Kein Trost, nirgends?

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Kein Trost, nirgends?
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Nach seiner Zeit als Theologe und Friedensforscher an der Ruhr-Universität Bochum und als Pfarrer in einem Neubaugebiet in Hamburg lehrte Prof. Dr. Hans-Jürgen Benedict an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie in der Hansestadt. Seit seiner Emeritierung 2006 beschäftigt er sich besonders mit Fragen der Literaturtheologie, zuletzt „Wär ich allmächtig, ich würde retten, retten“ (2019) und mit der Rolle der Kirchen in der Nazizeit und ihrer schwindenden Bedeutung in der Gegenwart, zuletzt „Beschädigte Versöhnung. Die Folgen des Versagens der Kirchen in der Nazizeit“ (2020). Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Junge Kirche“.

Hans-Jürgen Benedict

Kein Trost, nirgends?

Zu Gedenken und Vergessen, zu Sterben und Trost


E-Book (ePub)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2022

Alle Rechte vorbehalten.

Coverabbildung: Denkmal für die Kinder in Yad Vashem

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

ePub:

ISBN 978-3-86393-586-3

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2022

Print: ISBN 978-3-86393-130-8

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de

Inhalt

Einleitung: Kein Trost, nirgends?

„Auch mich, den Tod, gibt es in Arkadien.“

Die neue Aktualität des Memento Mori-Gedankens infolge der Corona-Pandemie

„Verweinte Augen zum Leuchten bringen.“

Die Predigttätigkeit des Laien Arthur Goldschmidt in der evangelischen Gemeinde im KZ Theresienstadt

„Mit dem letzten (deportierten) Juden verschwindet auch das Christentum aus Deutschland.“

Elisabeth Schmitz’ mutiges Eintreten für die Juden und das Versagen der Kirche

Erinnern, Vergessen, Versöhnen – drei Wege um mit Untaten des eigenen Volks umzugehen

Mit den Toten reden

Zum Gedenken an den Hamburger Feuersturm 1943

„In der S-Bahn reckten die Leute die Hälse.“

Zur Ausstellung „In den Tod geschickt“

Memento mori. Julian Barnes, Nichts, was man fürchten müsste (2011)

Gelesen kurz vor dem 79. Geburtstag 2020. Und nach einem Jahr Corona-Pandemie April 2021.

Jenseitstrost und Sterberealität

Zur Literatur-Geschichte der Wiedersehenshoffnung

Wo ist die Angst vor dem Jüngsten Gericht geblieben?

Zur Geschichte und Wandlung des Zusammenhangs von Totengericht und Gewissensbildung

Der Corona-Toten gedenken. Staatlich und kirchlich getrennt? (April 2021)

Nichts als Vertröstung?

Trostbilder in der Bibel und in der Geschichte des Christentums

Von der Religionskritik zur neuen Sinnfrage/Anthropodizee – Wie kann der Mensch das Leiden zulassen?

Was kann trösten?

Verlegenheiten am Sterbebett

Ist christlicher Trost tiefer als andere Trostversuche?

Trost als verwandelnde Kraft

„Herr, lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss“ – harter Trostzuspruch angesichts des Todes in Seuchenzeiten

Anmerkungen

Nachweise

Einleitung: Kein Trost, nirgends?

Wer wie ich dem tödlichen Inferno des Zweiten Weltkriegs (meine erste Kindheitserinnerung sind die Bombenangriffe auf Hamburg 1944) entronnen ist und sehr lange in Friedenszeiten gelebt hat, könnte mit dem Trost diese Welt verlassen, nicht nur, dass es ihm gut ergangen ist sondern auch, dass es in der Welt doch besser geworden ist. Aber es hat in meinem Leben von dem Moment an, als ich bewusst die Erfahrung des Todes anderer Menschen (angefangen bei dem frühen Tod meiner Mutter) machte und besonders mit dem gewaltsamen Tod anderer Menschen in Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert wurde, einen Impuls des Protests, aber auch den Wunsch nach Trost, gegeben. Diese Erfahrungen fremden Leids konnten einen nicht zur Ruhe kommen lassen. Niemals in Ruhe lassen konnten mich die sechs Millionen Toten der Shoah. Jede Lektüre eines Buchs über die Verfolgung und Ermordung der Juden Europas, jeder Besuch einer Gedenkstätte in einem ehemaligen KZ beunruhigte mich zutiefst und provozierte immer die Frage, wie konnte das ein einem zivilisierten Land wie Deutschland geschehen. Es war ja mein Land, auf das ich trotz allem wegen seiner großen Kultur und technischen Errungenschaften stolz war. Wieso haben meine Eltern und Verwandten das hingenommen, fing ich an zu fragen. Sollte ich ihnen glauben, dass sie nichts davon wussten? Als ich in Yad Vashem in den weiten dunklen Raum mit den gespiegelten fünf Lichtern trat, der an die etwa eineinhalb Millionen von den Nazis getöteten Kinder erinnerte, ihre Namen wurden leise verlesen, war es ein schmerzlicher und zugleich tröstlicher Moment. Ihr Andenken ist nicht vergessen, immer wieder werden ihre Namen genannt. Wie ich hätten sie noch leben können, denn die Jüngsten waren in meinem Alter. Sie wurden ausgelöscht, aber sie werden erinnert. Das ist auch ein Trost. Der Trost des Gedenkens.

Nicht in Ruhe lassen mich auch die 60 Millionen Opfer des Zweiten Weltkriegs, besonders die 5,6 Millionen polnischen Opfer und die 23 Millionen Toten der Sowjetunion als Folge des deutschen Vernichtungskriegs. Und die Toten der Kriege danach, Korea, Nahost, Vietnam, Afghanistan, Irak u.a., außerdem Naturkatastrophen wie der Tsunami in Südostasien 2004 mit 230 000 Toten und das Erdbeben auf Haiti mit seinen über 300 000 Toten 2010, die vielen Toten infolge der Flüchtlingsbewegungen, die Ertrunkenen im Mittelmeer. Während meines langen Lebens wurde ich ständig mit dem Tod an anderen Orten konfrontiert. Immer habe ich versucht innezuhalten und der Opfer zu gedenken. Das war mir gerade als Theologe wichtig. Ist doch Gott ein Name für das Gedenken und die Kirche ein Ort, wo das geschehen kann (aber nicht mit revanchistischen Kriegerdenkmälern!). Gegenwärtig sind es die Toten der Corona-Pandemie, die Trauer und Betroffenheit hervorrufen. 4,5 Millionen weltweit, 92 500 in Deutschland. Das sind alles bedrängende Zahlen, die einen billigen Trost ausschließen.

„Kein Trost, nirgends“ (in Abwandlung eines Romantitels von Christa Wolf) ist man versucht, angesichts dieses ungeheuren Leidens auszurufen. Aber ich habe ein Fragezeichen dahinter gesetzt. Was bedeutet dieses Fragezeichen? Als Kinder wurden wir mit der Auskunft getröstet, dass die verstorbene Großmutter als Stern am Himmel leuchtet und uns begleitet. Die fromme Lüge habe selbst ich als kritischer Theologe noch angewandt, als die Kinder nach ihrem verstorbenen Opa fragten.

Wir glauben daran und hoffen darauf, dass die Toten, die in ihrem Leben an Gott glaubten, jetzt bei Gott aufgehoben sind, wäre eine erwachsene Antwort auf die Frage. Doch insgesamt haben die tröstlichen Antworten der großen Religionen an Überzeugungskraft verloren. Das Versprechen einer Existenz im Himmel als Entschädigung für ein elendes Erdenleben überzeugt nicht mehr viele. Zudem sind Jenseitsversprechen durch ihre Pervertierung bei Selbstmordattentätern in Misskredit geraten – wer möchte schon in einem Paradies zusammen mit Attentätern fortexistieren, die hunderte auf dem Gewissen haben. Die Menschheitsgeschichte ist immer noch die Schlachtbank, auf der Millionen geopfert werden. Es gibt leider nicht den Trost, dass es gewiss anders wird und die Menschheit in Kürze lernt, ihre Konflikte friedlich zu lösen. Oder dass Naturkatastrophen ausbleiben, selbst wenn wir jetzt drastische Maßnahmen gegen den Klimawandel auf den Weg bringen. Trotzdem, das Fragezeichen hinter „Kein Trost, nirgends“ ist berechtigt, weil es den Trost des Gedenkens an die sinnlos Gemordeten gibt und die starke Hoffnung, dass die Täter letztlich nicht über die Opfer siegen. Die Geschichte ist für die Opfer nicht abgeschlossen, sagte Walter Benjamin.

 

Ich habe in den letzten zehn Jahren mich immer wieder mit Fragen des Sterbens, des Erinnerns und Gedenkens in der Literatur und in der Gesellschaft beschäftigt. Als Kind der Täter-und Mitläufer-Generation und als zoon politikon fühlte ich mich dazu ein Leben lang verpflichtet. Und als Christ ist für mich das Gedächtnis der Leidenden, die Memoria passionis, bindend. Ich frage also: Wie geht Literatur mit dem unerbittlichen Faktum des Todes als Auslöschung der Identität um? Kann man der infolge vernichtender Gewalt Getöteten gedenken, ohne aufzurechnen? Wie kann Gedenken dauerhaft sein, ohne zum leeren Ritual zu werden? Gibt es neben dem Gedenken auch die Möglichkeit des Vergebens und Vergessens? Schließlich: Was hat das Christentum heute noch für ein Trostpotential? Trost als verwandelnde Kraft im Diesseits und nicht mehr als Vertröstung? So stelle ich in diesem Büchlein Texte zusammen, die sich dem Thema Gedenken und Vergessen, Sterben und Trost stellen, in der Hoffnung, sie können ausgehend vom Memento mori und der Memoria passionis die Lebenskräfte stärken.

„Auch mich, den Tod, gibt es in Arkadien.“
Die neue Aktualität des Memento Mori- Gedankens infolge der Corona-Pandemie

„Memento Mori.“ Sei dir deiner Sterblichkeit bewusst. Denke daran, dass du sterben musst. Man findet diesen mittelalterlichen Spruch heute gelegentlich noch auf Grabsteinen, auf Gemälden, aber auch an öffentlichen Gebäuden. Im Mittelalter war er Ausdruck der von dem Kloster Cluny ausgehenden monastischen Reformbewegung, die die Reinigung von allem Weltlichen in den Klöstern und die Vorbereitung auf den Tod und das Jüngste Gericht ins Zentrum des Glaubens stellte. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts führte das pandemische Auftreten der Pest, dem die damalige Menschheit hilflos gegenüberstand, aber nur begrenzt zu einer Verstärkung des Memento Mori-Gedankens.1 Trotzdem nahmen Totentanzdarstellungen zu. Sie zeigten den Tod als Gerippe-Spielmann mit Geige, der die Menschen ohne Unterschied zum letzten Tanz holt, den Bettler wie den König. Das Motiv fand großartige bildliche Darstellungen unter anderem auch im Ostseeraum (man denke an den im Zweiten Weltkrieg zerstörten Lübecker Totentanz von Bernd Notke). Auch Pestsäulen erinnern bis heute an diese Seuchenzeiten. Gleichzeitig entstand, die Totenmusik des Requiems mit dem Dies Irae, die allerdings erst Ende des 18. Jahrhunderts, als der Glaube an das Jüngste Gericht schon geschwunden war, große Kompositionen aus sich heraussetzte. Der Vergänglichkeitsgedanke Vanitas vanitarum fand im Barock zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs in Kunst und Literatur noch einmal große Verbreitung. Auf Gemälden Guercinos und Poussins stehen Hirten betroffen vor einem Totenkopf bzw. vor einem antiken Grabmal in der schönsten Landschaft, auf dem „Et in arcadia ego“ zu lesen ist–auch mich, den Tod, gibt es in Arkadien. Doch schon am Ende des 18. Jahrhunderts geriet die Darstellung des Sensenmanns außer Mode (mit der Ausnahme von Matthias Claudius, der ihn „Freund Hain“ nannte). Die Menschheit witterte dank medizinischer und technischer Fortschritte Morgenluft. Die Lebenszeit verlängert sich schon Ende des 19. Jahrhunderts. Das tat sie auch im 20. Jahrhundert trotz seiner schrecklichen Kriege und Völkermorde mit Abermillionen Opfern. Vollends im 21. Jahrhundert ist das Genieße das immer längere Leben, das carpe diem zum bestimmenden Motto der Wohlstands- und Erlebnisgesellschaft geworden (mit den bekannten sozialen Unterschieden zwischen Nord und Süd). Auch wollen immer mehr Menschen nicht mehr daran erinnert werden, dass der Tod „ein Meister aus Deutschland“ ist, dass es für Millionen ermordeter Juden nur ein „Grab in den Lüften gab“. Das Auschwitz-Gedenken wurde von einem Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels sogar als Moralkeule diskreditiert.

Und das ging so, bis die Corona-Pandemie ausgehend von China alle Länder der Welt erfasste. In Zahlen ausgedrückt: Am 26. 8. 2021 gab es weltweit 212 884 693 bestätigte Infektionen und 4 447 120 Tote. In der Bundesrepublik 3 877 612 bestätigte Infektionen und 92 022 an und mit Corona Gestorbene. Aber auch 53 405 091 Geimpfte. An dem Tag, an dem ich dies schreibe, liegt die Siebentag-Inzidenz je 100 000 Einwohner bei 58,0. Das öffentliche Leben hat sich weitgehend normalisiert. An den Wochenenden mit schönem Wetter waren die Seen und ihre Ufer ebenso überfüllt wie die Restaurants und Cafés.

Das Memento Mori, sprich die Erinnerung an die Infektionsgefahr von Seiten der vorsichtigen Epidemiologen und Politiker, die vor neuen Varianten des Virus (Delta) warnten, wurde nicht gerne gehört. Die im Fernsehen ständig wiederholten Bilder von den Intensivstationen, in denen Corona-Infizierte während des zweiten und dritten Lockdowns um ihr Leben kämpften, sind weniger geworden. Fast vergessen sind die Fotos der Militärlaster mit den Särgen der Corona-Toten von Bergamo im März 2020. Immerhin gemahnen die täglichen Tabellen mit der Erwähnung der an Covid-19 Verstorbenen in der sommerlichen Freizeitgesellschaft weiter an das „Et in arcadia ego“.

Ein Freund (Martin Cordes aus Hannover) schrieb mir vor über einem Jahr im April 2020 prophetisch ausgreifend: „Die Menschheit ist offensichtlich jetzt so herangereift, dass sie die Pandemie meistern kann. Sie ist nicht mehr dem Untergang geweiht, sondern kann das Unglück bewältigen. Sie kann anders als die Dinos sich wehren – aber erst jetzt, vorher wütete die Pest ungebremst. Macht euch die Erde untertan würde dann bedeuten, euch wachsen auch ungeahnte Kräfte zu. Die intelligenten und geistbegabten Menschen entdecken und schaffen Gegenmittel.“ Ja, so kann man es mit einer Prise sarkastischem Optimismus sehen. Da ist einerseits trotz des priesterschriftlichen „Siehe, es war sehr gut“ die unfertige Schöpfung mit ihren Katastrophen infolge der Verschiebung der Kontinentalplatten, mit Erdbeben, Tsunamis, Vulkanausbrüchen und den Folgen der Klimaerwärmung. Andererseits die Gefährdung durch seuchenartige Krankheiten, die aus mangelnder Hygiene und unvorsichtigem Umgang in der Massentierhaltung entstehen. Diese Gefahren werden bleiben. Kein Gott kann daran etwas ändern. Aber die Jahrtausende alte Hilflosigkeit des Menschen gegenüber Pandemien wie die im 14. Jahrhundert auftretende Pest (von China nach Europa brauchte sie zehn Jahre!), die die Bevölkerung Europas um ein Drittel dezimierte oder vor 100 Jahren noch die Spanische Grippe mit 50 Millionen Toten, ist weitgehend überwunden. Selbst gegen die zoonotischen Infektionen, die sich von den Wildtiermärkten infolge der fortgeschrittenen Globalisierung schnell ausbreiten (Sars, Covid-19), entwickeln moderne Wissenschaft und Medizin Gegenmittel. Ja, es gibt schon 4,5 Millionen Tote weltweit, das ist schrecklich und immer noch wütet Corona in den Ländern und Kontinenten, die nicht so große medizinische Möglichkeiten haben, das Virus durch Impfen einzudämmen. Trotzdem – in the long run, so scheint es jedenfalls, ist die Corona-Pandemie trotz der Entstehung neuer Viren beherrschbar. Es gibt Gegenmittel, Schutzmasken, Tests und Beatmung auf Intensivstationen in den Krankenhäusern. Vor allem gibt es die Impfstoffe Biontech, Astra Zeneca und Moderna, die seit Beginn des Jahres 2021 zum Einsatz kommen, vor Ansteckung schützen können und mildere Verläufe der Infektion ermöglichen. Auch ich bin inzwischen zwei Mal geimpft, und ich muss gestehen, dass mich das sehr erleichtert und aus einer zeitweilig depressiven Phase herausgeholt hat. In nur einem knappen Jahr wurden diese Impfstoffe entwickelt, geprüft und zur Anwendung gebracht (auch wenn sich leider! längst nicht alle impfen lassen wollen). Merkwürdig genug – die traurige Geschichte der Pestilenzen mit ihren Millionen Opfern stellt zugleich den Trost bereit: Die Menschheit hat es überlebt. (So Yuval Noah Harari in der SZ vom 17. 4. 2020) Das macht die Opfer nicht wieder lebendig. Die Hunderttausende von Aids-Waisen in Afrika werden durch diese Auskunft nicht getröstet. So ist es auch jetzt, wenn Enkel ihre Großeltern durch Covid-19 verlieren, wenn jüngere und mittelalte Menschen sterben und nicht wenige nach überstandener Infektion trotzdem an „Long Covid“ leiden. Wie soll man sie trösten? Wie den Glauben an einen barmherzigen Gott bewahren?

Wir müssen in der Moderne so handeln, als ob es Gott nicht gäbe, etsi deus non daretur, hat Dietrich Bonhoeffer 1944 unter Beziehung auf Hugo Grotius formuliert. Deutlich gesagt: Es gibt keinen direkt in Natur und Geschichte eingreifenden rettenden Gott, keinen Gott, der die Pandemie verhindern oder begrenzen kann. (Und schon gar nicht einen Gott, der durch Naturkatastrophen und Unglücksfälle die Menschen erziehen und strafen will, wie manche Fundamentalisten auch jetzt wieder behaupten). In der Natur treten Lebewesen wie die sich vermehrenden Viren auf, die aufs Überleben hin optimiert sind und die für den Menschen gefährliche Mutationen durchlaufen. Auch wenn unsere technischen und wissenschaftlichen Fähigkeiten gewachsen sind, wir haben die Zukunft nicht im Griff. Sie ist unverfügbar.

Als Theologie und Kirche müssen wir zugeben: Gott kann nicht eingreifen. Aber das macht Gebete nicht überflüssig. Sie bringen Klagen und Überforderungen expressiv vor Gott. „Herr, was tust du?“, ruft Jakob aus, als Rahel bei der Geburt Benjamins stirbt. „In solchen Fällen erfolgt keine Antwort“, heißt es in Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder weiter. „Aber der Ruhm der Menschenseele ist es, daß sie durch dieses Schweigen nicht an Gott irre wird, sondern die Majestät des Unbegreiflichen zu erfassen und daran zu wachsen vermag.“ Ähnlich hat es der islamische Mystiker Rumi gesagt: „Die Antwort liegt im Schrei“. Noch mal: Der eingreifende Gott ist lange tot. Aber es ‚gibt‘ Gott als Beziehungskraft. Als Christen sollen wir den Glauben an den Gott, der sagt, meine Kraft ist den Schwachen mächtig, nicht aufgeben. Gerade in schwierigen Zeiten nicht, wo hunderttausende an Covid-19 sterben. Auch wenn Gott nicht eingreift ins Naturgeschehen, so kann er doch eine stärkende Beziehungsmacht sein. Die Pandemie ist eine Erinnerung an das Unverfügbare vor allem in dem Sinn, dass dieser Glaube den Menschen trotz aller Schwierigkeiten in seinem Kampf um Rettung stärken kann. Auch die Kranken und ihre Angehörigen, die ÄrztInnen und PflegerInnen, die ForscherInnen und PolitikerInnen, die VerkäuferInnen und andere sogenannte ‚systemrelevante‘ Gruppen. Dass dies Unverfügbare den Menschen zwar demütig, aber nicht resignativ macht, wie das in Pestzeiten oder zur Zeit der Spanischen Grippe vor 100 Jahren noch der Fall war. Und dass der Grundsatz antiselektiver Rettung, der den barmherzigen Gottesgedanken seit dem Exodus der israelischen Sklaven aus Ägypten begleitet, in den ethischen Debatten um die harten Maßnahmen in der Corona-Pandemie weiter zur Geltung kommt. Denn wie sonst könnte eine Kanzlerin eine ganze Gesellschaft dazu auffordern, einen harten Lockdown mitzutragen, um die besonders gefährdeten Großeltern vor Ansteckung durch das Virus zu schützen?! Die Schwachen zuerst schützen! Ja, und schließlich darf dann auch der Gott, der nach dem Zeugnis der Offenbarung am Ende die Tränen abwischt, zitiert werden als letzter Trost für die, die in diesem Kampf noch zu Opfern wurden und für ihre Angehörigen.

„Verweinte Augen zum Leuchten bringen.“
Die Predigttätigkeit des Laien Arthur Goldschmidt in der evangelischen Gemeinde im KZ Theresienstadt

In dem Buch über den französisch-deutschen Autor Georges-Arthur Goldschmidt, Überqueren, überleben, übersetzen (veröffentlicht im Göttinger Wallstein-Verlag 2018 zu seinem 90. Geburtstag) ist ausführlich kommentiert und historisch eingeordnet der bewegende Bericht von Goldschmidts Vater Arthur Goldschmidt Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt 1942–1945 abgedruckt. Ich wusste von diesem Bericht, 1948 im Furche-Verlag zuerst veröffentlicht, hatte aber bislang nicht die Gelegenheit gehabt ihn zu lesen. Jetzt tue ich es also, am Vorabend des 8. Mai 2020, des Tags der Befreiung vom Faschismus und der Niederlage Nazi-Deutschlands. Arthur Goldschmidt, 1873 geboren, 1887 evangelisch getauft (zusammen mit seinen Eltern), studierte Jura, wurde Richter am Hamburger Oberlandesgericht, 1933 in den Ruhestand versetzt, malte gerne und war ein überzeugter evangelischer Christ in Reinbek, aber nicht aktiv in der Gemeinde. 1938 schickte er seine beiden Söhne ins Exil, zuerst nach Italien, von wo sie 1939 nach Frankreich kamen. Nach dem Tod seiner Frau 1942 wurde er nach Theresienstadt deportiert.

 

Theresienstadt, eine kleine Festungsanlage, die Kaiser Josef II einst hatte erbauen lassen, wurde 1941 freigeräumt und von Hitler „den Juden geschenkt“. Es sollte einerseits ein Vorzeigelager sein, ein Ghetto, eine jüdische Siedlung in Selbstverwaltung, von der SS kontrolliert. Goldschmidt nennt es kommunistisch, kollektiv. Alle, so unterschiedlich sie waren, waren gleichgestellt. Es war aber zugleich großenteils ein Durchgangslager für den Transport der Juden nach Osten in die Vernichtungslager.

In Theresienstadt angekommen fasste Arthur Goldschmidt den Entschluss, evangelische Gottesdienste abzuhalten. Anders gesagt, der Auftrag drängte sich ihm wie bei einer alttestamentlichen Prophetenberufung auf: „Ich ging dorthin, wie unter dem Auftrag, dort Gottes Wort zu verkünden zu sollen (…) Nach einigen furchtbaren Wochen in der Kaserne, kam ich mit einigen Hamburger Herren auf den Dachboden einer Kaserne. Dort versammelte ich, am ersten Sonntag, einige Bekannte von mir; wir lasen einen Text des Evangeliums und ein geistliches Lied. Das sprach sich rasch herum, von Sonntag zu Sonntag wuchs die kleine Gemeinde.“ (222) Der damalige Judenälteste, Herr Edelstein, war erstaunt, dass sich eine evangelische Gemeinde gebildet hatte, aber verständnisvoll. „Der liebe Gott sei ja schließlich derselbe, und ihm Edelstein, sei es gleichgültig, in welcher Weise man ihn verehre.“ (223) Goldschmidt forderte als Fürsprecher einer religiösen Minderheit unter den Juden Theresienstadts Respekt und religiöse Autonomie, wie es die Juden seit Moses Mendelssohn auf ähnliche Weise gegenüber den Preußen getan hätten. „Wir geben zu bedenken“, heißt es mit kaum verhaltener juristischer Schärfe in seinem Protestschreiben an den Ältestenrat, „was das Weltgericht der Geschichte einmal über die Anklage befinden würde, daß eine soziale Gemeinschaft, die als Minderheit Kulturautonomie begehrt und gefunden hat, als Mehrheit eine solche nicht einräumen will.“ (233) Schließlich wurde der Dachboden als Versammlungsraum offiziell zur Verfügung gestellt. Ein ehemaliger Landgerichtsrat aus Berlin, Dr. Stargadt, wurde von Goldschmidt zum Diakon berufen und ging ihm zur Hand. Man erstellte eine Mitgliederliste, später ohne das Taufdatum anzugeben, weil Juden, die erst als Erwachsene übergetreten waren, von den gesetzestreuen Juden als Abtrünnige angesehen und diskriminiert wurden. Insgesamt standen wohl ca. 800 evangelische Christen aller möglichen Denominationen auf dieser Liste. Der Altar wurde mit einem von Goldschmidt gemalten Bild Marias mit Kind geschmückt, dazu wurde ein in Theresienstadt gefundenes Kruzifix aufgestellt. In diesem Raum konnte auch die katholische Gemeinde ihre Gottesdienste feiern.

Die Gemeinde zu leiten, Gottesdienst zu halten und das Abendmahl auszuteilen, stand nur ihrem Begründer zu, der sich dabei auf die Schmalkaldischen Artikel berief, die ein Notregiment durch einen Laien vorsahen, wenn kein ordinierter Pastor zur Verfügung stand. Wie oft in urchristlichen Gemeinden kam es auch zu Rivalitäten. Die Bemühung eines der Dahlemer Bekennenden Gemeinde nahestehenden Gemeindeglieds, Dr. Hamburger, als dort ordinierter Notgeistlicher auch zu predigen, wurde nach einem ersten Versuch von der Gemeindeversammlung abgewiesen. Neben der Treue zu dem Gemeindegründer spielte auch das Argument eine Rolle, er komme nicht richtig an und stelle mehr als den Auftrag, der Gemeinde „einen gewissen Halt gegen das äußere Leiden zu geben“ (234), dogmatische Fragen in den Mittelpunkt. Später kam ein holländischer Pastor jüdischer Herkunft, Dominus Enker, nach Theresienstadt, der dann wegen der deportierten holländischen Juden selbstverständlich predigen durfte. Neben den Gottesdiensten gab es auch Gemeindeabende mit Vorträgen verschiedener Referenten und Bibelarbeiten. Goldschmidt, ein begabter Maler, fertigte davon Zeichnungen an, auch von den Trauerfeiern, die angesichts der hohen Sterblichkeit häufig stattfanden. Zunächst nicht unterschieden von den jüdischen Trauerfeiern, später dann doch in einer eigenen Halle mit Kruzifix und dem Spruch „Ego sum resurrectio“. Taufen wurden nicht vorgenommen, Trauungen nur in Ausnahmefällen. Es hätte ja dazu einer vorherigen standesdesamtlichen Eheschließung bedurft.

Die Ernährung in Theresienstadt war schlecht und „auf allmählichen Untergang abgestellt. Es herrschte ständiger Hunger, und die Menschen magerten rasch zu Skeletten ab; das Gewicht der Verstorbenen betrug vielfach nur 60 Pfund (…) Zu dem Hunger kam das unbeschreibliche Wohnungselend. Man litt unter unvorstellbaren Mengen von Ungeziefer.“ (220 f.) Hinzu kam die seelische Qual, ohne Nachrichten von den Lieben draußen zu sein und nichts von der militärischen Lage zu wissen. „Auch ein früheres Todesgeschick klopfte Tag für Tag an das Tor: Abtransport. Alle acht Wochen bis zwölf Wochen, mitunter öfter, wurden ein-, zwei-, fünftausend Menschen zum Abtransport bestimmt; niemand wußte, wen und wann es ihn traf.“ (221) Abtransport in den, wie man ahnte, Tod. In dieser extrem belastenden Situation eine Gemeinde von Judenchristen aufzubauen und zu leiten, war eine große Aufgabe. Wie aber in dieser bedrohlichen Situation, zwischen dem langsamen Verhungern und dem Abtransport nach Osten, das Wort Gottes verkünden? Was konnte da einer Gemeinde, die danach hungerte, Trost geben? Was Goldschmidt dazu sagt, hat mich als Prediger, der nie in einer ähnlichen Situation war und zu Zweifeln über die Wirksamkeit der Predigt neigt, (wie heißt es im Wunderhornlied Mahlers: „die Predigt hat gefallen, sie bleiben wie allen“) besonders beeindruckt. Ich habe immer daran gezweifelt, dass in einem Ghetto oder KZ ein lebbarer Glaube an einen gerechten und barmherzigen Gott möglich sei. Denn der war doch in diesem Grauen so weit weg, Lichtjahre entfernt. Ein KZ als Vernichtungslager, selbst ein (halbwegs Überleben ermöglichendes) Ghetto wie das in Theresienstadt war in der Nazizeit doch die Widerlegung Gottes. „Zu Tausenden und Abertausenden zusammengepfercht, entbehrte unser Leben jeden höheren Sinnes. Denn unaufhörlich starrte uns das Ende an, sei es, daß man heute oder morgen in Not und Krankheit hinstarb, sei es, daß heute oder morgen das zum Feind gewordene Vaterland uns tötete“ (250), beschreibt Goldschmidt ohne Beschönigung die Lage der Bewohner. „Der Gedanke an Rettung und Befreiung, der dazu noch herzbedrückend, den Gedanken an die Niederlage und den Untergang Deutschlands in sich schloß, war wie eine Fata Morgana, wie eine Lichtspiegelung in unerreichbarer Ferne, die nur wenige sahen. Wer von uns konnte schon mit dem Herrn sagen: ‚Seid getrost, ich habe die Welt überwunden!‘“ (250)

Und nun höre man, was Goldschmidt im Angesicht der drohenden Vernichtung als Aufgabe der Verkündigung beschrieb: „Von der Gnade des Herrn zu sprechen, daß sie auch uns leuchtete, uns in diesem anscheinend hoffnungslosen Leben, das musste der Inhalt der Predigt sein.“ Es konnte sich nicht um Erbauung oder Belehrung handeln, sondern „um Erweckung von Mut aus der Heilsgewißheit im Blick auf das Letzte (…) Nur dieser Mut machte es möglich, das Leben in dieser Welt zu ertragen, in einer Welt, die für uns doch noch nicht zu Ende war.“ (251) Die Predigt sollte nicht chiliastisch sein, also auf den neuen Himmel und die neue Erde gerichtet, nicht Jenseitstrost, sondern Diesseitsermutigung mit dem Satz des Paulus „Hoffnung lässt nicht zuschanden werden.“ (Rö 5,5) „Man konnte das Wort diesseits wendend, die verweinten Augen zum Leuchten bringen.“ Welch ein schlichter schöner Satz, der der Predigt das zutraut! Ich war immer ein Kritiker einer allzu direkten Wort Gottes-Theologie, die von der Selbstdurchsetzung des Wortes spricht. Hier jedoch möchte ich an sie glauben!

Und dann der Ausblick auf das Leben nach dem Kriegsende: „Unsere Aufgabe ist dann nicht Vergeltung zu üben, sondern mitaufzubauen an dem inneren Deutschland, sich auswirken zu lassen, was das Leid uns an geistiger Erhöhung geschenkt hat.“ (253) Was für eine großherzige Versöhnungshaltung eines Mitglieds des Volkes, das die Nazis in Europa fast ausrotteten!

Abschließend geht Goldschmidt auf die erzieherische Aufgabe der Predigt ein; sie liege darin, auf die nicht verhehlte christliche Überheblichkeit gegenüber dem Judentum, das wahre Israel zu sein, hinzuweisen. Es sei ihre Aufgabe, die „immer verspöttelte jüdische Gesetzestreue, die Einstellung Christi zum Gesetz und den Pharisäern verständlich“ zu machen und Respekt für die Aufrechterhaltung der Tradition und das Volk zu erwecken, von dem man sich zu lösen versuchte. (252) Ich muss leider berichten, dass in meinem Theologiestudium in den 60er Jahren die Kritik an der jüdischen Gesetzesreligion unter den Theologieprofessoren noch weit verbreitet war. Erst die Erklärung der Rheinischen Synode von 1980 hat hier eine Veränderung bewirkt und daran festgehalten, dass Israel weiter das erwählte Volk Gottes und eine Judenmission daher nicht nötig sei. Sie wurde allerdings von einigen Theologieprofessoren deshalb kritisiert. Arthur Goldschmidt schließt seinen Bericht mit dem Bekenntnis, die Predigt müsse der Kraft des Wortes Gottes glauben, sich allein auf das Evangelium stellen und darauf vertrauen, dass es wirkt. „Ein Zeichen dafür, dass es in gewissem Grade vielleicht der Fall war, mag der große Besuch der Predigt sein und die geschlossene Haltung der Gemeinde all die Zeit des bitteren Leids und des Endes so vieler, bis zur Stunde, da die Gemeinde – im Juni 1945 – nach einem letzten Dankgottesdienst sich auflöste und die wenigen am Leben Gebliebenen befreit allmählich wieder in die Welt zurückkehren konnten.“ (253) Für mich ist dieser Bericht ein wunderbares Zeugnis über die schwache Anwesenheit eines abwesenden Gottes.1