Loe raamatut: «Sepp Kerschbaumer»
Josef Fontana / Hans Mayr
Sepp Kerschbaumer
Eine Biografie
Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Abteilung Deutsche Kultur der Autonomen Provinz Bozen – Südtirol
© Edition Raetia, Bozen 2021
Umschlaggestaltung: Dall’O & Freunde
Umschlagfoto: Wolfgang Pfaundler, Innsbruck
Druckvorstufe: Typoplus, Frangart
Korrektur: Helene Dorner
Redaktionelle Mitarbeit: Carolin Götz, Annalena Eschgfäller
Printed in Europe
ISBN 978-88-7283-796-2
eISBN 978-88-7283-805-1
Unseren Gesamtkatalog finden Sie unter www.raetia.com.
Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an info@raetia.com.
Inhalt
Jugend und frühe Mannesjahre
Jugendzeit und erste politische Erfahrungen
Gründung eines eigenen Hausstandes
Die Kriegszeit 1939 bis 1945
1939: Gehen oder bleiben?
Die große Verweigerung?
Enttäuschte Hoffnungen
Der Neubeginn von 1945
Vom Pariser Vertrag bis zum Autonomiestatut
Halt in der Familie
Kerschbaumer und die Italiener
Von der zivilen Auflehnung zur Gewaltanwendung
Todesmarsch und Existenzängste
Die Palastrevolution von 1957
Die Kundgebung von Sigmundskron
Resonanzen und Dissonanzen
Eine verlorene Stimme der Vernunft
Die Haltung der Amtskirche
Die Schlacht um die Parlamentswahl von 1958
Eine Fahnengeschichte mit Folgen
Der Pfunderer Prozess
Hilfe für Toni und Sepp Stieler
1809-Feiern mit Trikolore?
Das verhinderte Combattenti-Treffen
Gegen Misshandlung von Minderjährigen
Nadelstiche und Feuernacht
Die neue Strategie des BAS
Sepp Kerschbaumer und die politischen Ziele des BAS
Spannungen und Zerwürfnisse im BAS
Befreiungstheologie und Naturrecht
Die Taktik der Nadelstiche
Die Große Feuernacht
Die Kleine Feuernacht
Verhaftung und Untersuchungshaft
Verhaftung und Misshandlung
Rechtfertigungs- und Verteidigungslinie
Zorn und Ohnmacht
Der Tod Franz Höflers
Weihnachten 1961 im Gefängnis
Der Tod Anton Gostners
Gefängnisalltag in Bozen
Die Fahnenaffäre vom 24. Juni 1962
Im Gefängnis von Verona
Hungerstreik
Der Prozess in Mailand
Die Einvernahme
Gefängnisalltag und Prozessstress
Anklage und Verteidigung
Das Urteil
Von Mailand nach Trient, von Trient nach Verona
Zwischenstation in Verona
Unbehagen in Trient, Rückkehr nach Verona
Tod und Begräbnis
Tod in Verona
Das Begräbnis, ein drittes Sigmundskron
Vermächtnis und Gedächtnis
Gedenkfeiern im Zeichen von Störmanövern
Gedenkfeier im Zeichen des zehnten Todestages
Gedenkfeiern im Zeichen des Terrors, erzeugt mit Bomben aus zweiter Hand
Gedenkfeiern im Zeichen hausgemachten Unfriedens
Erinnerungsdenkmale und historische Aufarbeitung
Anmerkungen
Quellen und Literatur
Personenregister
Ortsregister
Bildnachweis
Abkürzungen und Siglen
Die Autoren
Jugend und frühe Mannesjahre
Jugendzeit und erste politische Erfahrungen
Sepp Kerschbaumer wurde am 9. November 1913 als Sohn des Josef Kerschbaumer und der Luise Zelger in Frangart bei Bozen geboren.1 Der Vater, 1917 an der Tiroler Südfront gefallen, stammte vom Ritten, die Mutter aus Aldein. Durch Sparsamkeit und Fleiß hatte es die Familie Kerschbaumer zu bescheidenem Wohlstand und Ansehen gebracht. Als Angestellter der Firma Amonn war es dem Vater möglich gewesen, das Gemischtwarengeschäft in Frangart aufzubauen, das Sepp Kerschbaumer später übernehmen sollte. Sepp Kerschbaumer verlor aber den Vater bereits mit fünf und die Mutter mit neun Jahren. Nach dem Tod der Mutter kam er daher in ein Heim, zuerst in das Rainerum in Bozen, dann zu den Augustiner Chorherren in Neustift, wo er bis zum 14. Lebensjahr die kaufmännische Vorbereitungsschule absolvierte. Eine höhere Schule besuchte er nicht, doch dürfte er in Bozen und Neustift eine recht solide Grundausbildung erfahren haben. Seine spätere Gewandtheit in der Handhabung der Feder lässt darauf schließen, dass er gute Deutschlehrer hatte. Nach Abschluss der Schule in Neustift begann Sepp Kerschbaumer in einem Brixner Porzellangeschäft die Kaufmannslehre; wäre er nicht im Mai 1933 zum Militärdienst eingezogen worden, hätte er nun bald das vom Vormund verwaltete Gemischtwarengeschäft übernehmen können. So führte das Geschäft vorläufig Martin Alessandri aus Frangart weiter. Auch nach der Entlassung aus dem Militärdienst war es ihm nicht möglich, sich beruflich selbstständig zu machen. Jetzt war es die Politik, die ihm einen Strich durch die Rechnung machte. Es ist nicht bekannt, ob sich Sepp Kerschbaumer in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren viel mit Politik befasst hat. Sicher ist, dass sich die Lage in Südtirol um 1933/34 verschärfte und dabei oft der Friedfertigste vom Sog der Zeit erfasst wurde. Der im Herbst ins Land gekommene neue Präfekt Giuseppe Mastromattei schlug einen Kurs ein, der den Menschen in Südtirol das Leben schwer machte. Eine forcierte Zuwanderung sollte das ethnische Verhältnis auf den Kopf stellen und das deutsche Element an den Rand drücken. Letztes Ziel dieser Politik war die Assimilation der einheimischen Bevölkerung. Die Südtiroler führten damals ein Leben zwischen Resignation, äußerer Anpassung und Hoffnung. Die ältere, mehr an den Männern des aufgelösten Deutschen Verbandes und am Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) orientierte Generation sah in den Diktaturen in Italien und in Deutschland vorübergehende Erscheinungen. Ihr war daran gelegen, die Stürme möglichst gedeckt und in Passivität durchzustehen, bis eine bessere Zeit anbrach. Vom Nationalsozialismus erwartete sie sich keine Erlösung aus der Notlage. Im Unterschied dazu setzte die Jugend, vornehmlich die im Völkischen Kampfring Südtirols (VKS) organisierte, ihre Hoffnungen auf das aufstrebende nationalsozialistische Deutschland.
Sepp Kerschbaumers Eltern
Nur das von Hitler geführte Deutschland, niemals das kleine Mussolini-hörige Österreich, schien in die Lage zu kommen, das Unrecht von Saint Germain und Versailles zu beseitigen und Südtirol zu befreien. Neue Nahrung erhielten diese Tendenzen im Herbst 1934 durch Gerüchte über eine bevorstehende Volksabstimmung im Saargebiet. Das Saarstatut (Art. 45 bis 50 des Versailler Vertrags) hatte das Saargebiet ab 1920 für 15 Jahre dem Völkerbund treuhändisch unterstellt. Artikel 49 dieses Abkommens sah vor, dass nach Ablauf dieser Frist die Bevölkerung dieses Gebietes befragt werde, „unter welche Souveränität sie zu treten wünscht“.2 Das Saarvolk konnte also entscheiden, ob das Saargebiet an Frankreich fallen oder heim ins Reich kommen solle. Das Datum für die Abstimmung war auf den 13. Jänner 1935 festgesetzt. Solche Vorgänge wurden in Südtirol aufmerksam verfolgt. In St. Pauls hatte der Dopolavoro der Gemeinde einen Radioapparat geschenkt, der angeblich so eingestellt war, dass er alle Sendungen aus dem Deutschen Reich übertrug. Man war daher gut informiert über all das, was sich in Deutschland ereignete, ab 1933 freilich immer im Sinne der nationalsozialistischen Propaganda. In St. Pauls gab es keine Carabinieri-Station. Daher konnte sich dort auch unter der Führung von Franz Schweigkofler eine starke Ortsgruppe des VKS etablieren und entfalten. Diese Ortsgruppe veranstaltete am 9. September 1934 in St. Pauls ein Wiesenfest. An diesem Fest nahm auch Sepp Kerschbaumer im Verein mit mehreren Burschen aus Frangart teil. Und dies sollte ihm zum Verhängnis werden.
Dieses Schulzeugnis beweist, dass Sepp Kerschbaumer ein begabter Schüler war. Er führte nicht nur eine gute Feder, sondern war euch ein ausgezeichneter Kopfrechner, „schnell und genau wie ein elektronischer Taschenrechner“, erinnern sich seine Töchter.
Die Veranstaltung war nämlich von VKS-Leuten „ferngesteuert“ und nahm bald den Charakter einer NS-Kundgebung an.3 Es wurden Hakenkreuze gestreut, das Horst-Wessel-Lied gesungen, die Heimkehr der Saar im Voraus gefeiert und Hochrufe auf den Führer ausgebracht: alles Dinge, die streng verboten waren. Ein Angestellter der Gemeinde Eppan, ein Südtiroler Renegat, meldete diese Vorgänge den Carabinieri. Aus Bozen kam ein Überfallskommando herbei, das die jungen Männer verhaften wollte. Doch die wehrten sich. Nach heftigen Auseinandersetzungen sah man „die kreidebleichen Beamten mit gezogenen Pistolen den Rückzug antreten“.4 Der Denunziant bekam eine Tracht Prügel; zudem wurden die Reifen seines Autos aufgeschlitzt. Doch die Rache folgte auf den Fuß. Schon am nächsten Tag wurden 15 Personen – darunter zwei Mädchen – aus St. Pauls und Umgebung verhaftet und in das Gefängnis von Bozen eingeliefert. Mitte Oktober fällte die Konfinierungskommission in Bozen unter dem Vorsitz des Präfekten Mastromattei das Urteil: Von den Frangartern wurden nach Süditalien in die Verbannung geschickt: Josef Paizoni, Alois und Anton Tartarotti, Amalia Roner, Gottfried Stampfer, Heinrich Spitaler und Josef Kerschbaumer.5 Das Strafausmaß belief sich auf zwei bis vier Jahre. Kerschbaumer erhielt zwei Jahre. Heinrich Spitaler war übrigens der Bruder der zukünftigen Frau Kerschbaumers, die sich in dieser Sache zum ersten Mal für ihren Sepp schlagen durfte. Sie eilte auf Geheiß ihres Vaters sofort hinein nach Bozen zum Präfekten Mastromattei, um das Schlimmste zu verhüten. „Ich muss sie einfach bestrafen“, soll der Präfekt zu ihr gesagt haben. „Das kann ich nicht durchgehen lassen.“ Er habe ihr aber versprochen, so Maria Kerschbaumer, dass er die Verurteilten „in einem Privathaus gut unterbringen wird und dass sie sonst nichts zu befürchten hätten“. Präfekt Mastromattei hat Wort gehalten, und so haben ihr späterer Mann und ihr Bruder bei Potenza „die schönsten Monate ihres Lebens verbracht“. Wenn die Anzeichen nicht ganz trügen, so war Sepp Kerschbaumer an dem Vorfall in St. Pauls nicht mit Überzeugung beteiligt gewesen. Robert Helm, einer der maßgebendsten Aktivisten des VKS, bekennt in seinem Abriss über die Geschichte des VKS ganz offen, dass das Wiesenfest „ferngesteuert“ war. Die als Herbstfest getarnte Veranstaltung war eine „n. s Kundgebung“. Somit wären einige Teilnehmer ahnungslos in die Affäre hineingeraten, unter ihnen vielleicht auch Kerschbaumer. Eines steht jedenfalls außer Zweifel: Sepp Kerschbaumer hat von seiner Verbannung nie ein Aufhebens gemacht. Im Gegenteil, ihm schien es gar nicht recht, dass man darüber sprach und ihn nach den genaueren Umständen fragte. Pepi Fontana suchte bei einem der vielen Rundgänge im Gefängnishof von ihm den Grund für die Verbannung zu erfahren. „Ein Blödsinn“, war die Antwort. Er versuchte es ein zweites und ein drittes Mal, jedoch immer mit dem gleichen Erfolg: „Ein Blödsinn“. Anspruchslos, wie er war, bezeichnete auch er die Zeit der Verbannung als die schönste Zeit seines Lebens. Er war bei einfachen, aber netten Bauers- oder Pächtersleuten untergebracht, für die Südtirol ein spanisches Dorf war. Einmal am Tag musste er sich bei der Polizei melden. Auch dort fand er freundliche Menschen vor.
Der Polizei war wichtig, dass er keine Schwierigkeiten machte und die vorgeschriebene Ordnung einhielt. Da bestand bei Sepp Kerschbaumer keine Gefahr. Er war verlässlich und pünktlich wie eine Uhr. Vom Staat erhielt er ein Tagegeld, von dem er Kost und Unterkunft bestreiten musste. Er lebte so sparsam und genügsam, dass er sich noch ein paar Lire auf die Seite legen konnte. Doch einmal geht, um mit Kerschbaumer zu reden, „auch die schönste Zeit“ vorbei. Im August 1935 hielt das italienische Militär in Südtirol große Manöver ab. Zu diesem Anlass berief Mussolini eine Sitzung des Ministerrats nach Bozen ein. Um dem Ganzen einen schönen Abschluss zu geben, begnadigte er mit einem Federstrich 50 verbannte Südtiroler. Und so konnte auch Sepp Kerschbaumer im Herbst 1935 nach Südtirol zurückkehren.6
Gründung eines eigenen Hausstandes
Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung konnte Sepp Kerschbaumer endlich das Geschäft in Frangart von seinem Vormund übernehmen. Sein Stand als Vollwaise legte ihm nahe, so bald wie möglich eine Familie zu gründen. Bereits in der Bibel heißt es, dass es nicht gut sei, dass der Mensch allein sei. Und die Bibel nahm Kerschbaumer schon als junger Mann ernst. Aber auch politische Überlegungen dürften ihm diesen Entschluss nahegelegt haben. Die Verbannungsgeschichte hatte deutlich genug gezeigt, dass man von einem Tag auf den anderen aus dem Arbeitsleben herausgerissen werden konnte.
Sepp Kerschbaumer als Klarinettist der Musikkapelle Frangart um 1934. Zweite Reihe von oben, fünfter von links
Ob sich dann wieder sofort jemand fand, der einsprang, war erst die Frage. Es sprach also alles dafür, ans Heiraten zu denken. Seine Wahl schien schon seit längerer Zeit festgestanden zu sein: Maria Spitaler aus Frangart wollte er zum Traualtar führen. Der Vater der Braut, Franz Spitaler, hatte gegen das Ehevorhaben an sich nichts einzuwenden, wäre da nur nicht diese Konfinierungsgeschichte gewesen. Franz Spitaler hatte das Ereignis wie einen Schuss vor den Bug aufgefasst. Das Familienschiff seiner Tochter sah er bei den heftigen politischen Leidenschaften seines zukünftigen Schwiegersohnes und den Zeiten voller Ungewissheiten großen Gefahren ausgesetzt. Deshalb verlangte er von ihm, dass er Haus und Geschäft noch vor der Hochzeit auf seine Tochter überschreibe, ansonsten könne er sein Einverständnis zu dieser Ehe nicht geben. Sepp Kerschbaumer ist dieser Verzicht wohl nicht schwergefallen.7 Denn zum Ersten wusste er den Besitz bei seiner Frau in guten Händen, und zum Zweiten lag ihm als franziskanischem Menschen nicht viel an irdischen Gütern. Nur eine kleine Obstwiese, die er Jahre später kaufte, behielt er für sich. Die war sein buen retiro, wenn die Politik oder sonstige Ereignisse ihn um die Ruhe brachten. Wahrscheinlich hing er deshalb so an diesem Grundstück, weil es ihm harte Arbeit abverlangte, bis er dort anpflanzen konnte. Ursprünglich ein Schilffeld (Strebmoos), musste er den Grund erst entwässern und „aufbessern“, damit er etwas abwarf. Mit Pickel und Schaufel zog er Gräben, füllte die Gräben mit Schotter auf und deckte das Ganze mit einer dicken Schicht Erde zu.8
Sepp Kerschbaumer mit Freunden am Tonalepass, um 1930
Sepp Kerschbaumer mit einem Freund vor dem Petersdom in Rom im Zuge einer Radtour Anfang der 1930er-Jahre
Sepp Kerschbaumer als stolzer Familienvater
Zur Heirat kam es am 29. April 1936. In der jungen Ehe stellte sich bald auch schon der Kindersegen ein. 1937 kam Seppl auf die Welt, 1939 Marialuisa, 1940 Mali, 1942 Helga, 1948 Franz und 1956 Christl. Sechs an der Zahl wurden es innerhalb von zwanzig Jahren.
Die Kriegszeit 1939 bis 1945
1939: Gehen oder bleiben?
Die Zeitläufte brachten es mit sich, dass die junge Familie Kerschbaumer schon bald – wie mehr oder weniger alle Familien in Südtirol – schweren Stürmen ausgesetzt wurde. Bekanntlich wollten Mussolini und Hitler das Südtirol-Problem ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Etwas drastisch, aber durchaus angemessen ausgedrückt, sollte das Land an Etsch und Eisack als Schmiere für die Achse Rom–Berlin dienen. Das Abkommen vom 23. Juni 1939 stellte die Südtiroler vor eine grausame Alternative: Verbleib bei Italien und damit Verlust der Nationalität und möglicherweise Umsiedlung nach Süditalien oder gar nach Afrika oder Auswanderung nach Deutschland und damit Erhalt des Volkstums. „Hinaus oder hinunter“, „Germania o Abissinia“ lauteten die Schlagworte, die damals die Menschen um den Schlaf brachten und die Geister entzweiten. Niemand konnte sich einer Entscheidung entziehen. Denn auch eine Nichtoption galt als Option, nämlich als Option für die Beibehaltung der italienischen Staatsbürgerschaft. Leider finden sich keine Briefe, privaten Aufzeichnungen oder amtlichen Dokumente, die es ermöglichten, Kerschbaumers Drama aus der Optionszeit genauer nachzuzeichnen. Man ist hier gänzlich auf mündliche Auskünfte und Überlieferungen angewiesen. Laut Aussage seines Schwiegersohnes Peter Kerschbaumer9 sei Sepp Kerschbaumer in dieser Zeit ein „recht heftiger Hitlerschreier“ gewesen, er habe unbedingt auswandern wollen. Auch seine Frau weiß zu berichten, dass Sepp Kerschbaumer für das Auswandern Propaganda gemacht und viele Familien unterstützt hat, die ausgewandert sind. „Selbst sind wir aber nicht gegangen, da hab ich ihm nicht mitgetan.“ Ihr sei es auch gelungen, seinen Antrag um vordringliche Auswanderung zu blockieren, worüber er eigentlich nicht unglücklich gewesen sein soll. „Denn ganz wohl ist ihm ja auch nicht gewesen bei der Angelegenheit.“ Kaum war diese Aufregung vorbei, erfasste ihn eine neue Welle. Anfang September 1939 brach der Krieg aus. Sepp Kerschbaumer machte sich Vorwürfe, weil er immer noch daheim war, während andere schon im Feld standen. „Vor lauter Deutschtum im Kopf“, erzählt seine Frau, „hat er gesagt: Ich muss für die Heimat etwas tun. Ich sehe nicht ein, daß die anderen alle einrücken müssen, und wir sitzen bequem daheim. Er wollte ins Feld und hatte sich mit anderen Eppanern schon freiwillig gemeldet.“ Ihr soll es dann aber gelungen sein, diesen voreiligen Schritt rückgängig zu machen und Sepp vor dem Einrücken zu bewahren.
Sepp Kerschbaumer Ende der dreißiger Jahre
Mit der Zeit kühlte die Begeisterung Kerschbaumers für das Deutsche Reich ziemlich ab. Einen ersten nachhaltigen Dämpfer erhielt sein Enthusiasmus im Jänner 1942, als er in Berlin mit Willy Alessandri und Sepp Kaseroler einen landwirtschaftlichen Lehrgang besuchte. Da war Schmalhans Küchenmeister, zu essen gab es wenig, und das wenige war mager.
Das Arbeitsprogramm war aber streng und dicht. Für viele Beobachtungen fand sich weder Zeit noch Gelegenheit.10 Aber eines war nicht zu übersehen: Die Versorgung mit Nahrungsmitteln war nicht mehr die allerbeste im Reich, und Sepp Kerschbaumer war sichtlich froh, wieder zu Hause zu sein, wo an Kartoffeln noch nicht gespart werden musste. Er ist von Berlin recht bedrückt und nachdenklich zurückgekommen, erzählen einige Familienangehörige.
Die große Verweigerung?
Eine neue Wende ins Positive schien die Politik für Südtirol im Sommer 1943 zu nehmen. Italien scherte aus dem Bündnis mit Deutschland aus. Die Wehrmacht besetzte Südtirol und Italien. Wie für die meisten Südtiroler war dieser Tag auch für Sepp Kerschbaumer ein Festtag. Jahrzehnte der Demütigung und Erniedrigung, der gewaltsamen Entnationalisierung schienen wie weggeblasen. Man war allgemein der Auffassung, das nunmehr von den Deutschen besetzte Land werde nie mehr unter italienische Oberhoheit kommen. Kurzum, die Südtiroler fühlten sich wieder als Herren im eigenen Lande. Dass aber nur Beelzebub den Teufel verjagt hatte, das sahen die allerwenigsten.
Es dauerte denn auch nicht lange, dass alles ganz anders kam als erhofft und erwartet. Wohl erhielt man wieder deutsche Schulen, konnte man in den Ämtern wieder Deutsch sprechen, nahm das kulturelle Leben im Lande einen neuen Aufschwung. Aber Südtirol blieb nach wie vor bei Italien. Hitler wollte seinen Bundesgenossen Mussolini nicht vor den Kopf stoßen. Sepp Kerschbaumer gefiel aber noch so manches andere nicht. Da war schon einmal der schnarrende Ton, den nicht wenige Landsleute von den deutschen Behörden und Militärs übernahmen. Dieser Ton war dem empfindsamen Menschen bis in die Seele hinein zuwider. Die plötzliche Machtfülle schien manchem zu Kopf gestiegen zu sein. Am meisten aber litt Kerschbaumer, wenn er zusehen musste, wie Leute von den neuen Behörden mit zweierlei Maß behandelt wurden. Ihn plagte mehr und mehr die Angst, eines Tages in irgendeine Schweinerei hineingezogen zu werden. Ob man schuldig wurde oder nicht, hing damals ja vielfach nicht vom eigenen Willen, sondern vom Zufall ab. Sepp Kerschbaumer war erleichtert, als er mit einer Kompanie des Polizeiregiments Bozen nach Belluno zum Partisaneneinsatz kam. Er war zwar vorher ausgebildet worden, doch ein tüchtiger Soldat dürfte er nicht gewesen sein. Ihm haftete nicht nur bei der landwirtschaftlichen Arbeit eine gewisse Ungeschicklichkeit an, ihm bereitete alles, was mit Technik zu tun hatte, Schwierigkeiten. Daher war er auch zum Sprengen nicht zu gebrauchen. Pepi Fontana fragte ihn einmal: „Sepp, soll ich dir zeigen, wie man das macht?“ „Nein, nein“, wehrte er ab, „das hat keinen Sinn, i derlearn deis decht nit.“ Schwer vorzustellen, wie er mit einem Schießgewehr zurechtkam. Wie er Pepi Fontana erzählte, kam er nie zu einem eigentlichen Partisaneneinsatz. Er musste viel Posten schieben und eingefangene Partisanen bewachen. „Jetzt erst weiß ich, was es heißt, mit erhobenen Armen stundenlang dastehen zu müssen“, meinte er einmal. Was das heißt, hat er nämlich im Juli 1961 in der Carabinieri-Kaserne von Eppan an sich selbst erlebt. Im Übrigen hatte er auch in Belluno erfahren müssen, dass nicht immer Tatbestände, sondern oft Zufälle oder gewisse Verbindungen über Leben oder Tod eines Menschen entschieden. Es kam vor, dass mehrere Partisanen eingeliefert wurden. Plötzlich kam ein Befehl, der und der seien sofort freizulassen. Sie seien irrtümlich verhaftet worden. In Wirklichkeit hatte die Schwester eines dieser Männer mit dem Kommandanten ein Verhältnis.
Im Zusammenhang mit Kerschbaumers Einsatz in Belluno ist ein Ereignis erwähnenswert, das allerdings nicht endgültig rekonstruiert werden konnte. Sepp Kerschbaumer soll dort laut Aussage seines Schwiegersohnes Peter Kerschbaumer zu einer Hinrichtung abkommandiert worden sein. Kerschbaumer hätte aber Gewissensgründe geltend gemacht und die Teilnahme an der Erschießung verweigert. Peter Kerschbaumer hat diese Information von einem gewissen Ernst Deisinger aus Roßdorf bei Darmstadt, der damals Bursche des Kompaniechefs gewesen war. Deisinger war nach dem Krieg mit seiner Familie öfters Gast bei Sepp Kerschbaumer in Frangart, unter anderem auch in den Tagen der Verhaftung. Er ist aber schon im Jahre 1990 gestorben. Es ist daher nicht möglich, diese Aussage zu überprüfen. Kerschbaumer selbst soll in seiner Familie nie über diese Episode gesprochen haben. Er erwähnte sie auch nie in den Gesprächen mit seinen Mithäftlingen im Gefängnis. Dies hat aber nichts zu sagen. Sepp Kerschbaumer war in allen Dingen, die ihn selbst betrafen, ein außergewöhnlich verschlossener Mensch. Es könnte daher durchaus sein, dass er diesen Vorfall in seiner Bescheidenheit verschwiegen hat.
Eines jedenfalls scheint sicher zu sein: Der Charaktermensch Sepp Kerschbaumer, dem später dann als Angeklagtem vor Gericht selbst die Richter und Staatsanwälte Respekt bekundeten, scheint in diesen beiden letzten Kriegsjahren seine endgültige Lebenslinie gefunden zu haben. Aus dem „recht heftigen Hitlerschreier“ von 1939 ist in den Jahren 1943 bis 1945 ein entschiedener Hitlergegner geworden. 1961 sagte er einmal zu Pepi Fontana im Gefängnis: „So wie wir jetzt alles überblicken, müssen wir froh sein, dass Deutschland den Krieg verspielt hat. Nicht auszudenken, wie das Leben heute in Europa wäre, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte.“