche. Seltsamerweise legten nun aber viele Muslime sowohl Dokumente vor, die sie als rechtmäßige Besitzer auswiesen, als auch die entsprechenden Baugenehmigungen. Issam Miqdad, der schiitische Bürgermeister von Lassa, hatte offensichtlich keine Hemmungen, seinen Glaubensgenossen solche Urkunden auszustellen. Miqdad gehört der „Hisbollah“ an, dem starken politischen wie militärischen Arm der Schiiten. Auch er hatte also seine Leute, wenn er welche brauchte. Die Polizei hielt sich vorsichtshalber aus der Sache raus – denn im Libanon kann man sehr leicht zwischen die Fronten geraten.

Im Jahr 2005 ging die maronitische Diözese Jounieh, von Einheimischen dazu gedrängt, endlich vor Gericht. Zugleich wurde ein zwölfmonatiges „Missionsprojekt“ gestartet, mit Bibelabenden und Kursen in religiöser Erziehung. „Wir wollten die Christen dort stärken“, sagt mir einer der sieben Priester, der damals dabei war, denn zu jener Zeit agierte in der Gegend nur noch ein einziger, altersschwacher Pfarrer. Für eine Woche schlugen die jungen Geistlichen, weithin sichtbar, ein Zelt auf einem Hausdach auf. Die Muslime empfanden das als Provokation und ersannen allerlei Methoden, um die „Missionare“ zu schikanieren. Junge Männer jagten mit Motorrädern dicht hinter ihren Autos her. In Lassa wurde gegenüber der Kirche ein Lautsprecher angebracht, aus dem immer dann islamische Gebete tönten, wenn die Christen eine Messe feierten – selbst wenn es überhaupt keine muslimischen Gebetszeiten waren. Auf dem Hügel neben der einstigen Bischofsresidenz wurde der 20-Meter-Stahlmast errichtet, die eindrucksvollste aller Gegendemonstrationen – und den Christen blieb nichts anderes übrig, als die Bildungsseminare in der alten Villa einzustellen.

In dieser Gegend reicht schon ein Funke, um einen Konflikt ausbrechen zu lassen. Das verdeutlicht die folgende Geschichte. Ein Jahr darauf, so erzählen meine Begleiter, gab es in Lassa eine christliche Hochzeit. Der Bräutigam war aus dem Ort, die Braut aus Beirut. Nach der Feier fuhr eine laut hupende Autokolonne zur weltlichen Feier in einen Nachbarort. Ein junger Muslim und drei seiner Freunde folgten ihnen in einem blauen BMW. An einer Tankstelle kam es zu einem heftigen Wortwechsel: „Warum nervt ihr uns mit eurer Huperei?“, schrien die Muslime und einer der christlichen Chauffeure bekam das Wort „Hurensohn“ zu hören. Der Fahrer stieg wütend aus, da hielt einer ihm eine Pistole an den Kopf. Nun solidarisierten sich die Leute aus der Hochzeitsgesellschaft mit dem Fahrer. Die Muslime sahen, dass sie in der Minderheit waren, und flüchteten Richtung Faraya. Nun blockierten fast 50 Autos von Christen die Straße – sie warteten darauf, dass die Muslime zurückkehren würden. Zufällig kam aus dieser Richtung eine Armeepatrouille. Die Christen erzählten den sechs Soldaten von dem Vorfall. Die Soldaten sperrten nun ihrerseits die Straße, und als der blaue BMW zurückkam, wurde er vom Militär gestoppt. In dem Wagen lagen zwei Gewehre, ein Messer und jede Menge Drogen. Die vier Männer wurden festgenommen – schon eine Woche später aber waren alle wieder frei.

Jahrelang bekämpften sich die verfeindeten Parteien vor Gericht mit echten und gefälschten Dokumenten. 2011 schickte die Maronitische Kirche Geodäten nach Lassa, um die Grundstücke rund um die Marienkapelle neu vermessen zu lassen. Eine zornige Menge von Muslimen stellte sich ihnen entgegen und zwang sie, ihre Arbeit zu stoppen. Ein Fernsehteam, das dort filmen wollte, wurde ebenfalls daran gehindert. Die Reporter hätten keine Erlaubnis des Bürgermeisters, wurde ihnen gesagt, und sie seien nur gekommen, um neues Öl ins Feuer zu gießen. Die Fäuste flogen, eine Kamera ging zu Bruch, Muslime rissen das Filmmaterial heraus. In der folgenden Woche saßen Vertreter der zwei Lager in Bkerke, dem Sitz des maronitischen Patriarchen, an einem Tisch. Sie handelten ein Abkommen aus, wonach die Landvermesser nach Ablauf von zwei Monaten ihre Arbeit wieder aufnehmen sollten. Sie gelobten, die Medien nicht weiter mit provokanten Statements zu füttern, und baten die Armee um eine Dauerpräsenz, um den Ausbruch neuer Auseinandersetzungen zu verhindern.

Aber einen Monat später war es schon wieder vorbei mit der Ruhe. Ein Trupp von Polizisten kam nach Lassa, um auf gerichtliche Anordnung hin ein illegal errichtetes Haus einzureißen. Eine wütende Menge von Muslimen empfing sie mit Schüssen in die Luft, und aus Rache wurde die Kirche umzingelt, um die dort laufenden Renovierungsarbeiten zu unterbinden. Diakon Tony Halim wurde so schwer verprügelt, dass er ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.

2012 ging es in eine weitere Runde. Auf umstrittenen Grundstücken wuchsen wieder neue Häuser in die Höhe. Issam Miqdad, Lassas Bürgermeister, päsentierte dem Innenminister eine Landkarte, wonach dieses Land seit jeher einer schiitischen Stiftung gehört habe.

Talal Miqdad, sein christlicher Gegenspieler, verlangte, die Immunität des Gemeindeoberhauptes aufzuheben, weil der Bürgermeister ausgehandelte Abkommen eigenmächtig gebrochen und den Gemeinderat nicht einmal konsultiert habe. Die Kampfstätte verlagerte sich wieder zur alten Bischofsresidenz. Zähneknirschend hatten die Christen das stählerne Minarett hingenommen, jetzt aber wollten sie ihm etwas entgegenstellen. Ende September 2012 transportierten sie eine Marienstatue, die ein lokaler Bildhauer gefertigt hatte, mit einem Lastwagen hoch zu dem Hügel. 50 feindliche Muslime blockierten die Straße. Fünf Soldaten sorgten dafür, dass die zwei Lager nicht erneut aufeinander losgingen. Der Bürgermeister von Lassa eilte herbei, diesmal zum Glück in friedlicher Absicht. Er schickte seine Leute nach Hause, nun hatten die Christen ihren Triumph.

Seit 2013 herrscht nun gespannte Ruhe. Die „Hisbollah“ sei derzeit wohl voll und ganz mit dem Krieg in Syrien beschäftigt, sagen meine christlichen Begleiter. Dort kämpft die bewaffnete Miliz der Schiiten aufseiten der Regierung gegen sunnitische Rebellen. Auf unserem Rückweg stoßen wir auf einen Gedenkstein für den „Märtyrer“ Hussein al-Miqdad, der in Syrien gefallen ist. Die „Hisbollah“-Leute haben dafür die Landstraße einfach in der Mitte aufgerissen. Kein Polizist, keine Behörde hat es offenbar gewagt, sie daran zu hindern. „Bloß nicht fotografieren!“, bekomme ich zu hören. Da habe ich aber schon durch das offene Wagenfenster abgedrückt. „Alleine kannst du das vielleicht noch riskieren“, schimpfen meine Begleiter. „Aber denk doch mal daran, wir haben den Bürgermeister von Khames dabei …“


Monument für einen „Märtyrer“. Hisbollah-Anhänger haben es mitten auf der Straße nach Lassa errichtet.

„Die Armee soll bloß bleiben“, sagt Mounir Khoueiry. „Ich hoffe, der Staat wird hier endlich stark. Sonst können wir nicht in Sicherheit leben.“ Seit 1980 hätten die Muslime in Lassa illegal 180 Häuser gebaut. Die meisten dieser Grundstücke seien wohl für immer verloren. Nur fünf Mal sei es gelungen, unrechtmäßig in Beschlag genommenes Land wieder an die rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben. 30 weitere Fälle lägen derzeit noch bei den Gerichten. 2014 hätte Scheich Mohammed Itawi für sich selber ein neues, illegales Haus bauen wollen. „Dies war der einzige Fall, in dem das Militär so eine Aktion erfolgreich stoppte.“

Eigentlich müsste ich ja nach Lassa hinein und auch mit der Gegenseite sprechen. Aber alle Leute, die ich deswegen anspreche, warnen mich dringend davor. Die „Hisbollah“, so heißt es, habe Lassa zu einer Art Kampfbasis ausgebaut, mit unterirdischen Bunkern und Tunnels und Überwachungskameras in den Straßen, die alle ankommenden Autos und Fahrer filmen würden. So gebe ich schweren Herzens den Gedanken doch lieber auf.

Was spornt die Schiiten zu dieser Bauwut an? Die Christen wittern dahinter einen strategischen Plan. Man brauche, so sagen sie, nur einen Blick auf eine Karte des Libanon zu werfen, in der die Siedlungsgebiete der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen eingezeichnet seien. „Sie wollen einen Korridor bilden“, sagen meine Begleiter. „Er soll die schiitischen Dörfer an der Küste mit den schiitischen Siedlungen im Bekaa-Tal verbinden.“ Die „Hisbollah“ habe es sogar geschafft, dass zwischen den Städten Byblos am Mittelmeer und Baalbek im Bekaa-Tal eine neue Straße durch das Gebirge gebaut worden sei. „Sie wird so gut wie kaum benutzt“, erzählen sie. „Sie hat rein strategische Bedeutung.“ Wer den Libanon nicht kennt, wird darüber den Kopf schütteln. Aber ich werde nur nickende Köpfe sehen, als ich diese These in den Tagen darauf ein paar anderen Gesprächspartnern vortrage.

Wir lassen Lassa hinter uns und fahren zurück in Richtung Beirut. Nun prasseln doch tatsächlich Schüsse um uns herum. Meine Begleiter aber, die bislang die Nerven meist auf der Haut trugen, bleiben diesmal erstaunlicherweise völlig gleichmütig.

„Was ist da draußen jetzt schon wieder los?“, frage ich verwirrt. „Keine Sorge“, entgegnen sie, und endlich huscht mal ein Lächeln über ihre Lippen. „Wir haben Saison für die Vogeljagd. Das ist bei uns ein sehr populärer Sport.“

„Ist die Vogeljagd denn nicht verboten?“, frage ich.

„Wer fragt schon danach?“, kriege ich als Antwort. „Schauen Sie mal, überall stehen Männer mit Flinten.“

Ich steige aus und rede mit ein paar von ihnen. Die Zugvögel seien von Europa nach Afrika unterwegs, erklären sie mir, Gänse und Greifvögel, Störche und Kraniche. Ein Teil nehme die Seeroute über das Mittelmeer, ein Teil die Landroute über Vorderasien. Ich starre mit ihnen gemeinsam hoch zum Himmel, der ist dunkelgrau und wolkenverhangen. Keinen einzigen Schwarm kann ich erkennen, doch die Flintenmänner ballern schon wieder drauflos, sie haben wohl ein ganz besonders geübtes Auge für ihre Beute. Mein Gott, denke ich mir, im Nahen Osten ist wirklich niemand sicher – nicht mal die Vögel in 3.000 Meter Höhe.