Loe raamatut: «Die Armen», lehekülg 2

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Dies war wohl rich­tig; den­noch wag­te sich der Bei­fall viel we­ni­ger ent­schie­den her­aus, als vor­hin, ge­gen Ar­beit­ge­ber und be­sit­zen­de Klas­se. Hier­mit war nicht zu spa­ßen, und was Jau­ner dem Par­tei­be­am­ten wie­der er­zähl­te, konn­te dir schlech­ter be­kom­men als sein Be­richt an den Heß­ling­s­chen Herrn Obe­rin­spek­tor. So viel ließ sich wohl sa­gen, dass die Ver­si­che­run­gen und Für­sor­gen ihre zwei gu­ten Sei­ten hat­ten, eine für uns und eine für die Rei­chen, de­nen sie zu ei­nem bes­se­ren Schlaf ver­hal­fen. Dinkl, als der Un­vor­sich­tigs­te, ging wei­ter und be­haup­te­te, das zwei­te sei die Haupt­sa­che, und der alte Ar­bei­ter, der von dem Pen­si­ons­plun­der le­ben kön­ne, sei noch nicht ge­bo­ren.

»Mein ei­ge­ner Va­ter, wie oft ich ihm ins Ge­wis­sen rede, vor Mit­tag, wenn wir Män­ner noch nicht aus der Fa­brik zu­rück sind, geht er mit sei­ner Ess­schüs­sel bei den Nach­ba­rin­nen um­her.«

Hier­zu war der Alte ge­nö­tigt, weil sei­ne Kin­der ihm das Geld sei­ner Al­ters­ver­sor­gung ab­nah­men und ihm nicht satt da­für zu es­sen ga­ben. Dies wuss­te man; aber wel­cher Vor­wurf traf einen Ka­me­ra­den, der Frau und vier Kin­der hin­durch­brach­te. Bes­ser, es hun­ger­te ein Al­ter.

Her­bes­dör­fer, längst nicht mehr wild, hat­te ein von der Furcht zu­sam­men­ge­zo­ge­nes Ge­sicht und jam­mer­te in rau­en Lau­ten vor sich hin. Er be­klag­te sich über den Kas­sen­arzt, der ihn schon wie­der zur Ar­beit schick­te, ob­wohl er im Knie seit sei­nem Un­fall noch im­mer eine Schwä­che hat­te. Er hat­te die Schwä­che nicht, wenn er drau­ßen um­her­ging; aber kaum in der Fa­brik, hat­te er sie; und die Furcht, hin­ein­zu­fal­len zwi­schen die Mühl­rä­der und zer­mah­len zu wer­den mit dem Holz­stoff, mach­te ihm Schwin­del.

»Das ken­ne ich,« sag­ten sie an den an­de­ren Ti­schen. Denn sie kann­ten es.

»Man hat doch nur sei­ne Glied­ma­ßen. Frau und Kin­der ha­ben nur mei­ne Glied­ma­ßen. So ein Dok­tor tut im­mer, als wach­sen sie nach.«

»Der wächst nicht nach!« schnaub­te dort hin­ten ei­ner, und reck­te in den Schein der Lam­pe sei­ne Hand, der ein Fin­ger fehl­te. Da hob auch Her­bes­dör­fer, rau win­selnd, sei­nen ver­bun­de­nen Fin­ger zum Licht hin­auf; und über zwei Ti­sche, und dann ne­ben­an, und dann an je­dem ka­men Fin­ger ans Licht, dick um­wi­ckelt und weiß in­mit­ten ei­ner Hand, die dun­kel be­fleckt war von den un­ver­gäng­li­chen Spu­ren der Ar­beit. Wie alle die­se ver­bun­de­nen Wun­den durch die Luft ge­schwenkt wur­den, roch man auf ein­mal deut­lich den dün­nen schar­fen Ge­ruch, der un­ter den Aus­düns­tun­gen der Kör­per und dem Ta­baks­qualm, halb­ver­ges­sen im­mer da war, den Ge­ruch des Kar­bols.

Auch Karl Bal­rich sah einen sei­ner Fin­ger in Lei­nen ge­wi­ckelt, er prüf­te ihn, die Brau­en ge­fal­tet, un­ter dem Tisch. Je­der in die­sem Au­gen­blick hat­te ein Ge­sicht, das den al­ler­tiefs­ten Ernst des Le­bens trug. Da, in ei­ner Stil­le, sag­te Bal­rich:

»Das hat sei­ne Zeit, und dann kommt die Ge­rech­tig­keit.«

»So ist es!« sag­ten sie, und ein Ge­schwirr ent­stand, aus lei­sen Zu­stim­mun­gen, den hal­b­en Lau­ten der Gläu­big­keit. Auf dem Wege sind wir, zur Ge­rech­tig­keit, – und sä­hest du täg­lich mehr, dass er lang ist, ge­zählt sind die Tage der Rei­chen. Wir wer­den, mit dem was jetzt sie uns kos­ten, selbst reich sein, alle; wer­den in ge­lüf­te­ten Sä­len ge­mein­sam un­ser gu­tes Es­sen ha­ben, und Ma­schi­nen, die uns ge­hö­ren, ar­bei­ten für uns. Mit je­nen aber wird es aus sein. Wäre dem an­ders, warum säuft man nicht, oder bricht ein.

Das tun wir nicht, weil wir ver­nünf­ti­ger sind als sie. Wir kön­nen frei auf­at­men, so, ganz frei, mit­ten in un­se­rer Stick­luft, denn bei uns sind Ver­nunft und Zu­kunft. Ihr dort seid er­blin­det durch den Be­sitz, ihr wisst nicht ein­mal mehr, was ihr in Hän­den habt. Wer un­ter euch schätzt das Wis­sen, den Geist, gleich uns? Ihr habt ihn ver­ges­sen, in eu­rem Fett. Wir, wir be­grei­fen, dass er es ist, der die Welt er­obert, und dass er auch wie­der ihr Ziel ist. Jede Biblio­thek, die wir zu­sam­men­brin­gen oder ab­rin­gen eu­rem Geiz, ist ein Weg­mal für un­se­re Her­auf­kunft und eu­ren Un­ter­gang.

Dinkl, mit ei­nem Luft­sprung von sei­nem Sitz auf, rief aus:

»Nichts freut mich, wie die hun­dert­tau­send Mark, die ihn die Biblio­thek kos­tet!«

Und alle frohlock­ten über die­se Nie­der­la­ge des Ge­ne­ral­di­rek­tors. Kämp­fe frei­lich kos­te­te noch die Ver­wal­tung der Biblio­thek, denn sat­zungs­ge­mäß stimm­ten auch Be­am­te beim An­kauf der Bü­cher, und ver­hin­der­ten, so viel sie konn­ten, die Auf­nah­me der Par­tei­sch­rif­ten. Her­bes­dör­fer schmun­zel­te, tief be­frie­digt. Seit ges­tern hat­te er, si­cher ver­schlos­sen in sei­nem Zim­mer, »das Ka­pi­tal«.

Da be­trach­te­te Bal­rich ihn, sein ar­mes gro­bes Ge­sicht, das ver­rie­gelt aus­sah und hin­ter sei­ner großen Bril­le im­mer in An­stren­gung und Angst schi­en, ob es nicht end­lich sich öff­nen, klar­se­hen und be­grei­fen wer­de, sein tap­fe­res, ver­geb­lich rin­gen­des Ge­sicht.

»So steht es um uns,« fühl­te Bal­rich. »Wir sind zu schwach, ob­wohl wir die Stär­ke­ren schei­nen. Die Bü­cher, mit de­nen Aus­beu­tung und Elend zu be­sie­gen wä­ren, lie­gen in un­se­rer Lade, wir aber sit­zen hier, ver­braucht vom Knecht­stum der gan­zen Wo­che und ohne Hand­ha­be, um un­se­re Waf­fen nut­zen zu ler­nen. Kommt den­noch ei­ner von uns da­hin, die wis­sen­schaft­li­chen Wer­ke zu er­fas­sen, sei­nen Kin­dern kann er es dar­um nicht leich­ter ma­chen. Wir blei­ben, wo wir sind. Trach­ten wir das Glück zu ge­nie­ßen, das Ar­mut uns er­laubt!«

Hier er­in­ner­te er sich, dass ein Mäd­chen auf ihn war­te­te – sein Mäd­chen, wenn er woll­te. Aber woll­te er, und muss­te es die­se sein? Er stieg aus der Bank ohne Eile, trat noch an den Tisch drü­ben, hät­te sich fast dar­an nie­der­ge­las­sen, – und als er dann hin­aus­ge­lang­te, stand dort hin­ten un­ter der Fried­hof­mau­er schon das Mäd­chen. Sie stand in ih­rem brau­nen Tuch ein we­nig ge­beugt, als war­te­te sie seit ei­ni­ger Zeit, und sah ihn erst, als er schon nahe war.

»Thil­de!« rief er auf­mun­ternd, wor­auf sie ihm ein Ge­sicht zeig­te, das voll Gram war. Er kam aber so mu­tig her­bei, breit, spann­kräf­tig und fest, mit dem dun­keln Schopf un­ter der Müt­ze her­vor, so wohl­ge­ra­ten kam er, dass sie ihm den­noch ent­ge­gen­lä­chel­te.

»Warst du schon drin­nen?« frag­te er ge­dämpft und wies nach der Fried­hof­pfor­te.

Sie nick­te. »Mein Klei­nes hat al­les was es braucht. Wenn auch wir das hät­ten.«

»Das sollst du nicht sa­gen,« ver­lang­te er; und zar­ter: »Ge­hen wir noch ein­mal hin­ein?«

Da sie den Kopf schüt­tel­te, be­stand er nicht dar­auf. Es mach­te nur trau­rig, und hat­ten sie nicht bei­de mehr vor als hin­ter sich? »Komm fort!« sag­te er be­stimmt, nahm ih­ren Arm und ging schnel­ler. Im Schat­ten der Mau­er, von der Bü­sche hin­gen, dräng­te sie sich an ihn mit den Hüf­ten. Sie wa­ren breit, die Brust voll, und dazu das ma­ge­re Ge­sicht, aus dem sie ban­ge zu ihm auf­sah.

Am Ende der Mau­er pfiff so­gleich der Wind. Bal­rich wi­ckel­te Thil­de fes­ter ein. Erst März; kahl däm­mern­des Feld; und sie stapf­ten durch Re­gen­la­chen. Rechts zwi­schen dür­ren Bäum­chen die Vil­len, ge­nannt Ar­bei­ter­vil­len; aber fast nur noch Be­am­te wohn­ten dar­in. Als Ar­bei­ter muss­te man sehr wohl ge­lit­ten sein. »Der Jau­ner wird her­ein­kom­men, wir nicht.«

Und we­gen der Pfüt­zen bald ge­trennt, bald wie­der bei­sam­men, be­gan­nen sie zu rech­nen. Bal­rich hat­te sei­ne zwei jun­gen Brü­der, der eine noch schul­pflich­tig, der an­de­re un­be­zahlt. Das klei­ne Mäd­chen Thil­des war kei­ne Last mehr, sag­te Bal­rich. Nur noch ihre Mut­ter, zu schwach um zu ar­bei­ten, hing an ihr. »Wäre das nicht,« sag­te er, im Drang sie zu schüt­zen, »du soll­test gar nicht mehr ar­bei­ten, du Ärms­te, und ich für zwei.«

Hier­auf sah sie ihn an, bit­ter und miss­trau­isch, und mit ei­ner hö­he­ren, schär­fe­ren Stim­me sag­te sie, dass sie nichts brau­che und ihre Mut­ter sei ihr so we­nig zur Last, wie frü­her das Kind. »Du möch­test wohl, auch sie läge schon drau­ßen!«

Da merk­te Bal­rich, dass sie ein­an­der nicht ver­stan­den, – und woll­ten ein­an­der doch lie­ben? Er hät­te dar­auf be­ste­hen sol­len, dass sie zu­sam­men an das Grab gin­gen. Nun arg­wöhn­te sie, dass er ihr das Kind ver­den­ke, viel­leicht im­mer es ihr ver­den­ken wer­de. »Das nicht,« fühl­te er. »Das wirk­lich nicht. Aber sie hat ihr Le­ben ge­habt, be­vor ich da war. Sie hat einen an­de­ren ge­kannt, und ich glau­be zwei. Nun denkt sie von mir bis­wei­len nicht gut.«

Sie war zwan­zig, so alt wie er; und auch er hat­te schon zwei Mäd­chen ge­habt. Ihm aber war nichts zu­rück­ge­blie­ben, er hät­te lie­ben kön­nen wie das ers­te Mal. Nur, warum denn die­se, die manch­mal so fremd schi­en, als sei sie aus ei­nem an­de­ren Land. Durch sie hin­durch er­blick­te er plötz­lich sei­ne Schwes­ter Leni, un­be­rührt, un­be­schwert und ver­trau­end auf das Glück. Das war sein Blut, sein Land, war die gute Zu­kunft. Die­se hier, wie müde!

Fühl­te sie denn, was er dach­te? An­kla­gend er­hob sie noch­mals das Ge­sicht ge­gen ihn und sag­te in ei­nem Ton, der weh tun woll­te: »Gib acht auf dei­ne Schwes­ter Leni! Sie ist vor dem Kind nicht si­che­rer als wir an­de­ren.«

Bal­rich ließ sich aber nicht weh­tun. Er nahm fest ih­ren Arm in den sei­nen und sag­te sanft:

»Dein Kind war ein gu­tes und lie­bes Kind.«

Er er­laub­te ihr nicht, sich los­zu­ma­chen, und am Ende gab sie nach, sank lei­se ge­gen ihn, und aus ih­ren ge­schlos­se­nen Au­gen ran­nen Trä­nen. Lang­sam, in der Däm­me­rung und im Wind, er­reich­ten sie den »Ar­bei­ter­wald«, der Bän­ke hat­te. Um­schlun­gen setz­ten sie sich auf eine feucht­kal­te Bank, un­ter großen schwar­zen Äs­ten ohne Blät­ter. Vor ih­nen die Fa­brik, und hin­ter den drei Rei­hen der Fa­brik­ge­bäu­de ging die Son­ne un­ter, von Wol­ken­strei­fen über­zo­gen wie von Rauch. Sie starr­ten in die Röte und dach­ten bei­de, dass es gut wäre, warm zu ha­ben. In ih­rem Rücken, hin­ter ho­hen Plan­ken, lag der »Herr­schafts­wald«, be­gann hier wild, und im­mer ge­pfleg­ter, blu­mi­ger und ge­schütz­ter ge­gen den Wind und ge­gen die bö­sen, sehn­süch­ti­gen Bli­cke, um­gab er end­lich als sü­ßer Gar­ten die Vil­la Höhe, das ver­bo­te­ne Pa­ra­dies.

»Dort friert es kei­nen,« sag­te das Mäd­chen. Der Ar­bei­ter sag­te:

»Dort kön­nen sie er­näh­ren, wen sie lie­ben.«

Da die Son­ne fort war, der Wind käl­ter blies und es an­fing zu reg­nen, stan­den sie auf. Thil­de woll­te um­keh­ren, Bal­rich aber streb­te der Fa­brik zu. Er wis­se eine Un­ter­kunft beim Re­gen. Auch Thil­de sah sie wohl, es wa­ren die Wag­g­ons, die von der Fa­brik zum Bahn­hof fuh­ren. Dort hiel­ten sie, ei­ner mit of­fe­ner Tür. Das Mäd­chen sträub­te sich, hin­ein­zu­stei­gen.

»Weil die Lum­pen dar­in so schlecht rie­chen?« frag­te er. Sie ant­wor­te­te:

»Was soll mir das ma­chen. Ich ste­he mein gan­zes Le­ben in ei­nem Lum­pen­saal.«

Und sie ließ sich hin­ein­hel­fen.

»Es ist doch tro­cken hier auf den Lum­pen,« sag­te er.

»Und so­gar warm,« flüs­ter­te sie und über­ließ sich sei­nen be­gehr­li­chen Hän­den.

Da sie an sei­ne Brust ge­drängt im Dun­keln nach sei­nen Au­gen such­te, schloss er sie, al­lein mit sei­nen Ge­dan­ken. Dies war das Bes­te was wir hat­ten – und mach­te doch al­les nur schlim­mer. Die Lie­be war ein­ge­setzt, da­mit es mehr Pro­le­ta­ri­er gebe. »Für Heß­ling ar­bei­ten wir, selbst hier, – und frei­lich auch für un­se­re Füh­rer. Heß­ling und un­se­re Füh­rer sind dar­in ei­nig, dass wir nicht zahl­reich ge­nug sein kön­nen. Denn bei­de brau­chen sie Men­schen­ma­te­ri­al.«

Das Mäd­chen sag­te:

»Dies ha­ben wir doch. Dies nimmt uns kei­ner. Küß’ mich, du Lie­ber!«

Aber sie fuh­ren aus­ein­an­der, ein Schlag dröhn­te an der Wa­gen­wand, und in die Tür trat ein großer Um­riss. Der Auf­se­her! Er schalt auf das Ge­sin­del, das in den schö­nen Lum­pen sei­ne Schmut­ze­rei­en trei­be. Als Bal­rich her­vor­kam, hielt der Be­am­te ihn fest und such­te ihm mit sei­ner Ta­schen­lam­pe in das Ge­sicht zu leuch­ten. Bal­rich stieß ihn aber zu­rück, zog auch Thil­de her­aus, und schon lie­fen sie. Ver­folgt von Schimpfre­den lie­fen sie durch den Re­gen, je­der für sich, und wuss­ten schon nicht mehr im Dun­keln, wo ist der an­de­re. Nahe beim Fried­hof erst fan­den sie sich wie­der. Da sah er un­ter der La­ter­ne, wie durch­nässt sie war, denn beim Flie­hen hat­te sie ihr Tuch in den Hän­den des Auf­se­hers ge­las­sen. Er zog so­gleich sei­ne Ja­cke aus und häng­te sie um sie und sich. Ganz auf­ein­an­der ge­neigt gin­gen sie nun, ein Kleid, und man konn­te den­ken, ein Herz. Sie aber zit­ter­te vor Käl­te und er vor Zorn.

Die Kan­ti­ne war nur noch schwach er­hellt, kein Laut drang her­aus, vor der Tür nur er­kann­ten sie Si­mon Jau­ner – und bei ihm, an der Mau­er, zwei Schat­ten, die aus­sa­hen wie Her­ren.

War dies nicht der Herr Obe­rin­spek­tor selbst – und je­ner gar, o Gott! Ge­duckt schli­chen sie vor­über, ein Kleid, ein Herz. Hin­ter ih­nen sag­te die Stim­me ei­nes Herrn:

»So gut ha­ben es nur sol­che Leu­te.«

II. Der Arbeiter und das Bürschlein

Zweit­nächs­ten Sonn­tag ka­men die Fa­mi­li­en Dinkl und Bal­rich mit dem Neu­ge­bo­re­nen Mal­lis über das Feld zu­rück von Beu­ten­dorf, wo es ge­tauft war. Alle gin­gen ge­ra­des­wegs in die Kan­ti­ne und tran­ken, der Säug­ling an der Brust. Sie sa­ßen an ei­nem lan­gen Tisch und noch al­lein. Als an­de­re Gäs­te ein­tra­ten, hat­ten sie schon zu Mit­tag ge­ges­sen und wa­ren auf­ge­räumt. Der Groß­on­kel Gel­lert, ver­trock­net un­ter sei­nem schwar­zen Geh­rock und mit dem Grin­sen im Bocks­bart, voll­führ­te einen Tanz, ver­bun­den mit Hän­de­klat­schen und Ge­stampf, um sei­ne Nich­te Leni her. Er be­haup­te­te, drau­ßen ir­gend­wo Der­ar­ti­ges ge­se­hen zu ha­ben.

Dann fiel er frei­lich auf die Bank und blies müh­sam aus sei­nen Hän­ge­ba­cken. In­des rings­um Lärm war, be­ob­ach­te­te Karl Bal­rich ge­spannt das Wa­ckeln des Al­ten und sei­nen Blick, der sich grei­sen­haft ver­glas­te. Plötz­lich, das Auge auf ihm, raun­te er ihm zu:

»On­kel, was war es da­mals, mit dir und Heß­ling?«

Gel­lert starr­te ver­ständ­nis­los. »Da­mals?« frag­te er. Bal­rich nick­te fest.

»Mit dir und – du weißt schon.«

Denn er hat­te sich ent­schlos­sen, ins rei­ne zu kom­men mit dem Ge­schwätz von neu­lich. »Was fehlt viel, und ich wäre, was er ist,« hat­te der alte Tu­nicht­gut ge­sagt, von sich und dem Ge­ne­ral­di­rek­tor. Ge­schwätz, dach­te Bal­rich, so oft es ihm ein­fiel, und doch fiel es ihm ein. Jetzt war­te­te er, bis der da kam, – und schon kam er. Er be­griff, fuhr auf und frag­te zit­ternd:

»Hab’ ich denn ge­schwatzt?«

»Du hast schon zu viel ge­sagt,« er­klär­te Bal­rich. »Jetzt sag’ auch den Rest!«

»Weiß schon je­mand?«

»Von mir kein Mensch. Bist du aber nicht of­fen mit mir –«

Der Alte wink­te be­schwö­rend. »Lie­ber du als die an­de­ren. Du bist der tüch­tigs­te. Dein On­kel lei­der war nicht tüch­tig.«

Das sei ihm be­kannt, sag­te Bal­rich barsch. Er hat­te kei­nen Sinn für Fa­mi­li­en­mit­glie­der, die mit sieb­zig Jah­ren ih­ren Nef­fen wohl et­was Er­wor­be­nes hät­ten mit­brin­gen kön­nen, und statt des­sen fie­len sie ih­nen noch zur Last. Auch der Tanz vor­hin um Leni her hat­te ihm miss­fal­len.

Der Alte blin­zel­te er­regt. Aus Furcht vor dem Nef­fen ließ er al­les fah­ren.

»Konn­te man denn wis­sen, da­mals?« Man hat einen al­ten Freund, Kriegs­ka­me­ra­den, Fecht­bru­der. Mein Stroh­sack, dein Stroh­sack, mei­ne Laus, dei­ne Laus; und auch die Spar­pfen­ni­ge im­mer auf dem­sel­ben Brett. Manch­mal wa­ren es Ta­ler. Und als der eine im Städt­chen blei­ben will, sein Hand­werk trei­ben und Meis­ter wer­den, lässt der an­de­re ihm, bis er wie­der­kommt, sei­ne Ta­ler.

»Das warst du?«

»Gott sei es ge­klagt.«

»Und der die Ta­ler nahm, war der alte Heß­ling.«

»Und der sie auch be­hielt. Ver­stehst du wohl?« wis­per­te Gel­lert. Bal­rich hob die Schul­tern.

»Wür­dest du sie sonst noch ha­ben?«

Da griff der Alte mit Lei­den­schaft um die Tisch­kan­te und rief in der Fis­tel:

»Nicht die Ta­ler, mei­nen An­teil an Gau­sen­feld wür­de ich ha­ben!«

Kaum aus­ge­spro­chen, ver­folg­te er das Wort auf den Ge­sich­tern der Nächs­ten. Sie hat­ten in ih­rem Lärm es nicht ge­hört. Bal­rich sei­ner­seits wen­de­te sich un­wirsch weg. Das war ein­mal der Mühe wert, um solch ein Ge­fa­sel noch nach­zu­fra­gen. »Mit dei­nen vier Ta­lern hat er also Gau­sen­feld ge­grün­det?«

Gel­lert zisch­te. »Es wa­ren aber vier­hun­dert we­ni­ger vier. Ja doch! Und al­les war von ei­ner Meis­te­rin, bei der ich ge­ar­bei­tet hat­te – ge­ar­bei­tet, du weißt schon wie. Mit dem Pin­sel, wo­mit ich an­strich, wür­de ich bei­lei­be das nicht ver­dient ha­ben.«

»Unehr­li­ches Geld,« sag­te Bal­rich. Der Alte me­cker­te.

»Sie hat es her­ge­ben müs­sen, sonst hol­te sie der Teu­fel.«

»Und der Heß­ling wuss­te da­von.«

»Vi­el­leicht nicht?«

»Auch ein Lump.«

Gel­lert ward ernst und ver­wei­send.

»Er hat­te es nicht selbst ge­tan. Er war so­gar ein stren­ger Mann. Auch er nann­te mich Lump.«

»We­nigs­tens gab er dir einen Schuld­schein.«

»Das muss­te er nicht.«

Bal­rich schob den Kopf vor und sag­te dem an­de­ren nahe in das Ge­sicht: »Jetzt hab ich ge­nug von dei­nen Räu­ber­ge­schich­ten.«

Hier fing der Alte zu wei­nen an. »Ich war es doch,« schluchz­te er, »und du willst sa­gen, ich war es nicht.«

Er stieß Dinkl an und auch Her­bes­dör­fer, bis sie ihm zu­hör­ten.

»Ein Schuld­schein, zwi­schen al­ten Kriegs­ka­me­ra­den und Fecht­brü­dern? Habt ihr das er­lebt?«

Da sie nicht be­grif­fen, er­zähl­te er noch­mals das Gan­ze, be­geg­ne­te auch ih­ren Ein­wän­den und schwor, noch im­mer sei sein Geld ihm ge­schul­det. Wa­rum er es nicht zu­rück­ge­for­dert habe? Als er wie­der­kam nach meh­re­ren Jah­ren, war es nicht mehr da. Viel­mehr, es steck­te im Ge­schäft.

»Es steck­te im Ge­schäft? Kannst du das be­wei­sen?«

»Ob ich es kann! Der alte Heß­ling hat mich doch bei der Hand ge­nom­men in sei­nem Kon­tor in Gau­sen­feld und hat mir al­les vor­ge­rech­net.«

Bal­rich sag­te, gra­ben­den Blickes:

»Gau­sen­feld hat dem al­ten Heß­ling nie ge­hört. Sei­ne Fa­brik stand in der Mei­se­stra­ße.«

Gel­lert ward wild.

»Mei­se­stra­ße oder Gau­sen­feld, ich sehe ihn noch an sei­nem Pult beim Fens­ter, er kratz­te sich hin­ter dem Ohr und rech­ne­te. Ich soll­te nur war­ten, bald wür­de ich an­fan­gen, mit zu ver­die­nen.«

»Du siehst ihn. Hast du sonst kei­nen Be­weis?«

»Dass er auf sei­nem Pult einen Tin­ten­wi­scher hat­te, und der war ein Moh­ren­kopf.«

Dinkl frag­te ernst­haft:

»Wie­lan­ge ist das nun her?«

»Auf den Schlag vier­zig Jah­re!« schrie Gel­lert.

»Das ist Zeit ge­nug,« sag­te Dinkl. »In­zwi­schen hat der Moh­ren­kopf viel­leicht das Re­den ge­lernt und kann für dich zeu­gen.«

Da er selbst sehr lach­te, wand­ten die an­de­ren Gäs­te sich her und woll­ten hö­ren. Dinkl schick­te sich auch an, ih­nen sei­nen Witz zu er­läu­tern; Bal­rich aber ver­bot es ihm lei­se und kurz.

Der alte Gel­lert sank wie­der in sich zu­sam­men, und beim Weg­ge­hen hat­te er nur noch die Sor­ge, dass nie­mand wei­ter von der al­ten Ge­schich­te er­fah­re, be­son­ders die Wei­ber nicht. Dinkl mein­te zwar, es sei zu ko­misch, man dür­fe es nicht für sich be­hal­ten. »On­kel Gel­lert Teil­ha­ber von Heß­ling auf Gau­sen­feld! Ge­ne­ral­di­rek­tor Gel­lert!« kreisch­te er und tanz­te auf ei­nem Bein, – in­des der Alte mit blut­un­ter­lau­fe­nen Au­gen da­bei­stand wie ein bit­ten­der Hund. Aber Bal­rich ver­lang­te drin­gend, dass kein Wort laut wer­de. Ob Dinkl einen al­ten Ar­bei­ter, der sich in der Fa­brik mit An­strei­chen ein Stück Brot ver­die­ne, ins Elend brin­gen wol­le. Dinkl er­klär­te so­fort, wenn On­kel Gel­lert sei­ne Ar­beit ver­lie­re, wer­fe er selbst die sei­ne hin, und strei­ken soll­ten dann alle!

Den­noch hat­te Dinkl jetzt im­mer, wenn er den Al­ten sah, einen heim­li­chen Rip­pen­stoß für ihn. »Wann las­sen wir uns denn un­se­re Di­vi­den­de aus­zah­len?« frag­te er, und der Alte sah sich nach al­len Sei­ten um wie ein Dieb. Ei­nes Ta­ges aber, in ei­nem Win­kel des großen Ho­fes in Gau­sen­feld, als er vor dem Schicht­ma­chen sein Gerät ord­ne­te, stieß auch Bal­rich ihn so an und raun­te:

»Du hast wohl noch Zeit bis zur Abrech­nung?«

Da ent­setz­te sich der Alte, und wie ge­ra­de ein Schub Ar­bei­ter aus dem Tor kam, glitt er hin­ein und drück­te sich. In die­sem Au­gen­blick ward es Bal­rich zum ers­ten Mal ge­wiss, Gel­lert rede wahr, das mit dem Geld sei wahr.

Er hät­te es nicht ge­glaubt, – ob­wohl er jetzt jede Nacht dar­über nach­dach­te. Noch nicht in der ers­ten; die Zwei­fel nä­her­ten sich lang­sam, nah­men im­mer mehr Schlaf und wur­den schwe­rer, eben von der Schlaf­lo­sig­keit. Da er nun ge­wiss war, schlich er, an­statt zu sei­nem Mäd­chen, dem al­ten Gel­lert nach, der ihm aus­wich. Ei­nes Abends nur traf er ihn bei Dinkls, ein rei­ner Zu­fall. Der Alte, leicht an­ge­trun­ken, schi­en we­ni­ger ängst­lich. Da trat Be­such ein, ein Herr in mitt­le­ren Jah­ren, recht dick schon, wei­ches Ge­sicht ohne Bart, wei­cher Hut, der Gang et­was ein­wärts, – und hast du nicht ge­se­hen war Gel­lert fort. Es ging so schnell, im Schat­ten die Wand hin und ab, dass der Herr sich nicht ein­mal um­sah.

»Ich bin der Rechts­an­walt Buck,« sag­te er. »Gu­ten Abend, ich brin­ge Ih­nen, was sonst mei­ne Frau Ih­nen bringt. Sie ist nicht wohl.« Und mit zar­ter Hand leg­te er ne­ben Mal­li, die das Kind still­te, einen ver­schlos­se­nen Um­schlag.

Dinkl er­wies sich ge­wandt, räum­te die Kin­der fort und mach­te dem Herrn Rechts­an­walt so viel Platz, als ge­nüg­te sei­nem Um­fang das gan­ze Zim­mer nicht. Buck ließ sich wohl­wol­lend auf den ge­bo­te­nen Stuhl, hat­te einen ge­rühr­ten Blick für Mal­li mit dem Säug­ling, einen be­wun­dern­den für Leni, die die Brust her­aus­streck­te, einen er­staun­ten über die Kin­der­schar hin, dann seufz­te er und frag­te mild und et­was fett:

»Woh­nen Sie hier gut?«

Nie­mand ant­wor­te­te. Selbst Dinkl hat­te die Fas­sung ver­lo­ren. Der Schwa­ger des Herrn Ge­ne­ral­di­rek­tors frag­te: »Woh­nen Sie hier gut?« – an­statt nur hin­zu­wer­fen, dass sie glän­zend wohn­ten! In der Stil­le traf Buck auf die ge­fal­te­ten Brau­en Bal­richs. Sei­ne Au­gen prall­ten zu­erst ab, dann such­ten sie umso ein­dring­li­cher die des Ar­bei­ters, – des­sen Ge­sicht sich ein we­nig ent­spann­te un­ter dem brau­nen, weich glän­zen­den Blick. Buck sag­te sanft:

»Lie­ber möch­ten Sie na­tür­lich auf Vil­la Höhe woh­nen.«

Und als sei dies noch nicht ge­nug des Un­er­hör­ten, hob er sei­ne schwe­ren Schul­tern und sag­te er­ge­ben:

»Be­greif­lich, aber was kann man ma­chen.«

Es klang, als be­wohn­te er selbst, mit sei­ner Frau und sei­nem Sohn, nicht einen gan­zen Flü­gel von Vil­la Höhe, son­dern al­len­falls ein Kel­ler­loch.

Dann stand er auf, gab al­len die Hand, ohne ir­gend­ei­nen da­bei an­zu­se­hen, und ent­schwand ih­nen, lang­sam und ein­wärts. Die Mei­nung Mal­lis und Dinkls war: »Ein ar­mer Herr!« Leni blies nur ge­ring­schät­zig durch die Nase. Bal­rich schwieg, und er blieb nicht mehr lan­ge.

Zwi­schen dem On­kel Gel­lert und die­sem Buck gab es einen Zu­sam­men­hang, – und was soll­te er be­tref­fen, wenn nicht die alte Geld­ge­schich­te. Bal­rich zwei­fel­te nicht, er ließ sich in der Kan­ti­ne ein Fläsch­chen mit Schnaps fül­len und ging da­mit durch die rück­wär­ti­ge Gar­ten­pfor­te der Vil­la Klin­ko­rum, zu dem An­strei­cher. Der Schnaps frei­lich er­wies sich als zweck­los, denn Gel­lert saß schon vor ei­ner Fla­sche und war nun so­weit, dass er sich ganz al­lein et­was vor­sang. Beim Er­schei­nen Bal­richs sang er:

»So dumm ist der alte Gel­lert noch nicht. Das hast du ge­dreht!«

Was er ge­dreht habe, frag­te Bal­rich. Das Zu­sam­men­tref­fen mit Buck sei kein Zu­fall ge­we­sen, be­haup­te­te Gel­lert. Ihn aber gehe der Buck nichts an. »Wie soll ich ihn ken­nen. Als ich ein­mal bei sei­nem Va­ter war, trug er noch Röck­chen.«

»Aha. Bei sei­nem Va­ter.«

Gel­lert, stark er­schro­cken, bot Schnaps an.

»Sein Va­ter ist doch tot,« sag­te er, den Blick auf dem Glas. »Was willst du von ihm. Da­mals frei­lich woll­te je­der et­was von ihm. Er war der mäch­tigs­te Mann in der Stadt, noch zu mei­ner Zeit und der Zeit des al­ten Heß­ling. Der jun­ge Heß­ling dann –«

Er strich sich mit der ge­streck­ten Hand über die Keh­le.

»– ist mit ihm fer­tig ge­wor­den. Hat ihm sein Geld ge­nom­men, sei­ne Ak­ti­en, sei­ne Wür­den, und stellt nun mehr vor als je der alte Buck.«

»Der jun­ge Buck aber – ist ein ar­mer Herr,« sag­te Bal­rich, fins­ter grü­belnd. Gel­lert ki­cher­te.

»Hat sich zu­erst ab­schlach­ten, dann hei­ra­ten las­sen. Nicht das ge­sun­des­te Schwein hält das aus.«

Bal­rich rück­te nä­her.

»On­kel Gel­lert, du musst jetzt los­le­gen.«

Da der Alte sich duck­te, fass­te er ihn beim Arm. »Das hilft dir nicht mehr. Ich weiß schon zu viel. Und dann bin ich dein Groß­nef­fe. Wer wird wol­len, dass du reich wirst, On­kel Gel­lert? Der, der dich be­er­ben soll – wie?«

Der Alte zwin­ker­te von un­ten.

»Glau­be doch nur nicht, dass da et­was zu ma­chen ist. Hast du eine Ah­nung, was für eine Laus du bist ge­gen Heß­ling?«

»Sage mir, was du mit dem al­ten Buck ge­habt hast. Vi­el­leicht wächst die Laus.«

Sei­ne Faust rüt­tel­te an den Al­ten, bis er sich ent­schloss. Ja, bei dem al­ten Herrn Buck war er da­mals ge­we­sen, in dem al­ten Haus in der Fleisch­hau­er­gru­be, mit den Stu­fen, die ab­ge­wetzt wa­ren von den Fü­ßen der gan­zen Stadt. Der Ver­trau­ens­mann der gan­zen Stadt soll­te ihm zu sei­nem Geld hel­fen. »Das Sei­ne hat er ge­tan. Er hat sich den Va­ter Heß­ling kom­men las­sen, und Heß­ling hat ihm auch ge­schrie­ben.«

»Auch ge­schrie­ben!« rief Bal­rich un­ter­drückt.

»Hat ihm schrift­lich ge­ge­ben, dass in sei­ner Werk­stät­te mein Geld stak und dass ich mit­ver­die­nen soll­te.«

»Wo ist der Brief?«

»Die Ab­schrift vom Herrn Buck habe ich,« – und Gel­lert ent­nahm sie der Kom­mo­de. »Er hat sie mir nach­ge­schickt auf die Wan­der­schaft und hat mich ver­trös­tet. Mein al­ter Kriegs­ka­me­rad Heß­ling sei schwer be­drängt, und sonst noch al­ler­lei.«

Bal­rich las schon, gie­rig ver­senkt. Zu­rück­keh­rend seufz­te er.

»Das ist eine Ab­schrift, die muss kei­ner uns glau­ben. Wo ist der Brief selbst?«

Der Alte grins­te.

»Der Brief mei­nes al­ten Kriegs­ka­me­ra­den? Ge­wiss in den Pa­pie­ren des Herrn Buck. Das gan­ze Haus war voll von Pa­pie­ren.«

»Und die Pa­pie­re?«

Der Alte kam grin­send nä­her.

»Heim­lich habe ich um­her­ge­hört.«

Plötz­lich zerr­te er an sei­nen Knöp­fen, riss sich die Klei­der auf bis zur nack­ten Brust. Sein Ge­sicht zer­teil­te sich in vio­let­te Fet­zen, und auf heul­te er:

»Aus! Der Jun­ge hat sie ver­brannt.«

Bal­rich rühr­te sich nicht. Gel­lert be­gann all­mäh­lich, sich wie­der zu­zu­knöp­fen. »Noch ein Gläs­chen,« sag­te er.

Bal­rich trank aus.

»Dann kann ich nach Haus ge­hen.«

Un­ter der Tür fiel er ge­gen den Pfos­ten, kam aber gleich wie­der auf.

Er ging nicht heim, son­dern die Stra­ße nach Vil­la Höhe. Die Lin­den duf­te­ten, ein war­mer Wind schlug ihm ent­ge­gen. Som­mer war ge­wor­den aus dem dür­ren Früh­ling, in dem er an­ge­fan­gen hat­te zu le­ben, – zu hof­fen, zu wol­len, zu le­ben. Soll­te dies aus sein jetzt, nie hät­te es dann an­fan­gen dür­fen. Lie­ber tot, als al­les wie­der sein las­sen wie sonst.

»So wird es nicht mehr!« rief er in die Nacht. Vor­ge­beugt ge­gen den Wind, mach­te er Fäus­te und zer­stampf­te die Lin­den­blü­ten. Jetzt weißt du! Auf­ge­deckt war jetzt die Gru­be. Ge­stoh­le­nes Geld, und Geld noch dazu, das ein al­ter Elends­ge­nos­se auf schmut­zi­ge Art er­wor­ben hat­te, dies war die Grund­la­ge des Heß­ling­s­chen Reich­tums. So sah die Grund­la­ge ei­nes großen Ver­mö­gens aus, Ge­schlechts­schan­de und Dieb­stahl. Dies ist das wah­re Ge­sicht de­rer, die ihr ent­eig­nen wer­det, Pro­le­ta­ri­er!

»Ent­eig­nen! Set­zet mich und die Mei­nen, ehr­li­che Ar­bei­ter, an die Stel­le sol­cher Ver­bre­cher! Wäre in der Welt nur ein Fun­ken Ge­rech­tig­keit, hier lie­fen alle zu­sam­men, zeug­ten und hül­fen. Statt des­sen wür­den alle nur la­chen über den ar­men Ar­bei­ter, und schrie er zu laut sein ver­lo­ren­ge­gan­ge­nes Recht, ihn tot­schla­gen für toll. Lie­ber gleich ster­ben! So ist es be­stellt. Lie­ber gleich ster­ben!«

Er nahm sein Hals­tuch ab und such­te in den Bäu­men nach ei­nem pas­sen­den Ast.

Als er aber schon in ei­ner Kro­ne saß, ver­nahm er Stim­men, und von der Vil­la her­ab ka­men zwei Ge­stal­ten, Her­ren, schi­en es. Wer soll­te es sein? Nun, gut, Heß­ling und sein Schwa­ger Buck soll­ten die ers­ten sein, die ihn hän­gen sa­hen … Er fand aber, dies wäre den­noch eine über­trie­be­ne Ge­nug­tu­ung für die glück­li­chen Ver­bre­cher. Ihr Ein­tref­fen war viel­leicht ein Fin­ger­zeig ganz an­de­ren Sin­nes.

So ließ er sie vor­bei, stieg hin­un­ter und folg­te ih­nen. Die Nacht war schwarz, und er schlich. Den­noch hör­ten sie ihn, we­nigs­tens Heß­ling, denn er blick­te sich mehr­mals um und ward un­ru­hig, wenn ein Leucht­kä­fer ihn an­glüh­te. »Er hat Furcht vor mir,« sah Bal­rich und freu­te sich. Er fühl­te: Wer schon zum Ster­ben be­reit ge­we­sen war, der hat­te und konn­te viel mehr als die­se rei­chen Schä­cher.1 Er hat­te ein dop­pel­tes Le­ben, und mit de­nen da konn­te er Schind­lu­der trei­ben. Bal­rich im Ge­büsch tat einen Sprung, dass es knack­te, und stieß dazu einen Laut aus wie ein Fan­ta­sie­un­ge­heu­er, – wor­auf Heß­ling sich hin­ter einen Baum duck­te. Buck blieb nur ste­hen und knips­te mit den Fin­gern.

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Žanrid ja sildid
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241 lk 2 illustratsiooni
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9783962818272
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